SuchbewegungenGott in der Postmoderne

Über Glaubensverdunstung und Lebenssehnsucht.

Wenn Wasser verdunstet, ändert es seinen Zustand, nicht sein Wesen. Bei der Verdunstung des Glaubens verhält es sich ähnlich: Der Glaube geht von einer Phase in eine andere über, ohne seine Identität zu verlieren. Als aufgebrachte Kirchenbürger vor dem „wegen Reinigungsarbeiten“ verschlossenen Augsburger Dom protestierten, war symbolisch spürbar, dass wir uns mitten in einer historischen Phasenverschiebung befinden: hier die geschlossene Zitadelle, das klerikale Gehäuse, das den Glauben ängstlich behütet - dort der offene Boulevard, der lebendige Marktplatz, der den Glauben mutig in die Welt trägt. „Die wohl verschlossene Flasche könnte das Wasser bewahren. Anders die offene Schale.“ Der katholische Dichter-Theologe Lothar Zenetti erkennt in der Verdunstung des Glaubens keineswegs einen Verlust. Auch wenn die Schale mit der Zeit trocken wird und das Wasser aus ihr schwindet: Die Luft ist doch feucht geworden. „Spürt ihr’s noch nicht? Glaube liegt in der Luft.“

Zenetti geht in seinem Gedicht von einer zwar gewandelten, aber doch identischen Glaubensbasis aus. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Die Botschaft vom Gott Jesu Christi wird nicht nur von immer mehr Menschen nicht geglaubt, sie ist vielen gar nicht bekannt. Die Verdunstung des Glaubens scheint viel weniger eine Chiffre für Kirchen- oder Gotteskrisen zu sein, sondern für eine fortschreitende Wissenskrise. Der „in der Luft“ liegende Glaube ist christlichen Glaubensinhalten und kirchlichen Glaubensgemeinschaften nicht immer eindeutig zuzuordnen, er scheint volatil, also veränderlich, flüchtig und diffus. Der gemeinsame Nenner besteht in der spirituellen Suchbewegung der Menschen - der Gottessehnsucht, wie sie etwa der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner diagnostiziert.

Glaube liegt in der Luft

Die Suchbewegung nach Wissen, Reflexions- und Sprachfähigkeit mag arm ausfallen. Und so wichtig es sein kann, hier mit Wissensvermittlung gegenzusteuern, so muss diese Suche in der Vielfalt ihrer Wege und Formen doch ernst genommen werden. Die Suche gehört ähnlich wie der Zweifel zum Fundament des christlichen Glaubens. Sie ist „der Anfang des Glaubens“, wie Augustinus sagt. Die Suche ist ein stummer Appell an die theologischen Diagnostiker und pastoralen Planer, sich dem Glauben neu oder anders auszusetzen, in Vorstellungen und Einordnungen, die womöglich nicht in die dogmatische Begriffstradition passen. Ein Blick in die Bibel kann hilfreich sein. Beim Propheten Jesaja, von Paulus im Römerbrief zitiert, wird mit einer sicheren Bestimmtheit gesagt: „Diejenigen werden es sehen, denen von ihm noch nichts verkündet ward, und diejenigen verstehen, die noch nichts vernommen haben“ (15,21). Paulus rechnet fest damit, dass Sehen und Verstehen sich als unverfügbares und kaum zu definierendes Geschenk von innen her öffnen, ohne dass von offizieller Seite dazu angeleitet oder katechetisch nachgeholfen werden müsste. Der Geist weht, wo er will, auch außerhalb der Kirche. In der tastenden Suche zeigt sich der verborgene und neu zu entdeckende Hinweis, die Quelle des Glaubens nicht aus dem Blick zu verlieren und die kirchlichen Verblendungszusammenhänge zugunsten eines „wissenden Nichtwissens“, wie Nikolaus von Kues (1401-1464) sagte, permanent zu dekonstruieren. Die Frage des Unglaubens richtet sich keineswegs an den „ungläubigen“ Thomas, sondern an seine Apostel-Kollegen, die sich aus Angst und Misstrauen verschlossen hatten.

Ist dem Glauben mehr als eine homöopathische Dosis überhaupt zuträglich? War es bei den „Leuten“ jemals anders? Im Evangelium ist jedenfalls auffallend häufig davon die Rede, dass zu viel des Guten leicht in sein Gegenteil kippen kann. Zu viel Salz versalzt die Suppe, zu viel Moral verdirbt den Glauben. Es reicht offensichtlich, wenn das Wenige, das vom Evangelium verstanden wurde, gelebt wird. Menschwerdung ereignet sich im Dunstkreis des Kleinen, des Unscheinbaren, des Anfanghaften, des Unvollständigen. Die Verdunstung des Glaubens führt selbst in seinen nach herkömmlichen dogmatischen Sichtweisen entfremdet scheinenden Formen keineswegs vom Glauben weg, sondern lässt ihn in seiner Abwesenheit umso stärker gegenwärtig werden.

Die gesellschaftliche Realität, in der traditionelle Einordnungen, Vorverständnisse und Vorurteile infrage gestellt werden, wird gemeinhin mit „Postmoderne“ umschrieben. Der Begriff wird ziemlich unbedacht nach wie vor in einem abwertenden Sinn für „Relativismus“, „Willkür“ und „Beliebigkeit“ gedeutet. Meistens verwenden ihn „Unglückspropheten“, die - so Papst Johannes XXIII. in seiner 1962 gehaltenen Eröffnungsrede zum Zweiten Vatikanischen Konzil - „immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstehen würde“.

Die Postmoderne akzeptiert das vertrackte Durcheinander, die Mehrdeutigkeit, die Zwiespältigkeit der Welt als Grundkonstante menschlicher Existenz. Sie hebt die Unterschiede bis zur Kenntlichkeit hervor, sie „verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable (das Nichtmessbare, Nichtvergleichbare; d. Red.) zu ertragen“, wie der französische Philosoph und Literaturtheoretiker Jean-François Lyotard (1924-1998) in seinem Klassiker „Das postmoderne Wissen“ bemerkt. Die Brüchigkeit der Welt des Menschen zu akzeptieren, hat keinen geringen Preis; sie ist mit Verlusterfahrungen und einer Melancholie von Vergeblichkeit erkauft. Die Postmoderne ist eine Weltsicht, die für die Gebrechen, die Wegwunden des Menschen öffnet.

Es kann kaum bezweifelt werden, dass eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Postmoderne für ein vertieftes Verständnis heutiger Suchbewegungen fruchtbar gemacht werden könnte. Eine solche Auseinandersetzung könnte gleichzeitig ein kritisches Korrektiv für die dunkle Seite des religiösen Budenzaubers sein. Diese religiöse Vielfalt fächert sich aus in Formen wie „reborn people“, also vermeintlich Wiedergeborene, über die „toxische Selbsterlösung“, von der der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz spricht, bis hin zu charismatischer Erweckung und fundamentalistischer Verhärtung.

Während die Moderne das lösungsorientierte Brauchen und Benutzen bevorzugte, bei dem jedes Mittel zum Zweck werden kann, öffnet die Postmoderne den Blick für ein zweckfreies und selbstvergessenes Brauchen. „Hingabe“ wird ein wesentliches Codewort der Zukunft sein, jenseits von „Wellness“, „Mindness“ (Geistes- und Seelengesundheit) und „Selfness“ (Selbstbefähigung, das eigene Leben zu gestalten).

Befreit von Angst und Zwang

In dem Video zum „Lied von den Vergessenen“ der Popband „Rosenstolz“ streift ein Junge scheinbar ziellos durch die Straßen Berlins, wird von einer Schlägertruppe verprügelt und findet trotzdem seine Leidenschaft - Breakdance. Er hält trotz aller Rückschläge an seinem Weg fest. Er muss sich nicht angestrengt selbst suchen, um sich selbst zu verwirklichen. Im Akt der selbstvergessenen Hingabe an ein Anderes findet er sein wahres Selbst. Die Postmoderne zeigt, dass die Vorstellung von einem sich und die Welt beherrschenden, disziplinierenden Subjekt keine naturgegebene Ordnung ist, sondern eine historisch bedingte Erscheinung. Das Verständnis und die Praxis eines sich absolut setzenden Subjekts verschwinden in dem Zuge, in dem sich das Selbst in seiner wechselseitigen Verbundenheit mit allem Lebendigen begreift. Eine postmoderne Kultur des Selbst ist eine Kultur der Relativität, der Verbundenheit, der Begegnung, der Vernetzung, der Überschreitung, der Transzendenz.

Der nicht selten geschmähte „Relativismus“ beinhaltet zunächst nichts anderes als „Bezogenheit“, „Verbundenheit“ von subjektiver und sozialer Wirklichkeit. Die neuen sozialen Netzwerke im Internet sind eine Facette dieser Verschränkung, Bürgergesellschaft und kooperativer Individualismus eine andere. Ist die Mentalität des nützlichkeitsorientierten Gebrauchens und Konsumierens erst einmal aufgebrochen, eröffnen sich neue Sinnspuren und verschüttete Quellen. Selbst die lange Zeit geächtete Religion, verstanden nicht als Agentin zum eigenen Nutzen und Brauchen, sondern als deren Unterbrechung und Irritation, kann sich vom Ort der Knechtung zum Ort der Befreiung entwickeln. Die Postmoderne hat dazu verholfen, die Denkmuster zu hinterfragen, in denen Gott nicht vorkommen kann, weil er als Konsumgut verbraucht, im eigenen guten Gewissen erstickt oder in einer „kommoden Religion“ verschwindet, so der Schriftsteller Georg Büchner (1813-1837). Vielleicht ist dies die größte Erschütterung, die die Postmoderne als epochales Phänomen gebracht hat. Und bei dieser Erschütterung ist der nützliche Idiot, der brauchbare Gott, unter die Räder gekommen.

Die Postmoderne ist zuallererst eine Befreiungsbewegung. Sie befreit von der Angst, nicht modern zu sein, von der lähmenden Sorge, nur nicht den Anschluss zu verlieren. Und sie befreit von dem Zwang, sich positionieren zu müssen. Nur mit mäßigem Interesse am Gestus des skeptischen Dauerzweifels, dafür mit einem zuweilen naiven Frohsinn interveniert sie - parodierend, provozierend, marodierend, montierend. Verlusterfahrung inklusive. Doch der Verlust an Gewissheit, Sicherheit, Geborgenheit wird eingetauscht gegen einen Gewinn an Möglichkeiten, ein Reservoir an Sinn. Nachdem wir das Land hinter uns abbrachen - so der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) -, will es nun neu vermessen sein. Auf unserem Erkundungsgang erschließen sich uns der labyrinthische Rätselcharakter der Welt und die Ahnung, dass der Mensch nicht ganz von dieser Welt ist. „Es gibt kein Leben, das nicht wenigstens einen Augenblick lang unsterblich wäre“, wie die polnische Lyrikerin Wislawa Szymborska sagt.

Die Wahrheit ist stets größer

Die Postmoderne erhöht die Sensibilität für das Nicht-Darstellbare und Transzendente, für einen Weltentwurf, der der Vielfalt, dem Unterschied, dem Einzelnen neue Aufmerksamkeit schenkt. „Zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen!“, ruft Lyotard, der Vater der Postmoderne, emphatisch aus. Obwohl die Postmoderne auf denselben Zeilen der Moderne schreibt, vollzieht sich subkutan, also unter der Haut, eine kaum merkliche Metamorphose, eine Umwandlung. Postmodern ist eine Erkenntnis, wenn sie die Möglichkeit der Wirklichkeit entdeckt. Sie erlaubt einen Perspektivenwechsel, öffnet für den „Garten der Pfade, die sich verzweigen“, schrieb der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899-1986). Sie entblößt die grands récits (die großen Erzählungen; d. Red.) und sensibilisiert in zuweilen paläontologischer Akribie für alternative Dimensionen der Wirklichkeit.

Wie unsere Wahrnehmung immer wieder auf Zufälle und abgetrennte Handlungsfäden stößt - auf Paradoxien, Verschiebungen, Unterbrechungen, Kreuzungen - so ist Wahrheit für die postmoderne Weltsicht keine statische Formel, sondern ein sich stets der Besitzergreifung entziehender Anspruch. Weil niemand auf die Wahrheit einen Monopolanspruch erheben kann, bleibt Wahrheit eine Kategorie jenseits menschlicher Möglichkeiten, aber mit Beziehungskomponente. Der italienische Schriftsteller und Philosoph Umberto Eco nennt dies in seinem postmodernen Schlüsselroman „Der Name der Rose“, „die Wahrheit zum Lachen bringen“, will heißen: Die Wahrheit ist stets größer als unser Begreifen - veritas semper maior. Wo Wahrheit aus ihrem festgezurrten Korsett befreit wird, scheint sie auf, wird sie das, was sie konstituiert: dem Zugriff des Menschen entzogen.

Die Postmoderne führt über die Umwege des „Todes Gottes“, so Nietzsche, und des „Verschwindens des Menschen“, nach dem französischen Philosoph Michel Foucault (1926-1984), zum fundamentum inconcussum (unerschütterliches Fundament; d. Red.) menschlicher Existenz, zur Frage nach Gott. Wurde Gott zunächst als monotheistischer Tyrann verfemt oder in einer Art Neuheidentum als den eigenen Bedürfnissen angepasster Bonsai-Gott zurechtgestutzt, so scheint er heute als unbegreifliche, nicht-darstellbare Größe gesucht zu werden, die für uns „in unzugänglichem Licht“ wohnt und nur in einer paradoxen Denkbewegung berührt werden kann. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) schrieb: „Allein, Gott wird nicht vergeblich gesucht, obwohl er nicht gefunden werden kann.“

Es kann kaum bezweifelt werden, dass im Vergleich zur Plausibilitätsstruktur des Glaubens in den sechziger Jahren die religiöse Sensibilität in Zeiten der Postmoderne zu neuem Leben erwacht ist. Der Aufstieg des säkularen Individualismus, der Niedergang traditioneller Glaubenspraxis, die beschränkte Lernfähigkeit des Klerus und nicht zuletzt die moralische Ambivalenz der Kirchen mögen an einer spirituellen Desorientierung mitgewirkt haben. Sie haben allerdings auch viele Menschen darin bestärkt, eine größere Autonomie zu wagen und neue Formen religiösen Lebens zu erproben. Menschen machen sich nicht aus bösem Willen oder Ignoranz, sondern aus Gründen der Lebens- und Werteorientierung nach Formen der Weltdeutung auf die Suche, in der ihre Erfahrungen stärkeren Widerhall finden. Auch im durchaus zwiespältigen Aufbruch des Religiösen zeigt sich die Postmoderne keineswegs religionsfeindlich oder indifferent, wie ihr Kritiker gerne unterstellen, sondern in hohem Maße religionsproduktiv. Denn Menschen regen durch ihre Fragen und ihr Verhalten dazu an, ja sie fordern geradezu dazu auf, abseits institutioneller Selbstbezogenheit „auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort (zu) geben“, wie es im Konzilsdokument über die Kirche in der Welt von heute heißt.

Angesichts der verbreiteten Ratlosigkeit in den Kirchen, wie christlicher Glaube wieder an Attraktivität gewinnen könnte, ist ein respektvolles Hinhören auf den „Glaubenssinn“ der Menschen gefragt, auf das, was sie bewegt, auf ihre Sehnsucht nach gelingendem Leben. Es geht nicht um kirchliche ­Aktionsprogramme oder Pastoralkonzepte, von Ankündigungsbischöfen verordnet. Es geht darum, auf die postmodern imprägnierten „Zeichen der Zeit“ zu achten, damit die verdunstenden Glaubensfermente ihren Kontakt zu ihrem Lebenselement nicht verlieren: den unbrauchbaren Gott.

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