Früher einmal wollten Kirchentage die Welt retten. Inzwischen sind die meisten Christen schon froh, wenn sie ein wenig aus der Glaubenswelt in die Zukunft retten können. Wird man in ein, zwei Generationen noch Glauben vorfinden in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, in der der Anteil der Religionslosen dramatisch wächst, jeder dritte Einwohner keiner Kirche angehört? Diese Sorge trieb wohl auch viele der 160000 Besucher des Evangelischen Kirchentags in Hamburg um. Denn so beeindruckend diese hohe Zahl auch sein mag, sie liegt im Größenbereich der Kirchenaustritte Jahr für Jahr.
Natürlich waren in der Hansestadt die bekannten politischen Themen und Gerechtigkeitsfragen präsent, alle zwei Jahre wieder. Die üblichen Prominenten gesellten sich dazu. Die Bundeskanzlerin durfte erneut zu einem globalen Thema Allgemeines und Vages sagen, die Verantwortung für die Schöpfung beschwören und die Energiewende verteidigen. Der Oppositionsführer und Kanzlerkandidat äußerte sich zur Macht der Finanzmärkte und zu Rüstungsgeschäften. Der Bundestagspräsident erklärte in einer Art Volkshochschul-Grundkurs launig, warum die Politiker besser seien als ihr Ruf und warum mehr direkte Demokratie auch ihre Doppeldeutigkeiten hat: von sinkender Wahlbeteiligung bis zur Bevorzugung der beim Volk bekanntesten Köpfe, statt neuen, aber kompetenten Kandidaten eine Chance zu geben. Die Zuhörer klatschten ebenfalls wie immer höflich Beifall, mal weniger, mal mehr, Letzteres vor allem, wenn es populistisch plakativ wurde, ob bei Mindestlohn, Bankenspekulation oder Frauenrecht. Selten einmal wurde es richtig kontrovers, etwa wenn ein Jurist gegen einen Gewerkschaftsführer das besondere kirchliche Arbeitsrecht verteidigte, das Streiks ausschließt.
Auch in Zukunft werden solche Podiums-Veranstaltungen zum Kirchentag gehören. Politisch im eigentlichen Sinn sind sie allerdings nicht, selbst wenn Journalisten und Kirchenfunktionäre meinen, daran den Grad kirchlicher „Zeitansage“ ablesen zu können. Das politisch weitaus Brisantere liegt heute auf dem Feld der Religion selber: inwiefern das christliche Geistesleben überhaupt noch Kraft hat, Sein und Zeit mitzuprägen, das kulturelle Langzeitgedächtnis nicht nur zu bewahren, die Tradition nicht nur zu verteidigen, sondern Staat und Gesellschaft innovativ zu stabilisieren und zukunftsfähig zu gestalten. Das Christentreffen an der Elbe ließ erkennen, dass nicht gefällige Floskeln und flotte Politparolen über den Gang der Geschichte entscheiden, sondern schleichende Prozesse in den religiösen wie moralischen Grundhaltungen. Das Äußere dieser Republik und ihrer Bürgergesellschaft hängt ab vom spirituellen Inneren, insbesondere von ihren christlichen Grundhaltungen, auch und gerade wenn diese vermehrt öffentlich kleingeredet werden.
Wie bei einem Chamäleon?
Bei einem Podiumsgespräch über gegenseitige Bereicherung in multireligiöser Wahrnehmung plädierte die Tibetologin Carola Roloff, die vom Christentum zum Buddhismus überwechselte und dort in bewusster Konfrontation mit der männlich-mönchisch geprägten Mehrheitstradition Nonne wurde, für mehr Geschlechtergerechtigkeit in allen Religionen. Der Jurist und Hindu Thamil Venthan Ananthavinayagan, dessen Eltern aus Sri Lanka stammen, erzählte, wie diese ihn zwecks Inkulturation in Deutschland in den christlichen Religionsunterricht schickten - und dass die Religionslehrerin erst nach acht Jahren sein Hindusein „entdeckte“, völlig überrascht, weil er doch immer so positiv von Jesus geredet habe… Gott offenbare sich wie ein Chamäleon, behauptete der Fachmann für Mietrecht. „Jeder sieht nur die Farben, in denen es sich zeigt. Wenn wir die Wahrheit suchen, müssen wir erkennen, dass jeder die Wahrheit hat.“ Im Hinduismus lebten - so seine Auffassung - irgendwie alle Religionen mit. Warum aber werden dann Christen in Indien von militanten Hindus bedrängt, warum in Sri Lanka von nicht minder aggressiv-elitär auftretenden, angeblich doch stets friedliebenden Buddhisten diskriminiert?
Die Witwe schreit
Hamburgs Bischöfin Kirsten Fehrs plädierte für mehr Offenheit: „Wenn wir religiös musikalisch sind, können wir auch in die Schwingung anderer Religionen eintreten.“ Die jüdische Kantorin Avitall Gerstetter zog allerdings lieber gleich Grenzen: Sie gehe nur auf evangelische Kirchentage, nicht aber auf Katholikentage. Die islamische Theologin Hamideh Mohagheghi wunderte sich, dass sie seit einigen Jahren so oft zu interreligiösen Dialogen eingeladen werde. Sie sei erfreut, dass sie sogar auf Kirchentagen sprechen dürfe, wobei allerdings niemand kritisch einwarf, wie undenkbar es ist, dass Christinnen und Christen im Iran oder in Saudi-Arabien genauso offen vor Moschee-Gemeinden sprechen dürfen. Die islamische Theologin zeigte sich als Einzige allerdings deutlich reserviert: „Es ist die Frage, ob interreligiöser Dialog nötig ist, um miteinander leben zu können. Wir müssen nicht alle eins werden.“ Der andere sei in seiner Andersheit schlichtweg zu akzeptieren, wie er ist. Diesem Plädoyer für einen gesellschaftlich-kulturellen Minimalismus und somit auch für Parallelwelten wollte anscheinend niemand widersprechen.
Auch der ehemaligen Hamburger Schulsenatorin und Lehrerin Christa Goetsch scheint ein besonderer Minimalismus zu reichen: Religionskunde statt Religionsunterricht. Ein entsprechendes Wertevermittlungsfach, das religionsübergreifend erteilt wird, ist in Hamburg eingeführt worden. Vierzig Prozent aller Kinder in Hamburg kämen ohne Religion in die Schule. Sie müssten über den gemeinsamen Unterricht Respekt und Achtung der anderen lernen, erläuterte die Politikerin außer Dienst. Doch ein bloßes multireligiöses sowie multinichtreligiöses Nebeneinander schien nicht alle Zuhörer zufriedenzustellen, erst recht nicht in einer Stadt, die vom heiligen Ansgar dem Heidentum entzogen und zum Christentum bekehrt worden war, in einer selbstbewussten Bürgerschaft, die einstmals eine reiche christliche Glaubensgeschichte prägte, von der heute noch die Türme der Hauptkirchen künden: „Was wollen wir den vierzig Prozent religionslosen Kindern geben: Glaube, Liebe, Hoffnung?“ Die Frage blieb unbeantwortet, zumindest im riesigen Konferenzsaal.
Auch in die sprichwörtliche protestantisch-liberale Toleranz scheint sich allmählich erhebliches Unbehagen zu mischen, ob wirklich alles gleich gültig und somit gleichgültig sei, was als „Leitkultur“ vorherrscht, die immer grundiert ist, ob religiös oder nichtreligiös. Und immer hat es politische Folgen. Und existenzielle.
Das ist nicht kleinzureden. Der Intendant des Thalia-Theaters, Joachim Lux, bekannte: Wir brauchen im Drama des Lebens stets ein Du. In einer bewegenden Bibelauslegung über den gottlosen Richter und die Witwe, die ihr Recht einfordert und Tag und Nacht nach Gott schreit (Lukasevangelium, Kapitel 18) erklärte Lux: Religion zeige sich hier gerade nicht nur als „angewandte Gesellschaftswissenschaft“. Sie komme durch anderes zustande, durch Gefühle, auf dichteste Weise durch den Schrei, nicht zuletzt den Schrei der Gebete. Dieser begleite die Menschheit durch die Jahrtausende: „wie wir unsere Existenz sinnhaft unterlegen können“ inmitten von so viel Nicht-Sinnhaftigkeit. Tatsächlich bräuchten wir mehr als ein wenig Sozialmanagement: „Wir brauchen Ehrfurcht vor Gott.“ Das Gottvertrauen sei dann sogar eine Art „Umwegtechnologie zum Glauben an sich selbst“. Die Witwe jedenfalls gewinnt aus ihrem Glauben an Gott den Mut, sich zu wehren, aufzubegehren, notfalls zu revoltieren.
Letzten Endes lebt der religiöse Mensch von der Hoffnung, dass Gott doch irgendwie eingreift, eingreifen kann. Das mag auf den ersten Blick wie ein Kinderglaube erscheinen, der jedweder Erfahrung widerspricht. Dennoch plädierte Lux dafür, an dieser Unsicherheit und Unschärfe festzuhalten, an einem göttlich verankerten Urvertrauen, ohne genau zu wissen, woher. Dann aber sei es möglich, durch den Kinderglauben hindurchzugehen, um sich dem „tiefen Rest des Nicht-Erklärbaren“ auszusetzen. Selbst das Schlimme könnten wir ertragen, wenn wir die Hoffnung nicht beerdigen, „dass mit dem Tod doch nicht alles aus ist“.
„Wallfahrer“ der Liturgie
Das Christentum lebt von Leidenschaft - von Leiden und von dem, was über das Leiden hinauswächst. Für Thomas Erne, den Direktor des Marburger Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, ist „Religion ohne Humor, ohne Esprit, ohne Unterhaltung … letzten Endes nichts wert“. Eine solche Art von Religion bewege niemanden, dafür interessiere sich niemand. Wir brauchten eine Wiederentdeckung der „Sprengkraft der Gefühle im Horizont des Unendlichen“.
Diese Sinnlichkeit haben die evangelischen Kirchentage längst gefunden. Die Kirche des Wortes, der Theologie mutiert während dieser heiligen fünf Tage zu einer experimentierfreudigen Kirche der Liturgie - „katholischer“ als mancher Katholikentag. Feiern, Beten, Singen war auch diesmal für die „Wallfahrer“ des „Protestantismus“ (mit knapp einem Zehntel Katholiken) kein Nebenpunkt im offiziellen 2500-Punkte-„Programm“. Es war das Pilgerziel am Morgen, am Mittag, am Abend, in der Nacht. Bibelarbeiten, Tagzeitengebete, Andachten, Meditationen, Feierabendmahle, Konzerte bildeten den Schwerpunkt nicht nur auf den Bühnen der Kirche, sondern auch auf den öffentlichen Bühnen der Stadt. In Hamburg wurden nicht nur seelsorgliche Gespräche geführt, es wurde auch gebeichtet, das - schwindende - „Alleinstellungsmerkmal“ der Katholiken evangelisch mit Leben erfüllt, so wie sich etliche Evangelische beim Segen bekreuzigen. Zur Hamburger Besonderheit gehörte auch, dass der katholische Mariendom eine evangelische Gottesdienstwerkstatt beherbergte.
Irgendwie von Gott „angemacht“
Ach ja, die Ökumene! Die großen theologischen Einigungstheorien mit vielen Dokumenten, Beschwörungen und Visionen haben trotz der bedeutenden Pionierarbeit der Altvordern den offiziell-amtlichen Widerhall nicht gefunden. Braucht es den überhaupt noch? Je länger er ausbleibt, umso weniger scheinen ihn die engagiert Glaubenden zu vermissen. Längst haben jene, die Ökumene im Familien- und Freundeskreis als „Hauskirche“ hautnah leben, ihre Lösungen gefunden. Was die Bischöfe tun oder nicht tun, sagen oder warnen, interessiert die religiös-ökumenisch Lebendigen praktisch nicht mehr. Eine Art „Taizé“ existiert in gewisser Weise längst überall, jedenfalls bei denen, die das existenziell angeht.
Der Freiburger Soziologe Michael N. Ebertz vermutet, dass die ökumenische Frage im Kern nicht mehr eine theologische, sondern „eine Macht- und Herrschaftsfrage“ sei. Bei weltweit mindestens 40000 Kirchen und kirchlichen Gruppierungen liege die Zukunft der Ökumene realistischerweise ohnehin nicht in einer Art „Fusion der Konfessionen, sondern in einer Vernetzung“. Die Vorstellung einer sichtbaren Einheit scheint im Konsens des Dissenses definitiv überholt zu sein. Das entspräche dem, was man auch sonst aus der Religionsgeschichte kennt: Niemals und nirgendwo ist wieder zusammengewachsen, was sich einmal getrennt hat.
Mit solcher Ernüchterung wollte sich Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, Mitverfasser eines ungeduldigen Aufrufs „Ökumene jetzt“, jedoch nicht zufriedengeben. „Ich habe den Eindruck, dass die ökumenischen Differenzen momentan eher verwaltet als bearbeitet werden.“ Fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und fünfhundert Jahre nach der Reformation müsse man endlich über den gegenwärtigen Zustand hinaus. „Wir kommen nicht mehr weiter, wenn wir die Ökumene den Amtstheologen überlassen.“ Die neo-konfessionellen Profilierungsversuche schadeten der Glaubwürdigkeit des Christlichen insgesamt, fürchtet Thierse.
Wo es weltlich modern zugeht, geht es religiös ohnehin nur noch ökumenisch - oder gar nicht. Im elitär aufstrebenden neuesten Stadtteil Hamburgs, der pompös inszenierten Hafencity, die nicht von einem Kirchturm, sondern von der milliardenschweren Elbphilharmonie gekrönt wird, die fast zu einem Milliardengrab zu werden drohte, gibt es ein Ökumenisches Zentrum mit Café und Kapelle. Zum Mittags- oder Abendgebet findet sich stets eine kleine Schar von Neubürgern und Berufstätigen ein, nachdenkliche Leute in einem Stadtteil nicht ganz ohne Gott. Die Hafencity-Universität entsteht gleich daneben. Wird man unter den Intellektuellen von morgen noch Glauben finden?
Es wird immer schwerer, den eigenen Glauben weiterzugeben, selbst unter günstigen, „frommen“ Familienbedingungen Das schmerzt - nicht nur Christen. Sehr berührend hat darüber ein Muslim beim Kirchentag gesprochen, der Religionsphilosoph und Koranübersetzer Milad Karimi. Als Kind war er mit seinen Eltern unter dramatischen Umständen aus Afghanistan geflohen. Seine Gebetserfahrung im Augenblick, als das Flugzeug unter Raketenbeschuss Kabul verließ, seine schweigende Verbundenheit mit den Eltern inmitten der Todesangst blieben prägend für sein ganzes Leben. Stumm hätten sie die Lippen bewegt, mit den Versen, die zu Lieblingsversen wurden: „Und er ist mit euch, wo immer ihr seid.“
Das Kind von damals, das in der dramatischen Situation des beredten Schweigens intuitiv die Kraft der Religion begriff, ist heute als Vater eines dreijährigen Sohns selber gefordert: „Ich weiß nicht, wie ich meinem Sohn Glauben beibringen kann. Ich kann zwar vieles von der Religion erzählen, was der Koran bedeutet, wann Mohammed geboren wurde und so weiter“ Aber letzten Endes sei er machtlos davor, ob das Kind auch irgendwann glauben wird. „Der Glaube ist wie die Liebe. Wir verfügen nicht über den Glauben. Man kann jemandem auch nicht die Liebe beibringen, man kann nur jemanden lieben.“ So ähnlich ergehe es dem Menschen vor Gott: „Wir sind irgendwie von Gott ‚angemacht‘.“
Wir sollten nicht darauf verzichten, den Kindern eine „spirituelle Wegzehrung“ mitzugeben, rät die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Botschafterin des Reformationsjubiläums 2017 Margot Käßmann. „Wenn ich mein Kind liebe, biete ich ihm doch an, was ich liebe.“
Wie schmeckt Religion?
Wenn die Familie in der Glaubensentwicklung jedoch ausfällt, wenn bereits in der zweiten oder dritten Generation niemand mehr den Himmel öffnet - wer übernimmt diese Erziehung dann? Zwar erwartet der Hamburger Theologe Michael Moxter, dass es auch ohne Familie gehen muss, zumal Familien heute oft eher Orte der Entchristlichung als der Glaubensentwicklung seien. Der Rückgriff auf eine „naturwüchsige Einheit der Familie“ sei ohnehin nicht mehr möglich. Dennoch bleibe Mission eine Aufgabe, als „Erinnerung an die Freiheit, zu der Christus befreit“. Wer die Familie, die Eltern als erste Seelsorgerin und erster Seelsorger ihrer Kinder ersetzen soll - darüber herrscht allerdings Ratlosigkeit, die überdeckt wird mit viel Rhetorik.
Der Baseler Theologe Reinhold Bernhardt vermutet, dass es ohne Vorbilder, ohne Charisma wohl nicht geht. „Glaube kann nur leiblich, ja sakramental weitergegeben werden.“ Zuletzt bleibt die Hoffnung, dass aller Individualisierung und religiösen Verdunstung zum Trotz der Sinn und Geschmack fürs Unendliche in jedem Menschen angelegt seien. Den Kirchen muss nur eins klar werden - so Bernhardt: „Spirituelle Wanderer fragen nicht, ob der Baum, von dem sie essen, das Etikett ‚christlich‘ trägt. Sie wollen einfach, dass ihnen die Frucht schmeckt.“
Kann Christsein schmecken? Wer sorgt für Geschmack? Letztlich hängt die Glaubensentwicklung eben doch von funktionierenden Familien, von fürsorglichen, verantwortungsvollen Eltern ab. Allerdings hat der Kirchentag zwar mit einem „Regenbogen“-Zentrum für Lesben und Schwule den manchmal sehr schrägen Inszenierungen dieser Minderheiten viel Raum und Präsenz ermöglicht, ein Zentrum für die Mehrheit jedoch vergessen: für Ehe und Familie, Institutionen, die in ihrer Stabilität am meisten gefährdet und politisch, ökonomisch, kulturell am stärksten missachtet werden, obwohl sie die eigentlichen Stützen der Gesellschaft bilden - staatstragend für Generationensolidarität und Reproduktivität. Nachhaltigkeit wäre auch einmal auf dem Feld der Ökologie der menschlichen Natur, der Normalität der biologischen Geschlechterordnung samt ehelicher und innerfamiliärer Treue zu buchstabieren. Ehe und Familie - es gibt nichts Politischeres.
Aber auch nichts, was momentan selbst in Kirchenkreisen derart nivelliert, in eigenartiger Selbstdemontage relativiert wird. Bei einer Veranstaltung über „Körperregime“ und Sexualität meinte sogar ein Moraltheologe, er gehe davon aus, dass die allermeisten der Anwesenden - in der Mehrzahl waren es Frauen - nicht mehr in ihrer ersten Beziehung lebten. Sind wir also schon so weit, dass selbst ein Evangelischer Kirchentag den Kristallisationskern menschlicher Beziehung und Bindung abgeschrieben hat? Sozialethisch hehre Forderungen an Politik und Wirtschaft, individualethisch jedoch „Alles geht“ bis zur Selbstpreisgabe? Geradezu skurril war, dass eine Vertreterin der Diakonie über das Elend der Prostitution und des Menschenhandels sprach, während auf dem offiziellen Willkommens-Prospekt des Kirchentags über „Sehenswertes in Hamburg“ werbend eingeladen wurde nach Sankt Pauli: „eine einzige große Verführung…, absolut unwiderstehlich und an jeder heißen Ecke gespickt mit sündigen Sehenswürdigkeiten“. Fällt derart Absurdes niemandem mehr auf?
Der frühere EKD-Ratsvorsitzende und evangelische Bischof Wolfgang Huber schrieb in der Kirchentagszeitung: „Auf evangelischer Seite … zeigt sich immer wieder die Gefahr, dass Freiheit mit Beliebigkeit verwechselt wird. Freiheit muss jedoch verantwortet werden. Dabei braucht man Grundsätze, von deren allgemeiner Geltung man überzeugt ist.“
Der Zeit ent(gegen)laufen
Was ist gelingendes Leben? Was ist gelingendes Glauben? Erhebliche Unruhe treibt viele zu Kirchentagen. Diese haben ein Stammpublikum, das sich in einer regelmäßigen rhythmischen Bewegung versammelt, um in großer Gemeinschaft eine Lebendigkeit zu erleben, die der Einzelne trotz Engagements in den Heimatgemeinden immer seltener findet. Kirchentage ermöglichen kleine Fluchten aus religiöser Einsamkeit, Isolation und Trostlosigkeit daheim: Fest, Aufbruch, Auftanken. In Zeiten religiöser Verdunstung dienen Kirchentage der Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung im eigenen Glauben. Es gibt sie noch, die anderen, die ähnlich denken, fühlen, handeln!
Die kritischen Fragen der Theologie, der Gottesvorstellungen, des Wandels der magischen, mythologischen religiösen Verstehenswelten scheinen inzwischen eher etwas draußen gelassen zu werden. Auf Kirchentagen sucht man weniger Zweifel als Bestätigung. Daher wird in Gottesdiensten und Andachten in teilweise naiver Kindlichkeit Gott fürbittend angefleht. Dialoge mit den Wissenschaften, die religiöse Horizonte aufbrechen und umbrechen, waren in Hamburg reduziert. Die großen Gestalten innovativer Theologie scheinen auch der evangelischen Seite allmählich auszugehen. Die ergreifenden Vortragsredner von einst sind verschwunden.
Was braucht der Mensch? Manchmal weniger als mehr. So analysierte der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa den Veitstanz ständiger Beschleunigung und Wachstumsvermehrung in modernen Gesellschaften. Wachstum, um nicht abzustürzen. Die Dynamik der Vermehrung fresse unsere Lebenszeit auf. Heute besitzt ein Haushalt etwa 10000 Dinge, um das Jahr 1900 waren es 400. Ähnlich vervielfältigen sich die Kontakte auf allen Ebenen. Nur eins können wir nicht vermehren: unsere Zeit, unsere Lebenszeit. Im Grunde „laufen wir als Gesellschaft nicht mehr auf ein Ziel zu, sondern wir laufen vor dem Abgrund weg“. Das aber ist der Weg in die Angst, in die Depression.
Was der Mensch dagegen brauche, sei - so Rosa - Resonanz, die Welt als erregende Herausforderung, so dass man sich von ihr und in ihr getragen fühlt - nicht hineingeworfen. Das Bedürfnis der Kirchentagsbesucher weniger nach dem diskursiven Wort als nach atmender Spiritualität und sinnlicher Anschauung hängt damit zusammen. Der Mensch will Resonanzsphären, das Gefühl, dass es „draußen“ etwas Antwortendes gibt. Vielleicht ist der Weg zu einem neuen, innovativen christlichen Glauben dann gar nicht so weit, vermutet der Soziologe. Jedenfalls halte der Gottesglaube „ein großes Resonanzversprechen“ bereit: Der Gottesdienst mit seiner gemeinschaftlichen und himmelwärts gerichteten Dimension gebe der Hoffnung Gestalt, dass jemand da ist, der uns hört - und vielleicht doch irgendwie reagiert. Für Hartmut Rosa stellt ein Kirchentag eine Resonanzoase dar. Immer dasselbe - und doch jedes Mal anders. Glauben als Prozess, als Kirchentagspilger wandernd mittendrin.
War ein Kirchentag politisch oder spirituell? Die einordnenden Floskeln sagen gar nichts. Denn Glauben ist immer politisch, heutzutage fast mehr als früher. Noch haben das nicht alle erkannt. Aber die Gesellschaft im Wandel wird es sehen und spüren - früher oder später. Der gefühlte Himmel ist offen. Er macht die Menschen weit, jedenfalls jene, die in der Bedrängnis der bloß begrenzten irdischen Zeit auf mehr hoffen als nur auf ein Meer des Nichts.