Nach verschiedenen Umfragen in den letzten Jahren sind zwei Drittel der Deutschen „mittelmäßig", „ziemlich" oder „sehr" davon überzeugt, dass es ein göttliches Wesen gibt. Ungefähr ein Viertel gab bei einer 2006 durchgeführten Umfrage im Auftrag der „Apotheken Umschau" an, regelmäßig zu beten, darunter fast jede dritte Frau (31,9 Prozent), aber nur jeder fünfte Mann (21,3 Prozent). Das ist wenig oder viel - je nach der Perspektive, aus der man die Zahlen betrachtet. Zu fragen ist auch, was die Befragten unter „Gebet" verstanden haben: Tischgebet, tägliche Gebete, bestimmte Gebetsformeln (Vaterunser), Gebet im Sonntagsgottesdienst, Stoßgebet, Meditationen.
Angenommen, es handelt sich bei den Befragten um (noch) „praktizierende" Christen, dann signalisiert die geringe Zahl von noch Betenden, dass sie offensichtlich Schwierigkeiten mit dem Beten haben.
Probleme mit dem Bittgebet sind nicht neu. Es gibt drei Hauptargumente, die immer wieder gegen das Bittgebet angeführt werden: Wenn Gott in das Weltgeschehen eingreift, würde er, um die Bitten der Menschen zu erhören und zu erfüllen, gegen die von ihm selbst geschaffenen Naturgesetze verstoßen. Das Bittgebet ist eine Flucht vor dem selbstverantworteten Handeln. Es ist eine kindliche Form des Betens, die einem mündigen Menschen nicht gut ansteht.
Problemfeld Bitten
Es ließe sich noch ein Argument aus der Erfahrung des Glaubenslebens anfügen: Viele Christen sind zutiefst erschüttert und irritiert worden, weil sie an einen „lieben Gott" glaubten, den man im Gebet um etwas bitten kann und der diese Gebete sicher erhören wird. Dennoch wird noch immer in den christlichen Kirchen das Vaterunser gebetet: „…unser tägliches Brot gib uns heute, vergib uns unsere Schuld …". Im Sonntagsgottesdienst werden regelmäßig Fürbitten gesprochen. Auch die Evangelisten erzählen davon, dass Jesus selbst am Ölberg im Angesicht des Todes gebetet habe: „Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber!" Aber er habe einen wichtigen Zusatz gemacht: „Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst" (Mt 26,39).
Zahlreiche Theologen vertreten heute die Ansicht, das Bittgebet helfe dazu, sich selber über seine tiefsten Ängste und Befürchtungen, über seine Wünsche und Hoffnungen Klarheit zu verschaffen. Es ist ein Er-innern seiner selbst. Das Gebet und insbesondere das Bittgebet erhält die Funktion eines therapeutischen Sprechens und Meditierens.
Schon Augustinus (4./5. Jh.) hat das ähnlich gesehen: „Uns sind Worte notwendig, damit wir durch sie uns selbst ermahnen und auf den Gegenstand des Gebetes achten, nicht aber als ob wir glauben, wir müssten den Herrn durch sie belehren oder erweichen." Das Gebet und insbesondere das Bittgebet erhält die „Funktion" eines therapeutischen Sprechens und Meditierens, ja eines heilenden „Selbstgesprächs" - unter dem Horizont Gottes. So gesehen übt das Bittgebet eine „selbsttransformative Wirkung auf den Betenden" aus, sagt der Theologe Simon Peng-Keller.
Das gilt analog auch für das Fürbittgebet einer ganzen Gemeinde: Sie versteht sich als Glied eines weit verzweigten Beziehungsgefüges und bezeugt ihre Solidarität mit jenen, für die sie bittend und betend eintritt. Gleichzeitig erinnert sie sich auch an das, was ihr selbst zu tun aufgegeben ist.
Eine Unterbrechung
Das Gebet wird aus der Achtsamkeit geboren, aus der aufmerksamen Beobachtung der Natur und ihrer Merk- und Denkwürdigkeiten, aus der Betrachtung von Menschen und Ereignissen, aus der Wahrnehmung von besonderen Situationen und Gegebenheiten. Ich muss lernen, die Dinge zu durchschauen, ihren letzten und eigentlichen Hintergrund aufzuspüren, sie zu hinterfragen. Es kann passieren, dass ich etwas Überraschendes erfahre, das mich stutzig und betroffen macht. Von dem ich fühle, dass es mich angeht. Dass es mein alltägliches Wahrnehmen und Hinschauen unterbricht. Gebet ist eine Unterbrechung, so sieht es der Theologe Johann Baptist Metz. Es ist „ein Ort des Widerstands, weil es ein Wagnis bedeutet, aus den scheinbar unhinterfragbaren Plausibilitäten der uns umgebenden Welt herauszutreten".
Gebet bedeutet eine Preisgabe, ein Loslassen seiner selbst. Eine Veränderung des Blickwinkels, eine Vertiefung der Sichtweise, ein ungewohntes und ungewöhnliches Über-das-Alltägliche-Hinausgehen. Im Beten darf ungeschützt ins Bewusstsein treten, was das Herz erfüllt oder bedrängt. Gebet ist eine Preisgabe, ein Loslassen seiner selbst. Im Gebet darf das Verborgene zu Wort kommen. So gesehen ist Beten etwas, was dem herkömmlichen Verständnis von Gebet kaum entspricht. Und so gesehen würden vielleicht viel mehr Menschen von sich bekennen, dass sie beten.
Viele tun sich schwer mit der direkten Anrede im Gebet, mit dem „Du" zu Gott. „Du", so die vielfache Meinung, könne man doch nur zu einem wirklich erfahrbaren, sichtbaren Gegenüber sagen, das vertraut ist, das man kennt und schätzt. Aber wenn Gott im privaten Gebet oder in der Liturgie der Gemeinde mit „Du" angeredet wird, so fühlt der Betende sich immer wie einer, der gegen eine Wand spricht. Wie einer, der ins Leere, ins Nichts hinein ruft. Kein Echo, keine Antwort, keine Gegenrede. Nur Schweigen.
Aber muss der Betende eigentlich immer eine Anrede formulieren? Muss es überhaupt eine (geformte, laut oder leise gesprochene) „Rede" sein? Es gibt schließlich viele Formen, miteinander ins Gespräch zu kommen und Kontakt aufzunehmen - ein Blick, eine Geste oder einfach nur das stille Miteinander. Menschen, die sich lieben, brauchen sich nicht fortwährend anzusprechen. Das gemeinsame Schweigen zweier Menschen muss nicht Zeichen der Trennung und des abgebrochenen Dialogs sein. Es kann auch als Zeichen inniger und tiefer Verbundenheit verstanden werden. Warum sollte mich nicht auch das Schweigen, die wortlose Rede, der „vielsagende" (Auf-)Blick mit Gott verbinden?
Die Psalmen sprechen nicht selten von Gott in der dritten Person. Zwar schreit der Dichter des Psalms 22 seine Verzweiflung in direkter und unmittelbarer Anrede heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Anders aber der Beter des Psalms 23. Er führt scheinbar ein Selbstgespräch oder redet zu anderen: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir mangeln. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen" (23,1-3). Und doch wird niemand sagen wollen, nur im Psalm 22 handle es sich um ein „richtiges" Gebet, nur der Beter des Psalms 22 sei sich der Gegenwart Gottes bewusst, weil er Gott direkt mit „Du" anredet.
Es kommt letztlich nicht auf die Form an, sondern auf den Inhalt. Ob der Beter Gott direkt anspricht und dafür die Rede in der zweiten Person wählt oder ob er sich - sozusagen unter seinen Augen - Rechenschaft über seine Gegenwart gibt, sich daran erinnert und darum die dritte Person wählt, ist unwichtig. Entscheidend ist, dass man sich seiner Gegenwart bewusst ist, dass Gott in das Denken und Reden eingebunden ist, dass man in der Erfahrung seiner Nähe lebt. Wer dieses „Leben in der Gegenwart Gottes" besser - und für sich selbst leichter nachvollziehbar - indirekt zum Ausdruck bringen möchte, sollte sich nicht mit der direkten Anrede quälen.
Die „Person" Gott
Wesentlich ist dem Gebet, dass es vor dem Antlitz des nicht „fassbaren", schweigenden Gottes geschieht, den Christen als Person bekennen. Und da tauchen für viele (noch) gläubige (Christen-)Menschen erhebliche Probleme auf. Die Antworten in den oben erwähnten Umfragen im Hinblick auf einen als Person verstandenen Gott sind sehr uneinheitlich. Gerade einmal 37 Prozent stimmen der Aussage zu, Gott sei als Person zu sehen, 41 Prozent halten das für unwahrscheinlich, und jeder Fünfte hat dazu keine klare Meinung.
Menschen, die von Gott reden und sich zu ihm bekennen, bevorzugen heute gern nichtpersonale Gottesbilder. Schon die Bibel verwendet häufig Umschreibungen, die sie der Natur entnimmt: Gott als Quelle des Lebens, lebendiges Wasser, erfrischender Schatten, starker Fels, (Wander-)Stab, Brot in der Wüste, Ziel des Lebens, Morgenstern in dunkler Nacht, strahlende Sonne, schützende Wolke, helles Licht, rettendes Ufer, Lebenshauch, Adlers Flügel, Liebe, Hilfe, Berg, Heil. Diese nicht-personalen Metaphern besitzen den Vorteil, dass sie die heute vielfach als anstößig empfundenen Gottesbilder - Männlichkeit, Herrschertum, Allmacht, Richter, Strafender - vermeiden. Sie können das unauslotbare Geheimnis des Göttlichen besser umschreiben. Sie lassen sich als Deutungsvorschläge für Erfahrungen mit dem Realen, dem Transzendenten, dem Absoluten, dem Unbedingten verstehen.
Diese indirekte Weise des Betens entspricht eher der heutigen Praxis des Glaubens und moderner Erfahrung des Göttlichen. Auch moderne, nicht kirchlich orientierte Menschen beten nämlich. Allerdings nicht zum transzendenten, personalen Gott der christlich-monotheistischen Tradition. Der moderne Mensch fühlt sich oftmals eher einer „absoluten Wirklichkeit", einer „universalen Kraft des Alls", einem „Unsagbaren und Unaussprechlichen", einem „letzten und tiefsten Geheimnis" verbunden als einer Gott-Person.
Person, Antlitz, Maske
Freilich muss Gott irgendwie Person sein, insofern er als der All-Umfassende alles einbeschließen und in sich umgreifen muss, was in der Welt möglich ist. Dazu gehört auch das Person-Sein - was immer man darunter versteht. Gott ist Person, insofern er als ein zugewendetes „Antlitz" erfahrbar ist. Im Griechischen steht anstelle des lateinischen persona manchmal das Wort prósopon, „Angesicht", „Maske". Daneben findet sich auch das Wort hypóstasis. Das Substantiv hypóstasis ist vom Verb hypístemi (auch: hyphístemi) abgeleitet, „darunter stehen", „vorhanden sein" oder „bestehen". In der griechischen Philosophie bezeichnet es eine eigenständige Existenzform, die von anderen Existenzformen abgegrenzt werden soll. Das lateinische persona ist abgeleitet vom etruskischen phersu, „Maske". Beide Bedeutungen treffen sich darin, dass sie ein Etwas bezeichnen, das mehr oder minder verborgen hinter einem anderen Etwas steht.
Beim Telefonieren mit einem unbekannten Menschen spricht aus dem Hörer eine unsichtbare Person, von der sich allein aufgrund der Stimme ein bestimmtes Bild machen lässt. Wahrscheinlich sieht die Person in Wirklichkeit aber ganz anders aus. Wir kennen die Redewendung „Lasst Blumen sprechen". Wir meinen damit, dass wir jemandem „durch die Blume" etwas mitteilen können. Wenn ein Mann einer Frau rote Rosen schenkt, dann kann sie daraus entnehmen, dass er ihr in besonderer Weise zugetan ist.
Wenn das Personsein Gottes als etwas verstanden wird, das die Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen anspricht, dann kann jeder Beter vielleicht Stationen in seinem Leben benennen, in denen er diese Zuwendung erfahren durfte - dankbar, verwundert und meist erst im Nachhinein erkennend, dass hier jemand dahintersteckte: dass es möglicherweise eine verborgene Fügung oder eine Führung war. Man erkennt Situationen, die einen mit der Frage konfrontieren, ob sich dahinter nicht etwas ganz anderes verbirgt. Ob durch das vordergründig Wahrgenommene nicht noch ein nur ahnbares Eigentliches, ein geheimnisvolles Letztes und Tiefstes aufscheint. Wenn Gott „alles in allem" ist (1 Kor 15,28), wenn wir „in ihm leben, uns bewegen und sind" (Apg 17,28), dann ist er anwesend „in allen Dingen" - den belebten und den unbelebten. „Er schläft im Stein, er träumt in den Blumen, er erwacht in den Tieren, er weiß, dass er erwacht ist, in den Menschen." So lautet ein asiatisches Sprichwort.
„Beten ist viel mehr als Suchen. Beten ist Warten. Suchen ist immer noch Aktion und Ungeduld. Warten hingegen ist Aufmerksamkeit." So hat der holländische Theologe und Dichter Huub Oosterhuis seine Vorstellung vom Beten umschrieben. Gebet ist ein Echolot menschlichen Lebens. Ein Echo, das zuerst einmal gehört werden muss. Dazu braucht es Stille und Ruhe. Wer beten will, muss zur Ruhe kommen. „Die Stille ernährt, der Lärm verbraucht", sagte der Dichter Reinhold Schneider. Stille und Ruhe bilden die Grundlage jeder religiösen Erfahrung. Karl Rahner sieht in der Stille eine Brücke zwischen Ich-Werdung und Gotteserfahrung: „Halte dich aus! Du wirst erfahren, wie alles, was sich bei solcher Stille meldet, wie umfasst ist von einer namenlosen Ferne, wie durchweht ist von etwas, was wie Leere scheint… Es ist wie eine Stille, deren Schweigen schreit."
Was sich da aus der Stille meldet, kann Staunen und Verwundern auslösen. Denn man wird mit etwas konfrontiert, das aus dem Rahmen des Gewohnten und Bekannten herausfällt. Staunen und Verwundern können den vertrauten Boden unter den Füßen wegziehen. Plötzlich spürt man etwas von den Hintergründen, von den Abgründen der Dinge. Das ist das Erschreckende am Staunen. Aber es zeigt auch die Faszination, die das Staunen haben kann. Der Staunende erahnt einen tragenden Grund. Er spürt einen letzten Grund für alles, was ist. Staunen mündet in ehrfürchtig-bewunderndes Schweigen. Wo das Beten eines Menschen nichts mehr weiß von diesem Schweigen vor Gott, wird es zum Geschwätz, zum leeren Wortgeklingel.
Geistesgegenwärtig
Das im Schweigen und aus dem Schweigen vernommene Wort darf und soll eine konkrete, erkennbare Antwort finden. Es ruft auf zu verantwortlichem Handeln. Denn aus der Stille kommt die Kraft, aus dem Schweigen erwächst die Tat. Alles Tun, alles Engagement sollte rückgekoppelt sein an das betende Bedenken, an die stille Besinnung, an die prüfende und abwägende Meditation. Gebet und Handeln sollten in einer ständigen Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig bedingen. Beten ist unabdingbare Grundlage und Voraussetzung christlich-verantworteten Handelns; aber Handeln ist auch unerlässliche Äußerung und Konkretion christlich-aufgeschlossenen Betens. Ora et labora. Aber auch umgekehrt: Labora et ora!
Christlicher Glaube ist ohne Gebet nicht denkbar. Das Gebet hilft entscheidend dazu, geistesgegenwärtig, also im Bewusstsein der Gegenwart des Geistes Gottes zu leben und den Glauben ernst zu nehmen. „Christliches Leben geschieht nicht aus eigener Anstrengung, sondern ist verdanktes Dasein, Mittun bei dem, was Gott tut", sagte einmal der Pastoraltheologe Adolf Exeler.