Hat Jesus Christus durch seinen Tod am Kreuz alle Menschen zum ewigen Heil erlöst - oder doch nur einige, viele, jene, die an ihn glauben und die gemäß seinen Worten ihm zum Gedächtnis das Abendmahl feiern? Über die Frage, wie die sogenannten Wandlungsworte der Eucharistie zu übersetzen sind, wie insbesondere das Wort über den Kelch zu formulieren sei, war bereits 2007 ein theologischer Streit entbrannt. Den Anlass gab ein Schreiben aus der vatikanischen Gottesdienstkongregation. Es verlangte eine Änderung der deutschen Aussage gemäß dem wörtlichen Verständnis der griechischen beziehungsweise lateinischen Textüberlieferung in den Evangelien (vgl. die Beiträge ab CIG Nr. 3/2007, nachzulesen auf dieser Website in der Rubrik „Archiv", „Besondere Themen", „Eucharistie, Abendmahl").
In der bisher gültigen offiziellen deutschen Fassung des eucharistischen Hochgebets heißt es: „mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden". Das soll geändert werden. In einem Brief an die deutschen Bischöfe verlangt Papst Benedikt XVI. statt des „für alle" die direkte, einfache Übertragung „für viele".
In dem vierseitigen Text geht das oberste Lehramt der katholischen Kirche auf die bibelwissenschaftlichen und theologischen Erwägungen sowie auf die sprachwissenschaftlichen Probleme ein, insbesondere darauf, dass und wie verschiedene Texte des Neuen Testaments den universalen Heilsanspruch des Christusgeschehens uneinheitlich ausdrücken. Das „für alle" sieht Papst Benedikt als eine berechtigte Deutung an. Jesus Christus ist tatsächlich für alle gestorben und für alle auferweckt worden. Mit dem Völkerapostel Paulus besteht daran überhaupt kein Zweifel. Dennoch richtet sich das Heilswort Jesu gemäß der Deutung des Papstes und seiner Berater nicht an eine abstrakte Allgemeinheit, sondern an eine konkrete geschichtliche Gemeinschaft, an die Jünger, an die christliche Versammlung, die im eucharistischen Geschehen, das Christus vergegenwärtigt, das österliche Geheimnis des Glaubens feiert. Daraus ergibt sich eine Spannung zwischen Zukunftshoffnung und historischer Faktizität, die nach Ansicht von Benedikt XVI. nicht aufzulösen ist, die er aber dialektisch, also wechselseitig aufeinander bezogen, verstanden wissen will. Er wünscht, dass die sogenannten Einsetzungsworte, wie sie bei Matthäus und Markus literarisch überliefert sind, wortgetreu übersetzt werden, „aus Respekt vor dem Wort Jesu, um ihm auch bis ins Wort hinein treu zu bleiben". Benedikt XVI. meint, dass die Formulierungen wortwörtlich auf Jesus selber zurückgehen und nicht einfach eine literarische Stilisierung sind. Die Ehrfurcht vor Jesu authentischem Wort selbst sei „der Grund für die Formulierung des Hochgebets". Nach päpstlichem Verständnis hat „Jesus selbst es so gesagt", weil er sich als der Gottesknecht aus dem Buch Jesaja zu erkennen geben wollte, als jene Gestalt, auf die das Volk Israel gemäß der Auffassung des Propheten wartete.
Der Papst räumt ein, dass die Änderung der Übersetzung Irritationen im Gottesvolk hervorrufen und Zweifel am universalen Heilswillen Gottes wecken könnte. Um dem entgegenzuwirken, verlangt Benedikt XVI. von den Bischöfen eine intensive Katechese zur Vorbereitung. Bevor die Neuübersetzung in Kraft tritt, soll das Kirchenvolk über den Wandel aufgeklärt werden. Der entscheidende Grund liege darin, dass zwischen der Übersetzung und der deutenden Auslegung unterschieden werden müsse. Dann folgen Sätze, die hin- und herschwimmend bereits im gestelzten Stil die potenzierte Unschärfe und Verlegenheit erkennen lassen. „Einerseits muss das heilige Wort möglichst als es selbst erscheinen, auch mit seiner Fremdheit und den Fragen, die es in sich trägt; andererseits ist der Kirche der Auftrag der Auslegung gegeben, damit - in Grenzen unseres jeweiligen Verstehens - die Botschaft zu uns kommt, die der Herr uns zugedacht hat. Auch die einfühlsamste Übersetzung kann die Auslegung nicht ersetzen: Es gehört zur Struktur der Offenbarung, dass das Gotteswort in der Auslegungsgemeinschaft der Kirche gelesen wird, dass Treue und Vergegenwärtigung sich miteinander verbinden. Das Wort muss als es selbst, in seiner eigenen vielleicht uns fremden Gestalt da sein; die Auslegung muss an der Treue zum Wort selbst gemessen werden, aber zugleich es dem heutigen Hörer zugänglich machen."
Der Papst erwähnt die Bedenken, die seine Anordnung einer weltweit einheitlichen Übersetzung auslösen könnte: dass dies als Rückfall, als „Reaktion" betrachtet wird, „die das Erbe des Konzils zerstören will". Der Papst stellt hier allerdings nur rhetorische Fragen, um festzuhalten, dass die Verschmelzung von Übersetzung und Auslegung, wie sie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil üblich war, um der Sprach- und Denkwelt des heutigen Menschen nahezukommen, nur noch „bis zu einem gewissen Grad" in liturgischen Grundtexten „weiterhin berechtigt" sei. Die Änderung der Einsetzungsworte ist offenbar wesentlich auch durch subjektive Einschätzungen motiviert: „So ist mir im Lauf der Jahre immer mehr auch persönlich deutlich geworden, dass das Prinzip der nicht wörtlichen, sondern strukturellen Entsprechung als Übersetzungsleitlinie seine Grenzen hat."
Man mag das Übersetzungsproblem, wie es der Papst in seinem Sinne entschieden hat, als eine bloß „sprachliche" Neujustierung minder gewichtig beurteilen. Das aber wäre ein Trugschluss. Denn Sprache ist Denken. Anhand der Einsetzungsworte öffnet sich in Wirklichkeit ein riesiges erkenntnismäßiges Problemfeld: Warum und wie kann das historisch zufällige Christusereignis, das erst nach fast 100 000 Jahren Homo-sapiens-Evolution ergangen ist, einen universalen Absolutheits- und Wahrheitsanspruch erheben, obwohl es doch viele andere Religionen vorher gab und seitdem gibt? Und inwieweit ist das Christentum entgegen seinen Universalitätsbehauptungen und allen Beteuerungen zum Trotz faktisch doch ein Stück weit „stammesgeschichtlichen" Exlusivvorstellungen von „Auserwähltsein" verhaftet geblieben?
Der Übersetzungsbeschluss des Papstes trägt bei nachdenklich-kritischen Geistern gerade nicht zur Beruhigung bei, sondern macht umso mehr Plausibilitätsbrüche sichtbar. Der aktuelle Beschluss weckt womöglich unter Menschen guten Willens erst recht Zweifel an der intellektuellen Redlichkeit der christlichen Erlösungsvorstellung. Wie universal ist die „Universalreligion" Christentum tatsächlich, und wie universal kann sie überhaupt sein, wie partikular bleibt sie in Wirklichkeit? Zwei Milliarden Getaufte - und fünf Milliarden Nichtchristen bevölkern den Erdball 2012. Zu den Lebenden kommen die Gestorbenen, lange vor Christus. Wie viele sind alle?