Martin Walsers "Rechtfertigung, eine Versuchung"Rechthabenmüssen

Zu Martin Walsers Essay "Rechtfertigung, eine Versuchung" - eine Erwiderung des Wiener Theologen Jan-Heiner Tück.

Martin Walser hat einen Phantomschmerz artikuliert, den viele kennen, aber nur wenige aussprechen: Es fehlt etwas, wenn die Rede von Gott wegbricht oder gesellschaftlich tabuisiert wird. Walser hat in seinem Werk immer wieder über Glaubensnöte geschrieben. Aber in seinem Essay „Rechtfertigung, eine Versuchung“ bekennt er offen, dass er nicht glauben kann. Er würde gern, aber er kann nicht. Das ist sein Schmerz, den er nicht verheimlichen will. Das ist seine Ohnmacht, die er machtvoll ins Wort bringt. Salon-Atheisten, die mit überlegenem Lächeln den Gottesglauben für überholt erklären, hält er entgegen: „Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung. Einer Ahnung allerdings bedarf es.“

In seinem Roman „Muttersohn“ heißt es, „dass unsere Ahnungen klüger sind als das, was wir bloß wissen“. Diesen Ahnungen geht Walser in seinem Essay nach und wirft die alte Frage nach der Rechtfertigung des Menschen neu auf. Dabei greift er auf Literatur zurück. „Der Prozess“ von Franz Kafka ist eine Parabel auf die fundamen- tale Rechtfertigungsbedürftigkeit des Menschen. Josef K. wird eines Tages verurteilt, ohne etwas getan zu haben. Jedenfalls ist ihm keine Tat bewusst. Er sucht Rechtfertigung, um im Prozess bestehen und von den Richtern freigesprochen werden zu können. Aber je länger er sucht, umso klarer wird ihm, dass seine Lage aussichtslos ist. Er ist nicht zu rechtfertigen. Ähnlich der Handelsreisende Gregor Samsa in der Erzählung „Die Verwandlung“, der sich eines Morgens in seinem Bett „zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ vorfindet - das Ungeziefer, eine Metapher für die Existenz eines Parasiten, der die anderen aussaugt, ohne selbst etwas Entsprechendes geben zu können. Martin Walser bringt einen ganzen Chor solcher Selbstverneinungsstimmen - und kommentiert: „Was für ein Mangel muss erlebt worden sein, dass Jean Paul, Dostojewski, Kafka, Robert Walser zu solchen Selbstverneinungsorgien hingerissen werden.“

Wider die Salon-Atheisten

Eine Möglichkeit, seine Existenz zu rechtfertigen, ist die Arbeit. Wer arbeitet, verdient. Die Leistung, die er erbringt, lässt ihn leben, und je mehr und erfolgreicher er arbeitet, desto gerechtfertigter und anerkannter ist er. Aber was ist mit dem, der nicht mehr arbeiten kann? Hat er kein Recht auf Anerkennung? Und was mit dem, der nicht arbeiten will? Walser erinnert an eine Szene in Thomas Manns „Zauberberg“. Darin denkt Hans Castorp, der kränkelnde Protagonist, darüber nach, ob die Arbeit für ihn Rechtfertigung bringen könnte, und kommt zu dem Ergebnis, „dass Arbeit in seinem Leben einfach dem Genuss von Maria Mancini etwas im Wege war“. Statt zu arbeiten, legt er lieber Debussy-Platten auf und raucht ungestört seine Mancini. Ästhetik und Genuss als Betäubungsmittel gegen lästige Fragen. „Verantwortungslosigkeitsgenuss“ hat Walser dies andernorts genannt.

Eine weitere Strategie, die eigene Rechtfertigungsbedürftigkeit vergessen zu machen, ist die, andere zur Rechenschaft zu ziehen. Der Gutmensch, der empört die Ungerechtigkeit der Welt beklagt, merkt am Ende gar nicht, dass er selbst in einem Zustand lebt, der nicht so ist wie er sein sollte. Er sieht den Splitter im Auge der anderen, der „Schönen und Reichen, der Großbankiers und Konzernmogule“. Den Balken im eigenen Auge sieht er dagegen nicht. Ansonsten könnte er die Welt nicht so selbstgerecht mit moralischen Appellen gegen die „Agenten der Unmenschlichkeit“ überziehen. Walser, der nicht ohne einen Schuss Polemik den Schweizer Politiker und Globalisierungskritiker Jean Ziegler und Joachim Gauck als Beispiele anführt, mutmaßt, dass es gerade der Mangel an Rechtfertigung ist, der sie zu solchen Auftritten zwingt. Walser ist dieser Weg versperrt, obwohl er zugesteht, Ziegler und Gauck um ihr Gefühl zu beneiden, im Recht zu sein.

Aber auch Walser ist von der Neigung zur Selbstrechtfertigung keineswegs frei. Der Großschriftsteller vom Bodensee hat durch umstrittene Reden immer wieder für Aufsehen gesorgt. In den sechziger Jahren wandte er sich gegen den Vietnam-Einsatz der USA und wurde als „Kommunist“ beschimpft. In den siebziger Jahren bezeichnete er die deutsche Teilung als „Katastrophenprodukt“ und wurde als „Nationalist“ hingestellt. Er hatte mit einem Konsens der intellektuellen Linken gebrochen, welche - wie Günter Grass - in der Teilung Deutschlands die Strafe für die Verbrechen von Auschwitz sahen. Ende der neunziger Jahre kritisierte Walser „die Lippengebetsroutine offizieller Gedenktagsreden“ und wurde als Schlussstrich-Befürworter kritisiert, der mit dem Antisemitismus liebäugele. Seine Auseinandersetzung mit dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, beschäftigte wochenlang die Feuilletons. Gegen alle Vorwürfe verteidigt sich Walser unter Verweis auf seine Werke. Ein Schriftsteller sei ein Schriftsteller und hole sich seine Rechtfertigung, wenn er halbwegs bei Trost sei, nicht aus Ideologien wie dem Kommunismus, Nationalismus oder Antisemitismus.

Es muss hier nicht entschieden werden, ob Walser mit seiner Selbstverteidigung im Recht ist. Recht hat er aber, wenn er ein „Reiz-Klima des Rechthabenmüssens“ ausmacht, das unsere Debatten zunehmend bestimmt. In diesem Klima bewege sich am besten, wer erfolgreich den Eindruck vermitteln kann, der bessere Mensch zu sein. Wer diesen Eindruck von sich selbst habe, dessen Gewissen sei, so Walser, „domestiziert“, gezähmt.

Walser sieht das Verdienst der Religion darin, die abgründige Frage der Rechtfertigungsbedürftigkeit immer wachgehalten zu haben. Besonders schätzt er den Schweizer Theologen Karl Barth, dem es gelungen ist, aus dem Wettbewerb des Rechthabenmüssens auszusteigen. „Zur Ehre der Religion sei es gesagt, dass sie von Paulus über Augustinus bis zu Calvin, Luther und Karl Barth die Frage, wie ein Mensch Rechtfertigung erreiche, nie hat aussterben lassen. Seit zweitausend Jahren wird gefragt, ob wir zu rechtfertigen seien durch das, was wir tun, oder durch das, was wir glauben. Die Religion ist anspruchsvoller als jede andre Denk- und Ausdrucksbemühung.“ Karl Barth hat in seinem „Römerbrief“ im Anschluss an Paulus deutlich gemacht, dass weder Arbeit noch Leistung, aber auch nicht Verzicht oder Askese den Menschen rechtfertigen können. Durch diese Einsicht habe Barth „die Kulturkulisse zerstört, die uns vergessen macht, dass Rechtfertigung einmal unser Bedürfnis war“. Wo das Tribunal Gottes als letzte Instanz geschleift wird, treten andere an dessen Stelle. So ersetzt etwa die Talkshow die Beichte, ohne die Gnade der Vergebung anbieten zu können. „Das Interview ist die Beichte eines sich gottlos dünkenden Zeitalters. Das sage ich Ihnen! Ein Interview ist immer ein Geständnis. Meistens führt es zur Verurteilung“, schreibt Walser in seinem neuen Roman „Das dreizehnte Kapitel“. Aber wo der Raum der Vergebung fehlt, wird der gott­amputierte Mensch zum Bezichtigungskünstler. Er muss es andere gewesen sein lassen, statt zuzugeben, dass er es selbst gewesen ist.

Wie gnadenlos ist der gnädige Gott

Als Therapie gegen die verbreitete Krankheit des Rechthabenmüssens empfiehlt Walser eine Kultur der Selbstwiderlegung. Wer eine Behauptung aufstellt, solle zunächst auch öffentlich sagen, was alles gegen seine Behauptung spricht. Bleibt dann noch etwas übrig, habe er Anspruch, gehört zu werden. Man könnte hier an die scholastische Disputationstechnik erinnern. In jedem Artikel seiner theologischen Summe listet Thomas von Aquin zunächst gewissenhaft alle Einwände auf, die gegen seine Lösung sprechen. Dann setzt er mit der Schrift oder einer Autorität der Tradition einen Kontrapunkt und legt schließlich selbst eine Antwort auf die strittige Frage vor. Im Nachgang werden die eingangs genannten Einwände nicht etwa als unsinnig beiseitegeschoben, sondern Punkt für Punkt entkräftet. Die Transparenz des mittelalterlichen Disputationsverfahrens kann den Vergleich mit den Diskurspraktiken der heutigen Wissenschaft bestehen.

Dem auftrumpfenden Desinteresse an religiösen Fragen hält Walser entgegen, dass die Texte der Religion große Literatur sind. Er nennt die Psalmen, das Buch Hiob, das Weihnachtsevangelium. Man könnte die Gleichnisse der Evangelien, das Hohe Lied der Liebe bei Paulus und die Visionen der Johannes-Apokalypse ergänzen. Schon der niederländische Schriftsteller Cees Noteboom gab vor einiger Zeit zu bedenken, die nachrückende Generation laufe Gefahr, zu „Japanern der eigenen Kultur“ zu werden, wenn sie die Sinnangebote der jüdisch-christlichen Tradition gelangweilt ausschlage. Es fehlt etwas, wenn einer durch Museen geht und die Bildprogramme der Alten Meister nicht mehr versteht, weil er die Bibel nicht kennt. Es fehlt etwas, wenn einer die Klassiker der Literatur liest, aber blind für die Anspielungen und Verfremdungen biblischer Motive ist. Walser mutmaßt, dass mit dem Abschied von der Religion auch existenziell etwas verloren geht: „Wer sich heute fast instinktiv erhaben fühlt über alles Religiöse, weiß vielleicht nicht, was er verloren hat. Polemisch gesagt: Rechtfertigung ohne Religion wird zur Rechthaberei. Sachlich gesagt: verarmt zum Rechthaben.“

Aber auch die andere Frage, ob Gott sich rechtfertigen kann, überspielt Walser nicht. In einem langen Exkurs fragt er, ob Gott gerecht ist, wenn er die einen erwählt, die anderen aber nicht. Schon im Buch Genesis ist von einem Zwillingspaar die Rede, das von Gott ungleich behandelt wird: Esau, der Ältere, muss Jakob, dem Jüngeren dienen, weil Gott es so will und auf Jakob-Israel die Verheißung liegt (25,23). Paulus greift im Römerbrief darauf zurück, um das Erwählungshandeln Gottes zu illustrieren. Ist Gott etwa ungerecht, wenn er den einen erwählt, den anderen aber verstockt? Das sei ferne. Den Empörungswilligen hält Paulus entgegen: „Wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Ist nicht der Töpfer Herr über den Ton?“ (9,20f)

Augustinus radikalisiert Paulus, wenn er sagt, dass die Erwählung allein durch Gnade stattfindet. Gnade wäre nicht Gnade, wenn sie aufgrund von Leistungen gewährt würde. Und Gnade wäre nicht göttliche Gnade, wenn sie nur durch Einstimmung des Menschen ans Ziel käme. Und an der Verdammnis der einen zeigt Gott den anderen, welche Strafe er ihnen gnädig erlässt. Es wundert nicht, dass der Philosoph Kurt Flasch hier von einer „Logik des Schreckens“ gesprochen hat. Walser hingegen kann dieser gnadenlosen Theologie der Gnade einiges abgewinnen. Er bekennt unumwunden, ein Bewunderer des heiligen Augustinus zu sein.

Naht der Unnahbare?

Die überraschende Würdigung der Erwählungslehre hängt damit zusammen, dass Walser die Schriften von Paulus und Augustin nicht als Theologie, sondern als Literatur liest: „Was müssen diese Autoren erfahren haben, dass sie Gott so groß und den Menschen so klein erlebt und dargestellt haben?“ Die religiösen Schriftsteller zeigen den Menschen so klein, weil er in Wirklichkeit so rechtlos war. Dies entspreche der Härte der damaligen Wirklichkeit.

Walser will darin ein spannendes Romanprogramm sehen, in das wir als handelnde Figuren eingelassen sind, ohne zu wissen, wozu wir am Ende bestimmt sind. Im Genfer Reformator Johannes Calvin glaubt Walser eine interessante Fortsetzung des Augustinus-Romans zu erkennen: „Gott ist nicht um der Menschen willen da, sondern die Menschen sind um Gottes willen da. Und ein Teil der Menschen wird selig, der Rest aber verdammt.“ Calvin, der sich selbst seines Gnadenstandes absolut sicher war, meinte in den ungetauften Indios der neu entdeckten Welt „Gefäße des Zornes Gottes“ erblicken zu müssen. Das steht bei Walser nicht.

Mit der Lehre von der doppelten Prädestination - Erwählung der einen, Verwerfung der anderen - bricht für die Akteure des Romanprogramms die Frage auf: Gehöre ich zu den Erwählten - oder nicht? Die theologische Frage nach dem Geschick im Jenseits hat enorme Folgen für die Weltgestaltung im Diesseits. Dem Soziologen Max Weber zufolge hat die Erwählungslehre Calvins die Wirtschaft beflügelt und den Kapitalismus angekurbelt. Man muss den anderen (und sich selbst) beweisen, dass man zu den Auserwählten zählt. Rastlose Berufs­arbeit wird zur Ersatzreligion, Wohlstand zum sichtbaren Zeichen der Erwählung. Ob die These von der Geburt des Kapitalismus aus dem Geist des Calvinismus sozialgeschichtlich haltbar ist oder nicht, muss hier nicht diskutiert werden. Interessant ist aber, dass die Theologie der absoluten Gnadenwahl Gottes erneut eine menschlich allzu menschliche Leistungsethik freisetzt. Der Glaube an die Rechtfertigung des Sünders durch Gott, Luthers Programm, wandelt sich unter der Hand in angestrengte Versuche der Selbstrechtfertigung, die, wie Walser vermerkt, in den Bildungsromanen des 18. Jahrhunderts bei Goethe und Jean Paul durchgespielt werden. Am Ende geht es um Selbsterlösung durch Bildung, Leistung und Arbeit.

An der liberalen Theologie, die das Christentum der aufgeklärten Kultur angeglichen und das bürgerliche Leistungsethos religiös geadelt hat, lässt Walser kein gutes Haar. Er zitiert seinen Gewährsmann Karl Barth, der nach dem Ersten Weltkrieg in seinem „Römerbrief“ scharf dagegen protestiert hat: „Der Mensch Gott gegenüber, wie sollte er etwas anderes sein als der Angeklagte?“ Walser notiert, dass dieser Satz zwischen Kafkas „Prozess“ und Kafkas „Schloss“ geschrieben wurde. „Fehlt deinem Leben die Rechtfertigung, die nur Gott selbst ihm geben kann, dann fehlt ihm jede Rechtfertigung.“ Karl Barth lässt Selbstrechtfertigung durch Kulturleistungen nicht gelten und hält so den Mangel des Menschen wach. Zugleich betont er die radikale Geheimnishaftigkeit und Unbegreiflichkeit Gottes. Sprachgewaltig beschwört Barth die Unzulänglichkeit der Sprache, Gott zum Ausdruck zu bringen. Seine dialektische Theologie lässt die Gottesrede in der Schwebe von Ja und Nein. Walser schließt sich an und betont ebenfalls die ­radikale Entzogenheit Gottes. Dazu zitiert er - auch in „Muttersohn“ - wiederholt ­Augustins Satz: „Si comprehendis, non est Deus“ - „Wenn du begreifst, ist es nicht Gott.“ Aber was, wenn der Unbegreifliche sich selbst begreifbar machen wollte, wie schon Papst Leo wenige Jahre nach Augustinus schrieb: „incomprehensibilis voluit comprehendi“? Was, wenn der Unnahbare den Menschen nahekommen wollte?

Götze oder schwarzes Loch?

Von diesen Fragen her möchte ich bei aller Sympathie für Walsers Selbsterkundungsgänge drei Anmerkungen riskieren.

Die erste betrifft Karl Barth: Walser feiert den frühen Barth des „Römerbriefs“, den reifen Barth der „Kirchlichen Dogmatik“ spart er aus. Warum? Barth ist nicht bei der dialektischen Theologie stehen geblieben, er hat die Rede über Gott nicht dauerhaft „jenseits von Ja und Nein“ gehalten. Später hat er zu bedenken versucht, was es heißt, dass Gott in Jesus Christus ein für alle Mal sein Ja zu den Menschen gesprochen hat. Der Ewige ist in der Zeit erschienen, der Unbewegliche hat sich bewegen lassen, der Apathische hat sich von Sünde und Leid der Menschen treffen lassen. Wird diese „Menschlichkeit Gottes“ nicht verraten, wenn die Unbestimmbarkeit zur letzten Bestimmung gemacht wird?

Ein Zweites: Walser ist fasziniert von den Theologen, die die Menschheit in Verdammte und Erwählte scheidet. Der Mensch ist nichts, Gott ist alles. Er erwählt, wen er will, er verdammt, wen er will. Das dunkle Geheimnis der Erwählung mag, als Literatur betrachtet, ein spannendes Romanprogramm sein, theologisch befriedigend ist es jedoch nicht. Karl Barth hat es mit guten Gründen abgelehnt und in der „Kirchlichen Dogmatik“ die steile Erwählungslehre Calvins für alle geöffnet. Die Grundlage für diese Korrektur ist die Kenosis, die Selbstentäußerung Jesu Christi, der auf Golgota - verkürzt gesagt - als der Erwählte verworfen wurde, damit die Verworfenen erwählt werden. Alle! In dieser Universalität liegt die Pointe der Barth­’schen Erwählungslehre. Man könnte einwenden, dass hier nur das Vorzeichen geändert wird: Gott ist nicht mehr der, der erwählt und verdammt, wen er will, sondern der, der alle rettet. Keiner kann sich dem Akt der göttlichen Wahl widersetzen, ansonsten könnte ja die Gottheit Gottes am Einspruch des Menschen Schiffbruch erleiden. In der Tat kann man fragen, ob Barth die Rolle der menschlichen Freiheit nicht zu gering veranschlagt hat. Die Allerlösung, auf die Barths Theologie zuläuft, wäre, literarisch betrachtet, sicher weniger spannend, es sei denn, man versteht das Gericht als dramatischen Austragungsort der offengebliebenen Fragen. Gott befragt die Menschen - und die Menschen befragen Gott. In jedem Fall ist die heilsuniversalistische Weitung eine theologische Errungenschaft, die Augustinus und Calvin hinter sich lässt und auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil aufgenommen wurde.

Ein Drittes zum Lob der negativen Theologie, das Walser jüngst in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (vgl. CIG Nr. 37, S. 410) angestimmt hat: Selbstverständlich kann Gott zum Begriffsgötzen gemacht werden. Die Unverfügbarkeit Gottes vor Vereinnahmungen zu schützen, ist wichtig. Aber wird dieses Anliegen nicht unterlaufen, wenn die Bestimmung Gottes als „des ganz Anderen“ zum antidogmatischen Dogma gerinnt? Gerade die Unbestimmtheit ist ja erneut anfällig für ideologische Vereinnahmungen. Wenn der Gottesbegriff gewissermaßen zu einem „schwarzen Loch“ wird, in dem alle Bedeutungsgehalte verschwinden, bleibt seine unterscheidende Kraft auf der Strecke. „Nah ist und schwer zu fassen der Gott“, zitiert Walser aus der Patmos-Hymne Hölderlins. Doch schwer zu fassen ist der nahe Gott aus christlicher Sicht nicht wegen seiner Transzendenz, sondern wegen der konkreten Gestalt seiner Nähe. Vom wehrlosen Kind in der Krippe bis hin zur gewaltigen Gewaltlosigkeit des Gekreuzigten ereignet sich Gottesgeschichte. Die will erzählt werden, die will bedacht sein. Nicht im Beschwören der Transzendenz, sondern in einprägsamen Worten, in klaren Begriffen.

Der Schriftsteller Martin Walser hat die Frage nach der Rechtfertigung aus dem Getto des kirchlichen Binnendiskurses herausgeholt und in die breite Öffentlichkeit hineingetragen. Er hat denen, die glauben wollen, aber nicht glauben können, eine Sprache, eine ehrliche und suchende Sprache, gegeben - sensibler, als das Theologen und Kirchenleute gemeinhin für Glaubende vermögen, die ja auch mit Zweifeln zu ringen haben. Eine durch Erfahrungen des Glaubensverlustes hindurchgegangene und angereicherte Sprache wäre auch auf den Kanzeln und Kathedern willkommen, die allzu oft von routinierten Floskeln, wenn nicht gar von gedankenloser Gottprotzigkeit, beherrscht sind.

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