Wer sich Köln nähert, dessen Blick wird unweigerlich vom mächtigen Dom angezogen. Trotz der Geschäfts-, Büro- und Wohntürme, die im Geist von Kommerz und Kapitalismus inzwischen ebenfalls imposant himmelwärts streben, hat das Heiligtum über dem Rhein seine Symbolkraft nicht verloren. Es richtet die einstmals heidnische, dann katholische Stadt, die wie viele Metropolen zu einer Stadt häufig ohne Gott geworden ist, weiterhin „standhaft“ auf die Utopie der Stadt Gottes, das himmlische Jerusalem, aus. Die Architektur der Jahrhunderte beweist: Materie wird auf einmal doch zu Geist, Stein zu Licht. Mauern zerfließen in fein gegliederte Proportionen von Maß und Augenmaß, bis sich das ganze massive Bauwerk zuletzt gar auflöst in die Höhe und Weite eines unermesslichen Horizonts.
Was Tag für Tag vieltausendfach Touristen in Besitz nehmen, um einfach zu schauen, zu bewundern oder bloß still da zu sein, lässt selbst ohne Worte und ohne Reiseführer den Einzelnen etwas erahnen von dem, was die Bürger dieser Stadt bewogen haben mag, über Jahrhunderte an Provisorischem zu bauen und dennoch an der Sehnsucht festzuhalten, dass einmal vollendet sein wird, was man selber nicht vollenden kann, niemals vollendet sehen wird. In den oberen Etagen des Wallraf-Richartz-Museums darf sich der Zuschauer von heute zurückversetzen in die Vergangenheit, in die einstige Spannung zwischen Schon und Noch-nicht. Der fertige echte Dom im Hintergrund wird beim Blick durchs Fenster überlagert von den ins Glas eingravierten Strukturen des Baus noch mitten im Prozess, ruinenhaft, vorläufig, aber zielgerichtet.
Wer den Blick ins Innere des Museums richtet, wer an den vielen Altarbildern des Mittelalters und an Werken der Neuzeit vorbeipilgert, kann schnell erkennen, worauf das ganze heilige Spiel und Schauspiel hingeordnet ist: auf den gekreuzigten Jesus Christus, den Erlöser in der Mitte der großen universalen wie der kleinen provinziellen Welt, präsent in der erbaulichen Andacht ebenso wie im prallen banalen Alltag: „Corpus Christi - der ‚Herrliche Leib‘.“ So findet man auf dem Weg durch die Ausstellung kostbarster Werke immer wieder zu dem Einen, Einzigen und Wahren zurück, das dem Brot des Lebens als Seelenspeise und dem Wein des Lebens als Himmelstrank verwandelt Bedeutung verliehen hat: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“
Das verlorene Bedürfnis
Wer aber tut das noch? Der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer, der als Finanzmann und Bistumsverwalter viele Kirchbauten aus Geld- und Gläubigenmangel schließen, abreißen oder für andere Zwecke weggeben will, erinnert fast resignierend an die Gründungshoffnung des Ruhrbistums in den aufblühenden fünfziger Nachkriegsjahren, als der sonntägliche Gottesdienstbesuch bei 35 Prozent lag. Die Ernüchterung ist überall spürbar. Selbst vielen Getauften ist die Eucharistiefeier kein „Bedürfnis“ mehr, so dass der neue Dresdener Bischof Heiner Koch, zuvor Weihbischof in Köln, zwischen seinem jetzigen Standort in der Ex-DDR und dem Rheinland einen ironischen Vergleich wagt: „Die Zahl der getauften Ungläubigen ist hier viel größer.“
Kardinal Joachim Meisner, sein einstiger „Dienstherr“, hat die Bemerkung nicht vernommen. Aber zweifellos war er von derselben Sorge bewegt, als er - auch als Kontrast zu den in seinen Augen zu liberal-zeitgeistigen Katholikentagen - zu einem „Eucharistischen Kongress“ nach Köln einlud, um so an eine früher auch in Deutschland gepflegte Art der „Volksfrömmigkeit“ anzuknüpfen. Die Bischofskonferenz hat das Projekt mitgetragen, wenn auch anscheinend nicht mit ungeteilter Freude. In der Endphase seiner Amtszeit wollte Meisner ein Signal aussenden. Unter der sperrigen, heute eher irreführenden Bezeichnung haben sich an fünf Tagen immerhin etliche tausend Menschen zu Gebet und Meditation sowie zu vorwiegend bischöflichen Lehrvorträgen mit vielen Eucharistiefeiern und theologischen Vorlesungen versammelt. Auch Kinder und Jugendliche waren eingeladen, etliche Klassen-Jahrgänge sogar mit sanftem Druck „verpflichtet“ worden. Nicht übersehen ließen sich die zahlreichen Sympathisan-
t(inn)en der sogenannten neuen geistlichen Bewegungen, die ein eher traditionsbetontes Frömmigkeits- und Kirchenverständnis bevorzugen. Dennoch konnten sie eine spirituelle Weite und Vielfalt der Teilnehmer nicht dogmatisierend eingrenzen. Gegen Ende der Lehrunterweisungen war Platz für - auch kritische - Fragen der Zuhörer: Wird das gemeinsame ökumenische Mahl jemals kommen? Warum soll Jesus einzig sein, wenn es so viele Religionen mit Wahrheitsanspruch gibt? Lebt nicht auch die Kirche mit ihren Gesetzen und Regeln zum Teil unglaubwürdig? Warum sagt Jesus: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken - und sind wiederverheiratete Geschiedene zeit ihres Lebens entgegen seiner Weisung vom Sakramentenempfang ausgeschlossen? Abermillionen getaufter Katholiken liegt nichts mehr an der Eucharistie. Um diese sollte sich ein eucharistischer Kongress lieber kümmern. Dazu gebe es aber kaum Anregung …
Zeigen und schauen
Die Kultur der Worte wird unter dem Einfluss der neuen Medien verstärkt zu einer Kultur der optischen Reize. Das beeinflusst auch die Kommunikation über die Kommunion mit Mund und Augen. Infolge der „Wende zum Bild“ werden das Sehen und Gesehenwerden, das Schauen und Betrachten, das Präsentieren und Präsentiertwerden in christlichen Kontexten aufgewertet. Der katholische Weltjugendtag in Köln 2005 hatte dieses moderne Zeitgefühl insbesondere junger Leute aufgenommen in der Gebetsnacht von rund einer Million Teilnehmern vor einer neugeschaffenen „schlichten“, kreisrunden Monstranz mit dem ebenfalls runden eucharistischen Brot in der - gekreuzten - Mitte, der Mitte des Lebens, des Kosmos. Auch jetzt wurde in Köln mit einer neugeschaffenen, ebenfalls schlicht erhabenen Monstranz aus Bergkristall für die schweigende eucharistische Anbetung ein Akzent gesetzt. „Überholte“ Frömmigkeitsformen können in anderen Zusammenhängen offenbar wieder spielerisch frei zitiert und unter veränderten Horizonten selber verwandelt werden.
Das Eucharistische war eben nie harmlos, nie dogmatisch korrekt zu zähmen. Stets ist es verbunden mit dem Anstößigen, Widerborstigen, Sperrigen des Lebens, mit seinen materiellen Grundelementen wie Brot und Wein, Leib und Blut, mit den existenziellen Grenzerfahrungen des Leidens, Sterbens, Liebens, Hoffens - unter dem Horizont des Ewigen. Manchmal helfen Sprech- und Bildversuche außerhalb der üblichen binnenkirchlichen Schonkost, sich wieder des Rebellischen, des Aufrührerischen eucharistischer Präsenz bewusstzuwerden. „Love is my rebellion. Love is my. Liebe ist meine Religion“ wurde ein Popsong der aktuell vielgespielten Band Frida Gold in der Severin-Kirche multimedial auf die Leinwand im Chor projiziert. Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck sprach sehr direkt mit den jungen Leuten, erläuterte am Beispiel der Erzählung vom „verlorenen Sohn“ oder genauer vom „barmherzigen Vater“, wie wichtig die Rebellion, die Ablösung ist, weil der Mensch erst dann, wenn er durch die Rebellion gegangen ist, weiß, wofür sein Herz schlägt. „Leben ist eine Aneinanderreihung von Entscheidungsphasen. Und Krise meint: entscheiden.“ Das aber gehört zum Reifungsprozess. Auch der vermeintlich treue Sohn, der daheim geblieben war und Tag für Tag brav seine Arbeit machte, gerät angesichts der Rückkehr des Bruders und der Barmherzigkeit seines Vaters in die Krise. Auch den älteren Sohn tröstet der barmherzige Vater.
Morgenmahl am runden Tisch
„Gott“, „Liebe“, „Sehnsucht“, „Gnade“, „Demut“ - diese Begriffe seien derart abgenutzt, schablonenartig gebraucht, dass sie „unglaublich kitschlastig“ endeten. Deshalb taugen solche „Formeln, die zu Floskeln geworden sind“, nicht mehr, um das Eigentliche zu beschreiben. Das erklärte die Schriftstellerin und Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe. Sie beschrieb ihre Wahrnehmung der Eucharistie lieber als „Sehnsucht nach runden Tischen“. Es meint den „großen Traum von der Aufhebung aller Hierarchien“. Das finde real in unserer Welt nicht statt. Für Felicitas Hoppe ist die Feier der Eucharistie jedoch eine anstößige Vorwegnahme dessen, was einmal Heimat sein kann: „eine Ausstattung, die Sicherheit“ verleiht. Egal, wo man weltweit unterwegs ist, überall, universal könne man die Eucharistie mitfeiern als große Verheißung: „Man geht trotz aller Gefahren niemals und nirgendwo hungrig zu Bett.“ Selbst wenn man die eucharistische Handlung nicht „versteht“, so verstehe man doch, dass sie eine Bedeutung hat, dass sie in eine Tiefe reicht, die sich der gewöhnlichen Anschauung entzieht.
Peter Handke hatte dies in einem Beitrag für diese Zeitschrift 2003 so formuliert: „‚Abendmahl‘? Als ich, lange nach meiner 1. Kommunion, endlich von mir selber geschubst (oder von etwas, das mehr war als ich selber), kommunizieren ging, nach einer etwa dreißigjährigen Epoche ohne Hostie, war das eher eine Art Morgenmahl für mich - etwas wie ein Gewecktwerden, für einen anderen Tag, für eine andere Zeit. Zugleich gab es dabei die alte Scheu vor der Eucharistie - als ob ich diese nicht verdiente - diese Scheu war aber nicht mehr verkleinert oder verdorben durch die Scham, die ich beim Kommunionsgang als Kind oder Halbwüchsiger erlebt habe - es war eine Art erhabener, auch belustigter, oder erheiterter, spielerischer Scheu. Und zu dem erhaben-heiteren Spiel gehörte eben auch, dass ich mit anderen zu jenem ‚Mahl der Anderen Zeit‘ ging, dass ich in Gemeinschaft war; dass so Gemeinschaft erst, wie flüchtig auch immer, geschaffen wurde, so flüchtig wie beständig; eine der wenigen Gemeinschaften, die mir möglich wurden. Aber immerhin. Meine Dankbarkeit bleibt, und täglich vermisse ich das ‚mich zu DIR hinmahlzeiten‘ im Sinn von Celans ‚hinüberdunkeln zu dir‘.“
Opfer in einer Welt voller Opfer?
Der Wiener Theologe Jan Heiner Tück sichtet in der Eucharistie ebenfalls eine Grenzüberschreitung, ein Hinübergehen durch Hingabe - aufgrund der liebenden Selbsthingabe Gottes an die Menschen. Mit dem alten magischen Opferverständnis des „Ich gebe, damit Gott mir gibt“ oder gar mit einer sadistischen Aufopferung Jesu durch einen gewaltbesessenen, auf ausgleichende Genugtuung bedachten Vatergott habe dieses andere „Opferverständnis“ nichts zu tun. Tück spricht es nicht aus, meint es aber wohl: Der einstige dinglich verstandene, mythologische Opferbegriff taugt nicht mehr. Erst recht nicht in einer Zeit, in der sich alle als Opfer sehen, aber keiner Täter sein will. Tück gibt Luther Recht der sich energisch gegen eine Kommerzialisierung und Verdinglichungen des „Messopfers“ gewandt habe, als ob viel „Messelesen“ auch besonders viel Gnade von Gott bringe. Denn nicht der Mensch opfert sich. Der Priester bringt auch kein neues Opfer dar. Vielmehr ist es Christus, der alles andere als ein passives „Opfer“ - „victim“ - freiwillig und aktiv voller Liebe und Hingabe den Schmerz der Gedemütigten aufnimmt und teilt, um die verletzte Würde des Menschen wieder aufzurichten. „Christus ist physikalisch abwesend, aber geistig und zeitlich anwesend.“ Die Eucharistie wird so zur Wegzehrung, die dem Menschen hilft, in den Irrungen des Lebens unterwegs den Blick auf den Weg nicht zu verlieren und einen Vorgeschmack des Künftigen zu bekommen. Gegen einen unkritischen Rückgriff auf frühere eucharistische Vorstellungen gibt Tück zu bedenken, wie viele Irrwege und absurde Theorien des Messopfers im Lauf der Theologiegeschichte entstanden.
Leider wurden die Schattenseiten mancher Eucharistiefrömmigkeit nicht thematisiert, das Absurde zum Beispiel der Hostienfrevel-Wahnvorstellungen und einer sich darum rankenden Magie- wie Wundersucht. Nicht unterschlagen werden sollte auch, dass die Schaukommunion des gläubigen Volkes oftmals eine Art Ersatzhandlung war, weil die Laien wegen ihrer Sündhaftigkeit - konkret: wegen ihres sexuellen Lebens - nicht rein und würdig erschienen, das Allerheiligste körperlich zu empfangen. Auch deshalb beschränkte sich der Kommunionempfang lange auf die Osterkommunion, nach vorheriger Beichte - und sexueller Enthaltsamkeit. Die eucharistische Anbetung als herabgestufte „Kommunion“ für das sündige Laienvolk sollte nicht im Nachhinein verklärt werden.
Jenseits der Gefahr einer verdinglichten magischen oder mythologischen Schaufrömmigkeit kann dennoch auch Tück dem eucharistischen Schauen im Sinne einer Mystik der offenen Augen, wie sie Johann Baptist Metz als gefährliche Erinnerung des Leidens und der Leidenden thematisiert, durchaus etwas Positives, Modernes, Innovatives abgewinnen. Brot ist zweifellos zum Essen da und zur Gemeinschaft. Dennoch werde in den Zeichen von Brot und Wein deutlich, dass hier etwas geschehen kann, was nicht unsere Tat ist. Christus ist es, der uns versammelt und uns schauen lässt. „Wir werden in den Horizont seiner Gegenwart hineingenommen.“ Wenn wir uns derart in die Gegenwart Christi aufnehmen lassen, sehen wir mit den Augen des je anderen.
Für den Mainzer Kardinal Karl Lehmann reicht das Eucharistische daher über das Individuelle, Private hinaus. Das „Brot des Lebens“ sei eine Hoffnung des wandernden Menschen quer durch alle Zeiten. Das Eucharistische führe uns in die Welt und durch die Welt. Lehmann würdigte ausdrücklich das Zweite Vatikanische Konzil, das mit dem Gedanken der Communio, also der Gemeinschaft im Volk Gottes, das eucharistische Verständnis korrigiert, erweitert, aus individualistischer Verengung herausgeführt und die Bedeutung der „Kirche als Ereignis der von Gott bedingten Versammlung“ betont hat.
Kletterkirchen und Affentheater
Das Eucharistische ist als öffentliches Geschehen auch etwas Politisches, so wie alles Religiöse (und Nichtreligiöse) als Kulturakt stets eine politische Dimension hat. Das betrifft auch die Orte, an denen Eucharistie gefeiert wird, die Kirchengebäude. Der Kulturwissenschaftler, Münsteraner Akademiedirektor und Landtagsabgeordnete Thomas Sternberg beklagte, dass Kirchen zusehends abgerissen, umgewidmet, für absurde Inszenierungen freigegeben werden und dass sie so dem öffentlichen Raum als Anders-Ort, der auf die Gegenwart des Unsichtbaren, Heiligen verweist, entzogen werden. Sternberg verwies unter anderem auf eine „Kletterkirche“ in Mönchengladbach, wo nun Jugendliche herumturnen, wo „ein Affentheater mit Kindergeburtstagen“ veranstaltet wird. Das sei „eine Schande“ ohnegleichen. Doch wird solche Kulturbarbarei von der Bevölkerung erstaunlicherweise willig hingenommen. Dieses Verhalten ist eigenartig und widersprüchlich, wenn man nur daran denkt, wie groß die medial hochgepuschte Entrüstung war, als radikale Taliban-Muslime die riesigen Buddha-Statuen vom Bamiyan in Afghanistan sprengten.
Sternberg reagierte äußerst zornig darauf, wie die superreiche Kirche in Deutschland fahrlässig mit ihren allenfalls noch schwach genutzten Kirchen umgehe. Man habe ein gigantisches Immobilienvolumen angehäuft. Da müsse man doch kritisch nachfragen, wofür das Geld eingesetzt wird. Sternberg schlägt vor, sich Zeit zu nehmen, nicht oder kaum mehr genutzte Kirchengebäude einfach stehen zu lassen, sie als Mahnmal zu erhalten und provisorisch abzusichern - in der Hoffnung auf vielleicht wieder einmal bessere Zeiten. Jedenfalls sollte man die Entscheidung nicht abhängig machen von der Frage: „Gibt es den Pfarrer, der die Kirche bespielt?“ Vielmehr davon: „Gibt es eine Gemeinde, die damit ihre Geschichte hat und bewahrt“, auch wenn dort vielleicht bloß noch einmal im Jahr ein Gottesdienst gefeiert wird.
Laut Sternberg müssten die stillgelegten Kirchengebäude ebenso das Gemeinwesen, die Bürgergesellschaft herausfordern. Denn Gebäude haben ihre Geschichte und sind Teil einer Stadt- oder Dorfgeschichte, wesentlich für ihre Identität. Kirchen waren zudem immer entworfen mit „Raumluxus“. Es ging nie darum, wie viele Leute hineinpassen. Auch die romanischen Kirchen Kölns seien nach ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg mit großer Anstrengung wiedererrichtet worden. Allen war klar: „Die Stadt braucht diese Kirchen.“ Ist das auch heute noch klar? Sternberg vermutet, dass es dennoch „mehr Religiosität“ gebe, „als unsere Zahlensituation deutlich macht“.
„Wahres“ Leben Uferpromenade
Der evangelische Bonner Religionspädagoge und Liturgiewissenschaftler Michael Meyer-Blanck machte wiederum auf den Trend aufmerksam, dass im Protestantismus die Bedeutung sakraler Räume wiederentdeckt wird. Ein Kirchenraum sei eben doch mehr als nur ein profaner Versammlungsort, der einzig durch die Feier der Menschen gottesdienstlich wird. Der Kirchenraum sei ein „körperumgebendes Zeichen“ in einem weiten Sinne. Denn: „Der Leib ist nicht nur das Transportmittel, um das Gehirn unter die Kanzel zu bringen.“ In jedem Kirchenraum manifestiere sich eine Erinnerung an die Erinnerung. Die Materie des Bauwerks erinnert an die Feier der Erinnerung Jesu, an das Abendmahl, an Wort und Sakrament. Die „Gebrauchsspuren“ verbleiben im Raum - über Generationen, Jahrhunderte. Für Meyer-Blanck sind sakrale Räume aufgeladen mit Bedeutung für Sein, Hoffen, Leben. Gott ist ganz da - und entzieht sich. Für diese Anwesenheit des Abwesenden stehen Kirchenräume.
Der Kölner Eucharistische Kongress war kein traditionalistisches katholisches Spektakel mit Inszenierung einer religiösen Sonderwelt, wenn auch gewisse Sonderwelten zu beobachten waren. Der Kongress war aber auch kein bedeutendes Experimentierfeld eucharistischer Weiterentwicklung. Daran änderten selbst Versuche spektakulärer Art nichts, wie etwa die nächtlichen Lichtspiele unter Orgelklang im Dom, die mit ihrer besonderen Art der Verhüllung und Enthüllung der Säulen und Gewölbe durch bewegte Farbenornamentik den Raum in ein nahezu nebelartiges Strahlenmeer tauchten. Manches ließ an Konzeptionen eines neuen Sehens durch zeitweises Nichtsehen oder Anderssehen denken, wie sie der Verhüllungs- und Enthüllungskünstler Christo zu verwirklichen sucht - diesmal nur durch Licht, im Farbenrausch. Insgesamt aber weckte die Inszenierung eher den Eindruck eines esoterisch-psychedelischen Kitsches, rhetorisch aufgeblasen zur „lux eucharistica“. Abgesehen von der Uraufführung eines musikalischen Werks - „Deus caritas est“, eine Auftragskomposition von Marcus Botho Ludwig (geboren 1960) nach Texten unter anderem von Gerhard Tersteegen, Elie Wiesel, Kurt Marti - und spannungsreichen Ausstellungen verschiedener Museen sowie Einzel-Initiativen der Kunststation Sankt Peter fielen die Bemühungen um liturgische, eucharistische, religiöse und theologische Innovationen insgesamt recht bescheiden aus.
Ein echtes Stadtereignis wurde der Eucharistische Kongress nicht. Selbst wenn der Dom bei den Lichtspektakeln wegen Angst vor Überfüllung geschlossen werden musste und wenn einzelne Katechesen, zum Beispiel von Kardinal Lehmann, gut besucht waren und lebhaften Beifall erhielten, blieben etliche Programmpunkte weit hinter den Erwartungen zurück. Wer am Abend aus den Kirchen hinaustrat auf die von Einheimischen und Touristen überschwemmten frühsommerlich-warmen Straßen und Plätze bei den vielen Altstadt-Kneipen oder wer an der Uferpromenade entlang flanierte, konnte - vielleicht mit Wehmut - schauen, wo sich das „wahre“ Leben abspielt. Und selbst der Fremdling durfte nachempfinden, wovon eine der bekannten Kölner Mundart-Musikgruppen in ihrem Karnevals-Hit singt: „Hey Kölle - do ming Stadt am Rhing, he, wo ich jroß jewode ben. Do bes en Stadt met Hätz un Siel. Hey Kölle, do bes e Jeföhl!“
Herz und Seele aber sind allein dort, wo die Menschen sind. Das Bauwerk Dom mag nicht wanken, selbst wenn neue Bauwerke weltlicher oder sakraler Art - ob Banken oder Moscheen - ihre Zukunftsmächtigkeit architektonisch untermauern. Letzten Endes lebt das Christentum nicht von seinen äußeren, sondern von seinen inneren Bauwerken - und deren ständiger Neukonstruktion in je neuer Zeit. Auch die Eucharistie ist ein lebendiges Bauwerk, den Wendungen der Menschenseele und des Menschenherzens mitgegeben, manchmal melancholisch, manchmal heiter, manchmal fromm, manchmal rebellisch, zeitweise beruhigend, vor allem aber ergreifend, erschütternd. Was weckt besser Sinn und Geschmack fürs Unendliche, materiell und geistig zugleich? „Hey Eucharistie, do bes e Jeföhl!“