Bei den Salzburger Festspielen gab es im August eine Bühnenfassung von Franz Kafkas Roman „Das Schloss“. Die Nürnberger Puppentheater-Gruppe „Thalias Kompagnons“ spielte das Stück unter der Regie von Joachim Torbahn als groteske Clownerie mit grob geschnitzten Krippenfiguren. Der Landvermesser K. wird in ein Dorf gerufen. Doch als er dort eintrifft, weiß niemand von seinem Auftrag. Gebraucht wird er nicht. „Es war spätabends, als K. ankam.“ Mit Schwung fliegt eine kleine Holzfigur auf die Bühne, wo sie als Landvermesser K. den Kampf gegen die Windmühlen von Hierarchie und Bürokratie aufnimmt. K. erfährt bald, dass seine sinnlose Beauftragung auf einem Fehler beruht, den die Schlossverwaltung vor Jahren begangen hat. Man erlaubt ihm vom Schloss her zwar zu bleiben, aber nur als Schuldiener, da man für ihn als Landvermesser keine Arbeit hat. Ebenso wird ihm die gesellschaftliche Anerkennung verweigert. Die Bevölkerung begegnet ihm mit Distanz und Misstrauen. Das Schloss mit seiner Verwaltung scheint durch einen gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat alles zu kontrollieren, über das Dorf zu herrschen und dabei für jeden Bewohner unnahbar und unerreichbar zu bleiben. Der Landvermesser K. spürt das Pariadasein, als die Wirtin Gardena zu ihm sagt: „Sie sind nicht aus dem Schloss, Sie sind nicht aus dem Dorfe, Sie sind nichts.“ So bleiben Dorf und Schloss rätselhaft und K. ein Fremdkörper, der an seiner Situation zu verzweifeln droht.
Die Handlung scheint eine Wendung zu nehmen, als K. eines Nachts in das Schloss gerufen wird. Er verfehlt jedoch seine Chance, die eigene Situation entscheidend zu verbessern, weil er die falsche Tür wählt. Die ihn belastende Müdigkeit raubt ihm seinen letzten Tatendrang. K. verfällt in Tiefschlaf. So bleibt ihm der Zugang zur Dorfgemeinschaft weiterhin verschlossen. Damit endet das Fragment. Ein von Kafka verfasster Schluss existiert nicht.
„Ein Machtspielchen der Sinnlosigkeit“ nennt die Gruppe ihre Roman-Umarbeitung für die Bühne. Das Ganze ist ein Filz von Bürokratie, Willkür, Unfähigkeit, Unbeholfenheit, Ablehnung derer, die nicht dazugehören. Der Landvermesser K. wird nicht akzeptiert, er gehört nicht dazu, er wird nicht gebraucht. Ein Krippenspiel der Absurdität, Absurdität einer Menschwerdung, Sinnlosigkeit einer Individualität und Freiheit, die keinen Resonanzraum und keine Bleibe hat. Eine groteske Clownerie einer Berufung.
Absurd und sinnlos erscheint auch das Dasein in einer von Naturkatastrophen geprägten Welt: Tsunami, Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, vernichtete Ernten und Hunger. Die Vielzahl der Katastrophen ist kaum zu verdauen. Wirtschaftskrise, Finanzmarkt- und Bankenkrise, dazu soziale, ethnische und politische Konflikte und Kriege. Der Klimawandel ist ein Brennpunkt globaler, generationenübergreifender ökologischer (Un-)Gerechtigkeit. Gibt es eine Menschwerdung in einer Welt, in der Millionen von Menschen verhungern, zu Tode kommen, in der sich seit Jahren Menschen in die Luft sprengen und andere mit in den Tod nehmen?
Nicht selten ist das Zusammenleben durch Rivalität, Konkurrenz, Neid und bloße Geschäfte geprägt. Grenzen werden zwischen Menschen und Völkern errichtet. Andere werden als Bedrohung, gar als Feinde wahrgenommen, werden verachtet und gering geschätzt. Schielen und Vergleichen, Konkurrenz und Rivalität vergiften die Beziehungen nachhaltig: Wenn es mir nicht gut geht, dann darf es anderen auch nicht gut gehen. Wenn ich das Leben zum Wegwerfen finde, dann muss ich es auch anderen vermiesen. Wenn wir entwurzelt sind, dann dürfen auch andere keine Heimat mehr haben. Vielfältige Formen der Abstumpfung und Gleichgültigkeit führen in die Isolation, die Vereinsamung. Welche Kräfte bestimmen unser eigenes Sein und Handeln? Religion erscheint im öffentlichen Leben auf ein Privathobby verkürzt, und das Verständnis für die grundlegende Rolle der Religion im menschlichen Zusammenleben geht verloren. „Jeder kann glauben, was er will! Jedem Menschen seinen eigenen Gott, seinen eigenen Himmel und seinen eigenen Weg dorthin“, hat der Innsbrucker Theologe Józef Niewiadomski diese Haltung gekennzeichnet.
Betrachtung der Menschwerdung
„Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“, so der Philosoph Theodor W. Adorno. Gibt es aber ein „richtiges“ Leben in bedrückenden Verhältnissen? Kann man gut leben und arbeiten in entfremdenden Systemen und Zwängen? Können wir Weihnachten, das Fest der Mensch gewordenen Liebe Gottes, in dieser Welt und in dieser Kirche feiern? So manchem erscheint das als ein Zudecken von Unrecht, als Wegschauen bei Missbrauch und Gewalt, als Hohn gegenüber den Vereinsamten und als Ignoranz gegenüber Armut und Hunger.
Weihnachten ist eine Zeit der Bilanzen. Die Quoten entscheiden über Qualität oder Versagen. Zu Weihnachten ist oft zu lesen, wie viele „noch“ an Gott glauben und wie wenige an Jesus als den Sohn Gottes. Die Magie der Zahl ist verbunden mit einer zunehmenden Sprachlosigkeit: Abgeholzt ist die Sprache der Sehnsucht, Worte für personale Begegnung und für den Glauben sind ausgeblutet oder durch das Vielerlei der unverbindlichen Rede verraten. Doch die Freude des Weihnachtsfestes lässt sich nicht in Zahlen messen.
Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, lässt am ersten Tag der zweiten Woche der Exerzitien, der geistlichen Übungen, die Menschwerdung der zweiten göttlichen Person betrachten. Dabei nimmt er die ganze Menschheit in ihrer Not und Verlorenheit in den Blick. Er lässt den göttlichen Heilswillen meditieren und schließlich anschauen, was der Engel Gabriel und Maria tun: „Wie die drei göttlichen Personen die ganze Fläche oder Rundung der ganzen Welt voller Menschen schauten und wie, da sie sahen, dass alle zur Hölle abstiegen, in ihrer Ewigkeit beschlossen wird, dass die zweite Person Mensch werde, um das Menschengeschlecht zu retten; und sie senden so, als die Fülle der Zeiten gekommen ist, den heiligen Engel Gabriel zu unserer Herrin.“ Es ist die ungeschminkte, nicht gestylte, nicht geschönte Wirklichkeit auf der ganzen Fläche oder Rundung der ganzen Welt voller Menschen „in so großer Verschiedenheit sowohl in Trachten wie in Gebärden, die einen weiß und andere schwarz; die einen in Frieden und andere in Krieg; die einen weinend und andere lachend; die einen gesund, andere krank; die einen geboren werdend und andere sterbend. Es geht darum, zu schauen und zu hören, wie die Menschen mit großer Blindheit geschlagen sind, wie sie schwören und lästern, verwunden, töten, zur Hölle gehen … Dieses Schauen, Hören und Vernehmen führt bei Gott zu dem Entschluss: Lasst uns Erlösung des Menschengeschlechts bewirken“, die heiligste Menschwerdung. Während der Exerzitien soll ich „das erbitten, was ich will. Hier wird dies sein: innere Erkenntnis des Herrn erbitten, der für mich Mensch geworden ist, damit ich mehr ihn liebe, und ihm nachfolge.“ Wenn Gott die unerlöste Wirklichkeit wahrnimmt, dann ist die Menschwerdung Gottes durch Maria der Weg des Heils und der Erlösung.
„Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf … Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung“, heißt es im Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“. Papst Paul VI. hat den Geist des Konzils folgendermaßen zusammengefasst: „Die Religion des Gottes, der Mensch wurde, ist der Religion (denn sie ist es) des Menschen begegnet, der sich zum Gott macht. Was ist geschehen? Ein Zusammenstoß, ein Kampf, ein Anathem? Es hätte sein können, aber es ist nicht geschehen. Die alte Geschichte vom Samariter wurde zum Beispiel für die Geisteshaltung des Konzils. Eine ganz große Sympathie hat es ganz und gar durchdrungen.“
Was geschieht, wenn Alt und Jung aufeinandertreffen: ein Crash oder gar ein Krieg zwischen den Generationen? Was passiert, wenn Arm und Reich aufeinanderprallen: die große Absicherung und Abschottung der Reichen, der Kampf aller gegen alle? Was ist das Ergebnis der einen Welt von Nord und Süd: die Ausbeutung und Unterdrückung, der große Hunger? Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in der Kirche: als großer Krampf mit dem Exodus, dem Auszug der Frauen? Es gehört zur Spiritualität des Konzils, dass „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi sind. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände“, wie „Gaudium et spes“ gleich zu Beginn betont.
Entscheidend für die Menschwerdung ist, dass sie aus einer kritischen und solidarischen Zeitgenossenschaft heraus kommt, dass die Jünger Christi offen sind für das Wort Gottes. Die Grundhaltung der Menschwerdung Gottes ist eine große Sympathie. „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt … Durch Christus und in Christus also wird das Rätsel von Schmerz und Tod hell, das außerhalb seines Evangeliums uns überwältigt“, so das Konzil.
Heiligung der Welt
Vielleicht ist in unserer Welt so wenig von messianischer Wirklichkeit zu spüren, weil wir uns der Wahrheit der Menschwerdung Gottes verweigern: Gott hat sich in Betlehem endgültig uns ausgeliefert. Unsere Menschlichkeit ist das eigentliche Wunder dieser Welt. Seit Betlehem gibt es eine Antwort auf die Sehnsüchte des Menschen: die durch Gott selber geadelte Menschlichkeit eines jeden von uns. In dem Maß, in dem sich in meinem Gesicht die Verletzlichkeit, die Hilflosigkeit, der Schmerz, aber auch das Lächeln des Kindes von Betlehem widerspiegeln, in dem Maß, in dem sich ein jeder von uns von diesem Kind bekehren lässt, in dem Maß wird auch die messianische Hoffnung Wirklichkeit. Gewaltverzicht, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Achtung vor dem Leben - diese Grundwerte unserer Zivilisation bauen letztlich auf dem Glauben an einen liebenden Gott. Weihnachten ist so die Antithese zu Hass und Gewalt.
„Gott steht unserer menschlichen Existenz nicht fremd gegenüber. Er ist vielmehr der Grund der Würde und Einzigartigkeit des Menschen“, hat Papst Benedikt XVI. einmal gesagt. An Weihnachten wird unser Leben von Gott gewürdigt. „Wenn Gott Mensch geworden ist und es in Ewigkeit bleibt, dann und darum ist aller Theologie verwehrt, vom Menschen gering zu denken. Sie dächte ja von Gott gering“, sagte Karl Rahner.
Als Heiligung der Welt, consecratio mundi, wird die Ankunft Christi in der Welt beschrieben. Weihnachten kann als Fest der Erlösung gefeiert werden, als das von Gott her bejahte, gewürdigte und somit erlöste Leben. Die „Kraft des Höchsten“ (Lk 1,35) bekommt Gestalt unter uns Menschen - mit Hilfe einer Frau: Sie gebiert ein Leben, das alle Mechanismen der Resignation und der Gewalt sprengt. Gott spricht zu den Menschen, achtet aber seine Würde und Freiheit. Das Wunder ist die Unterbrechung aller alltäglichen Teufelskreise durch die Kraft der göttlichen Liebe.
Wo ist Betlehem?
Betlehem liegt überall dort, wo Menschen leiden und sich nach Gott sehnen. Ihnen ist Gott nahe, in ihnen kann er leben. Weihnachten ist das Wunder der Menschlichkeit. Das Leben selbst kommt zur Sprache. Der Sohn Gottes wird Mensch, indem er sich einlässt in die Geschichte der Menschheit, indem er sein Menschsein herauswachsen lässt aus dieser Geschichte. Er kommt von oben, indem er von unten kommt. Das ist die Logik seiner Liebe. Brüche des Lebens werden nicht verdrängt, sondern gewandelt. Durch Weihnachten beginnt unsere Wirklichkeit durch Jesus zu Gott zu sprechen. Weihnachten ist „Gnade in menschlichen Abgründen“, so Rahner. Gott wird einer von uns: in unserer Haut, mit unseren Schmerzen, mit unseren Freuden. Er erweist sich als einer, der fühlt, der wartet, der tröstet, der verzeiht. Der Mensch findet ein Gegenüber, dem er sich anvertrauen kann. Die gläubige Zustimmung zu einem Grundvertrauen in unser Leben, wozu Weihnachten einlädt, ist Geschenk, Gnade. Zu Weihnachten feiern wir nicht uns selbst oder eigene Erfolge, nicht die eigene Perfektion, sondern die Mensch gewordene unbedingte und ungeteilte Liebe Gottes. In Jesus ist uns jemand geschenkt, der uns gerade durch alle Sorgen und Mängel hindurch auf das gelingende Leben verweist.
Im Kind von Betlehem sagt Gott zu uns Menschen: Ich bin nicht Rivale, nicht Konkurrent. Gott schreibt das Zeichen seiner Würde auf die Stirn eines jeden Menschen. In Jesus nimmt Gott uns an. Das Kind in Betlehem gibt ein Gefühl der Achtung. Es lässt uns spüren, dass wir einen Wert haben. Es ist Raum zum Leben und zum Wachsen da, ohne Druck, ohne Gewalt, ohne Zwang, ohne Damoklesschwert: „Wenn nicht, dann nicht…“ Durch die Geburt Jesu holt uns Gott ins wirkliche Leben, heraus aus den Scheinwelten mit blutleeren Gespenstern, heraus aus bloßen Träumereien.
Kniefall, der aufrichtet
Mit der Menschwerdung verbindet sich Gott mit uns. Er zeigt Herz, Sympathie und Solidarität mit uns. Das Geschehen zu Weihnachten kennt keine Aufteilung von Akteuren und Zuschauern, von Darstellern und Beobachtern, von Schuftenden und Applaudierenden, von Aktiven und Kritikern. Das Geschehen der Menschwerdung Gottes kennt nur Beteiligte. Die Beziehung zu Gott verlangt wie jede Beziehung meine „Sympathie“, mein Herz. Sie führt mich heraus aus der Isolation, der Vereinsamung und stellt mich hinein in ein lebendiges Beziehungsgeschehen. Ich fühle mich nicht länger wie K. als Fremdkörper, als Nichts in einem absurden Spiel. Religion gibt dem Menschen seine ursprüngliche Würde und Beziehungsfähigkeit, Sinn.
Wer sein Knie vor der Krippe Jesu beugt, tut etwas, was ihn selbst groß macht. Er verehrt demütig den, der selbst demütig war und ist. Wer sich Gott anvertraut, der sich in dem gewaltfreien Menschen Jesus offenbart hat, dem Abbild der göttlichen Gewaltfreiheit, zeigt an, dass er Weihnachten verstanden hat.