Am Ende von Giuseppe Verdis Oper „Nabucco“, die von der Geschichtsmächtigkeit des Gottes Israels und der Bekehrung des babylonischen Königs Nebukadnezar handelt, liegt die angebliche Königstochter Abigaille sterbend am Boden. Ihre letzte Rettung ist nicht der götzenhafte, in Trümmern liegende Baal-Kult, den sie zuvor angebetet und für ihren Machterhalt gebraucht hatte, sondern der Gott der Hebräer. Sie bittet Jehova, den Gott Israels, um Vergebung: „Ich flehe dich an und verehre dich, Gott. Lass mich nicht verdammt sein.“
In der derzeitigen Inszenierung des Bühnenwerks am Freiburger Theater wird die antike heidnische Gottheit Baal durch knochenartige Symbole bebildert, die in einem etwas erhöhten, tempelhaften Raum dargestellt sind. Als Abigaille letztlich - tödlich getroffen - den einen Gott um Gnade anbetet, zerbricht Baals Götzenbild. Der Gott beziehungsweise die Göttergruppen, die im Altertum als Baal - als Fruchtbarkeits- und Wettergott - verehrt wurden und mit Skulpturen und Götzenbildern abgebildet werden konnten, haben keinen Bestand - weder im Theater noch in der Menschheitsgeschichte.
Ist etwa der Gott, der als Ding darstellbar ist und manipuliert werden kann, wenig glaubwürdig, weil er wortwörtlich zerbrechen kann? Haben Gottesvorstellungen, die letztlich den Höchsten frei von Gegenständen - Skulpturen oder Bildern - denkbar machen, einen Vorteil? Gibt es zum Beispiel den Glauben an den Gott vom Sinai nur darum bis heute, weil er einzig in Wort und Schrift - also abstrakt - überliefert wurde? Es scheint jedenfalls, als sei der Gott, der einfach sein will und „Ich bin“ sagt, plausibler als das berühmte „Goldene Kalb“.
Unser Gott ist kein Ding. Der eine Gott der Juden, Christen und Muslime fordert, ja drängt den Menschen aus etwas ganz anderem zum Handeln, zur Kommunikation: durch Sprechen und Hören. Der Gott des Ersten und des Neuen Testaments - und auch der des Korans - ist ein erzählter Gott. Sein Medium kann nicht zerbrechen.
Trotzdem gibt es Erfahrungen, die zeigen, dass doch etwas kaputtgehen kann in der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Oder dass zumindest das Gefühl der Distanz eintritt. Geht Gott auf Abstand? Gehen Menschen auf Abstand zu ihm, obgleich sie ihn suchen? Die makedonische Literaturwissenschaftlerin und Lyrikerin Lidija Dimkovska hat diese Gottessuche eindringlich in Worte gebracht: „Warum habe ich heute … das Gefühl, dass Gott zuerst eine Vitaminspritze in die rechte Schulter braucht, damit ich mich auf ihn stützen kann? Aber wer soll sie ihm setzen? Und dass Jesus Christus nur mit einem guten Empfehlungsschreiben ein zweites Mal auf die Erde kommen wird. Aber wer soll es ihm schreiben? Und was, wenn er wirklich kommt?“ (aus dem Buch „1+1+1=1 - Trinität“, Edition Korrespondenzen, Wien 2011).
Taxifahrt und Hippie-Dasein
Lidija Dimkovska verzweifelt im Verlauf ihres Essays „Stay with me“ („Bleib bei mir“) geradezu am Nicht-Erscheinen Gottes. Dennoch spürt jeder Leser in der Weise, wie nach Gott gefragt wird, dass das eine Gefühl doch noch vorhanden ist, dass die Gottessuche auch bereits ein Credo - „Ich glaube“ - ist: Obgleich Gott abwesend scheint, ist er doch da, in der Welt, in Gedanken, Worten - und Werken. Vielleicht allein schon deshalb, weil er als ein Teil dieser Welt gedacht werden kann. Das ist der recht abstrakte Satz eines Gottesbeweises, ein philosophisch-theologischer Denkspruch. Die Literatur Lidija Dimkovskas sagt es bildhaft schöner: „Wie ich in einem New Yorker Taxi durch eine Glasscheibe vom Fahrer getrennt bin, so bin ich auch im Leben von Gott getrennt: Beide sind wir unberührbar, und trotzdem bewegen wir uns in dieselbe Richtung.“ Wenn das Gebet wirklich ein Gespräch mit Gott ist, „dann bin ich unkommunikativ geworden, asozial, ungesellig, zänkisch. Ich spreche so selten mit ihm, dabei hätte ich ihm so viel zu sagen. Und so viel, worum ich ihn bitten würde. Gott und ich schlafen tatsächlich schon seit Jahren in getrennten Betten. Manchmal vergesse ich, dass er überhaupt existiert, und wenn ich es schon vergesse, dann vergisst Er es höchstwahrscheinlich auch.“
Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, so die Schriftstellerin, habe jeder sich auf seine eigene Suche nach Gott begeben - im Esoterischen, in der Hippie-Bewegung, in astrologischen Vorstellungen oder in den angestammten Religionen. Und so habe zwar jeder eine andere Art und Weise, Gott auf die Spur zu kommen. Selten aber würde von einem Menschen ER ersehnt - danach gesucht, „wer ihn finden, ihn sehen, ihn berühren kann“. Blitzt in dieser Vermutung der Dichterin vielleicht doch die Sehnsucht auf, Gott möge gegenständlicher, dingfester sein - gar eine Art Skulptur? Auch auf die Gefahr hin, dass er dann zerbrechen kann? Vielleicht steckt in der Natur des Menschen etwas, das ihn drängt, in einen physischen, spürbar körperlichen Kontakt zu treten - zumal mit Gott.
Mit tausend Armen, Pferdekopf…
Auch die „Briefe an Poseidon“ (Suhrkamp, 2012) des niederländischen Schriftstellers Cees Nooteboom handeln von den Fragen, die in Verdis Oper oder in Lidija Dimkovskas Essay auftauchen. Nootebooms 23 Episteln an den griechischen Meeresgott sind Zeugnisse der nicht endenden menschlichen Neugier nach dem Schöpfer, des Ringens mit den Weltbewegern und Erderschütterern. „Manchmal blicken wir in einem Anflug von Heimweh auf eure Standbilder, die die Abbilder unseres Wunsches nach Macht und Unsterblichkeit sind, nach Schutz in den großen, leeren, bodenlosen Sälen des Universums.“
Nooteboom formuliert in seinen fiktiven Briefen mit großem Sprachwitz ein tiefes, ernstes Anliegen: Welchen Sinn hat es, zu glauben? Schließlich hätten die Menschen viele Jahrtausende hindurch „mitgespielt“: geopfert und gebetet, Fragen gestellt, ohne Antwort zu bekommen. Nooteboom an Poseidon: „Auf meinen Reisen bin ich zahllosen Formen des Göttlichen begegnet, den Göttern der Maya, der Azteken, der Dogon, der Hindus. Ich habe Götter gesehen mit tausend Armen, mit einem Pferdekopf, tanzende Götter, fliegende, tierförmige, ich habe dich gesehen mit deinem Dreizack, manche werden noch gefürchtet und angebetet, andere verkümmern in Büchern und Museen, sie können sich nur noch auf ihre Schönheit berufen, nicht mehr jedoch auf ihre Kraft.“ Was hat der Glaube für einen Sinn, wenn auch die Götter kommen und gehen?
Wann begann das Problem der Menschen mit ihren Göttern, wann kamen die Zweifel, will Nooteboom erfahren. War es etwa mit Sokrates, „der trotz seines Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele durch sein lautes Denken mit der Entzauberung der Welt begann“? Möglicherweise war es auch die Philosophie, die mit ihren vermeintlich logischen Beweisen göttliche Existenz leugnete. Schließlich die Frage Nootebooms an Poseidon: „Aber hast du auch von dem Gott gelesen, der euch verdrängt hat? Dem Einen Gott, der dann doch wieder nicht Ein genug war und in einem äußerst merkwürdigen Manöver drei wurde, von denen einer dreiunddreißig Jahre lang Mensch war und gleichzeitig Gott blieb?“ Wie das möglich sei, so habe schon der mittelalterliche Mystiker Heinrich Seuse gemeint, könne niemand mit Worten erklären.
Zu allen Zeiten hat man die Götter auch in der Verantwortung gesehen für irdische Schicksale. Immer wenn es Leid zu beklagen gab, richteten sich Fragen an die, von denen man glaubte, sie hätten Macht gehabt, es zu verhindern. Nooteboom schreibt an den griechischen Gott mit dem Dreizack: „Wo warst du im Jahre 338, als Philipp II. von Makedonien in Chaironeia die Athener und Thebaner schlug und damit das Ende ihrer Kultur einläutete? Ist das eine Eigentümlichkeit der Götter, dass sie sich ausschließlich in Formen der Fiktion manifestieren und sich dünnemachen, wenn es darauf ankommt? Vergeblich alle Gebete und Opfer? Chaironeia in Böotien, dort hättest du sein müssen.“
Der Sieg des makedonischen Königs Philipp II. (um 382-336 v. Chr.) sei freilich ein nahezu vergessenes Geschichtsereignis, das man lediglich noch in den Welthistorien nachlesen könne. Doch was hat sich seitdem verändert? Liest man die Geschichtsschreiber - so Nooteboom -, ist es, „als läse ich die Zeitung von heute, Truppenbewegungen, Gesandtschaften, Allianzen, Betrug, Schlachten, das alles hat nicht mehr aufgehört, sondern dauert bis zum heutigen Tag an, Syrien, Ägypten, Libyen … Auch jetzt gibt es keinen Gott, den das kümmert.“ Soll die Verneinung Gottes, der Nihilismus, das letzte logische Wort sein?
Nie geboren, aber erzählt
Immer wieder vergleicht der niederländische Autor die vielen Götter mit dem Einen. Der Gott, von dem er spreche, sei allzeit und überall. „Allzeit ist alle Zeit, und alle Zeit ist Ewigkeit, es sei denn, die Ewigkeit brauchte die Zeit vor oder nach der Welt nicht … Ihr seid zwar Götter, aber doch nur in einer Richtung ewig, sozusagen nach vorn. Schließlich wart ihr nicht immer da, der Gott, von dem ich spreche, dagegen schon. Nie geboren, das ist der Unterschied.“ In Nootebooms Botschaften klingen immer wieder die großen Fragen der Religions- und Kulturgeschichte an: Welcher Gott ist mächtig? Wie ist Gott? Rettet er oder lässt er das Verderben zu? In welchem Glauben lohnt es sich, zu leben?
Auch die vor 171 Jahren erstmals in der Mailänder Skala aufgeführte Oper „Nabucco“ handelt von diesem Problem. In Verdis Schauspiel wird die Frage vom Himmel und Erde beherrschenden Gott Israels mit Naturgewalt entschieden: Als König Nabucco im Größenwahn die Götter Babylons verhöhnt und auch den jüdischen Gott ächtet, um sich selbst als Gott zu proklamieren, trifft ihn ein Blitz. Erst als er in seiner Verzweiflung zum einen Gott betet, klart sein Geist auf.
Die Frage nach den Göttern der Mythologien ist entschieden. Ihre Götzenbilder sind gebrochen, durch ihre Tempel weht der Wind - „leere Hülsen aus Marmor“ sind sie. Die Frage nach dem Gott der Bibel ist - noch - nicht entschieden. „Unser Gott musste sich einen Sohn ausdenken, um uns etwas näher zu kommen, doch … ist das Rätsel, was Er oder Sie oder Es wirklich ist oder war, zu groß für unsere beschränkte Vorstellung“, meint Nooteboom. Die Hoffnung bleibt, dass SEIN Geist weht und gegenwärtig ist - an jedem Ort, zu jeder Zeit. An diesen Gott brauchen wir noch keine fiktiven Briefe zu schreiben: Besser wir erzählen weiter von ihm. Erzählen Ihn weiter.