Und anders erhebt die Wahrheit nicht Anspruch als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt.“ So heißt es im ersten Artikel der Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die innerkirchlichen Folgerungen aus dieser Aussage sowie aus der ganzen Erklärung wurden im Konzil jedoch nicht gezogen (vgl. CIG Nr. 28/2012, 317). Sie würden mit dem übereinstimmen, was Gott durch den Propheten Jeremia als einen „neuen Bund“ (Jer 31,31) mit seinem Volk ankündigt: „Das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließen werde, spricht der Herr: Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und werde es in ihr Herz schreiben. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Dann wird nicht mehr einer seinen Nächsten oder einer seinen Bruder belehren und sagen: Erkennt den Herrn! Denn sie alle werden mich erkennen, von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten, spricht der Herr“ (31,33f; vgl. auch 2 Kor 3,3).
Jeremia und das Gewissen
Zum Wesen des neuen Bundes gehört es demnach, dass die Menschen Gott und seinen Willen in ihrem eigenen Herzen erkennen können. Der Glaube muss ihnen nicht von außen durch menschliche Autoritäten vorgeschrieben werden und soll es auch nicht. Selbstverständlich sind eine Begegnung und Auseinandersetzung mit den Meinungen und Lehren anderer nötig, um die eigene Einsicht anzuregen und dann kritisch weiterzudenken. Auch das persönliche (Ur-)Gewissen, das nicht gleichzusetzen ist mit den konkreten Gewissensurteilen, muss geweckt werden. Es ist daher bei den meisten auf eine menschenwürdige Umgebung angewiesen, um das Gute erkennen zu können. Dennoch muss die letzte Norm in Glaubens- und Moralfragen das je eigene Gewissen sein, dem in Freiheit zu folgen ist, wozu sich auch die Kirche in den Artikeln 16 und 17 der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanums bekennt. Manche Menschen können über die Erfahrungen in ihrem Milieu noch hinauswachsen, indem sie - oft durch den Kontrast zu dem, was sie rundherum erleben - in ihrem vorrationalen moralischen Bewusstsein vom Menschsein spüren, was diesem besser entspricht.
Auch nach dem Neuen Testament können die Gläubigen durch das Wirken Gottes die Wahrheit des Glaubens selbst erkennen: „Für euch aber gilt: Die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr braucht euch von niemand belehren zu lassen“ (1 Joh 2,27). Auf diese Bibelstelle wird im Artikel 12 der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ des Konzils verwiesen, in dem vom Glaubenssinn des Gottesvolkes die Rede ist: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2,20.27), kann im Glauben nicht fehlgehen… Durch jenen Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt und erhalten wird, hängt das Volk Gottes unter der Leitung des heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft es nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wahrhaft das Wort Gottes empfängt (vgl. 1 Thess 2,13), dem einmal den Heiligen übergebenen Glauben (vgl. Jud 3) unwiderruflich an…“
Dieser Text sagt zunächst, dass die Gläubigen im gemeinsamen Glauben nicht fehlgehen können, fügt aber hinzu, dass dieser Glaubenssinn des Gottesvolkes unter der Leitung des Lehramts steht, dem er zu folgen hat, um wahrhaft das Wort Gottes zu empfangen. Damit wird das Lehramt zur maßgebenden Instanz erklärt und über den gemeinsamen Glaubenssinn gestellt. Das ergibt sich notwendig aus dem Anspruch der Träger des Lehramts, dass nur sie von Gott mit der Gabe der Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittenfragen ausgestattet sind. Daran hat auch das letzte Konzil im Artikel 25 der dogmatischen Konstitution über die Kirche festgehalten: „Diese Unfehlbarkeit aber, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Bestimmung einer Lehre über den Glauben oder die Sitten ausgestattet sehen wollte, reicht so weit, wie die Hinterlassenschaft der göttlichen Offenbarung reicht, die unantastbar bewahrt und getreulich ausgelegt werden muss. Dieser Unfehlbarkeit jedoch erfreut sich der Römische Bischof, das Haupt des Kollegiums der Bischöfe, kraft seines Amtes, wenn er als oberster Hirt und Lehrer aller Christgläubigen, der seine Brüder im Glauben stärkt (vgl. Lk 22,32), eine Lehre über den Glauben oder die Sitten in einem endgültigen Akt verkündet… Die der Kirche verheißene Unfehlbarkeit wohnt auch der Körperschaft der Bischöfe inne, wenn sie das oberste Lehramt zusammen mit dem Nachfolger des Petrus ausübt.“
Eine freiwillige Unterordnung des Gewissens und damit der eigenen Einsicht in Glaubens- und Sittenfragen unter das Lehramt wäre jedoch nur zu verantworten, wenn die einzelnen Gläubigen in ihrem je eigenen Gewissen unfehlbar erkennen könnten, dass das Lehramt unfehlbar sei. Damit wären sie der Verpflichtung enthoben, alle vom Papst und dem Bischofskollegium vorgegebenen Glaubens- und Sittenlehren nur bei eigener Gewissenseinsicht anzunehmen. Ihr Gewissen hätte lediglich die Aufgabe, auf eine vollständige Annahme der lehramtlichen Vorgaben zu achten. Die kirchliche Lehre sagt aber selbst, dass weder die einzelnen Gläubigen noch die einzelnen Bischöfe - mit Ausnahme des Bischofs von Rom, wenn er ex cathedra (wörtlich: „vom Lehrstuhl aus“; gemeint ist: kraft seiner amtlichen Lehrautorität unfehlbar ein Dogma verkündend) spricht - in Fragen des Glaubens und der Sitte unfehlbar sind. Schon aus diesem Grund könnten sie eine Unfehlbarkeit des Lehramts nicht unfehlbar erkennen. Ein Wirksamwerden dieser Unfehlbarkeit, selbst wenn es sie geben sollte, wäre also von vornherein ausgeschlossen.
Im Sinn des katholischen Dogmas müssten aber zumindest der Papst und das Bischofskollegium als Inhaber des Lehramts selbst die Unfehlbarkeit ihrer Lehre von der eigenen Unfehlbarkeit auf unfehlbare Weise erkennen, um auch nur versuchen zu können, die Gläubigen von dieser ihrer Unfehlbarkeit zu überzeugen. Doch weder der Papst allein noch das Kollegium der Bischöfe in seiner Gesamtheit haben in Glaubensfragen ein absolutes Erkenntnisvermögen, das fehlerfreie Einsichten garantieren könnte. Auch wenn sie sich bei der Ausübung ihres Amtes auf das verheißene Wirken des Geistes Gottes berufen, können sie nicht mit unfehlbarer Sicherheit sagen, dass sie etwaige Eingebungen dieses Geistes fehlerfrei verstanden hätten. Auch sie sind als Menschen begrenzte und geschichtlich bedingte Wesen, die in ihrem Gewissen keine göttliche Erkenntnisfähigkeit haben und daher weder bei sich noch bei anderen eine solche Unfehlbarkeit unfehlbar erkennen können. Daher können auch der Papst und das Bischofskollegium als menschliche Übermittler einer göttlichen Offenbarung und Träger des Lehramts nicht unfehlbar eine Unfehlbarkeit und Unveränderlichkeit ihrer Lehren vertreten.
Verheddert im Zirkelschluss
Auch eine nachträgliche „Vergöttlichung“ des endlichen menschlichen Geistes und speziell der Amtsträger (vgl. „Katechismus der Katholischen Kirche“, Nr. 460 und 1589) ist nicht möglich. Sie bliebe ein „übernatürlich“ aufgesetzter Fremdkörper. Selbst wenn der Mensch sich in Höhepunkten seines Lebens als grenzenlos erlebt, handelt es sich um eine erfüllte Endlichkeit und damit um Erfahrungen des Lebens als eines Geschenks und der Nähe Gottes. Diese sind für den Glauben sehr wichtig, sind aber keine Erfahrungen göttlicher Unendlichkeit und keine göttlichen Erkenntnisse. Schon Thomas von Aquin hat das Grundprinzip des Verstehens formuliert, das auch für die menschlichen Empfänger einer Offenbarung und der Gnade Gottes gilt: „Was empfangen wird, wird auf die Weise des Empfangenden empfangen, nicht auf die Weise dessen, was empfangen wird.“ Aus diesem Grund kann auch die Gewissheit im Glauben an Gott, also im Vertrauen auf ihn, nicht über jene in einem festen mitmenschlichen Vertrauen hinausgehen.
Wenn diese Überlegungen zutreffen, dann muss in der üblichen Begründung des Lehramts für seine eigene Unfehlbarkeit ein Fehler enthalten sein, der auch aufgezeigt werden kann: Das Lehramt beruft sich bei dem Versuch, die unfehlbare Wahrheit seiner Lehre von der eigenen Unfehlbarkeit nachzuweisen, wieder nur auf seine Überzeugung, dass diese Lehre der Offenbarung entspricht und daher unfehlbar wahr sei. In der Erklärung „Mysterium ecclesiae“ der Glaubenskongregation aus dem Jahr 1973 heißt es: „Die Erstreckung dieser Unfehlbarkeit auf die Hinterlassenschaft des Glaubens selbst aber ist eine Wahrheit, von der die Kirche schon von den Anfängen an für sicher hielt, dass sie in den Verheißungen Christi geoffenbart sei.“ Das ist ein unzulässiger Zirkelschluss, der das bereits voraussetzt, was er zu begründen vorgibt. Denn sowohl die Berechtigung dieser Rückführung der Unfehlbarkeit des Lehramts auf eine göttliche Offenbarung, als auch das richtige Verständnis derselben müssten selbst schon unfehlbar wahr sein, damit daraus diese Unfehlbarkeit unfehlbar abgeleitet werden könnte.
Wer hat das letzte Wort?
Auch Papst Pius IX. konnte nicht mit einem vom ihm selbst - wenn auch mit mehrheitlicher Zustimmung des Konzils - verkündeten Dogma einer Unfehlbarkeit des Papstes die unfehlbare Gültigkeit dieses Dogmas und weiterer von Päpsten gelehrter Dogmen sichern. Eine so zirkulär begründete Unfehlbarkeit wird vom Lehramt auf erkenntnistheoretisch ungenügende und logisch unzulässige Weise behauptet und kann von gewissenhaft und daher kritisch denkenden Gläubigen nicht angenommen werden. Sie entspricht gerade nicht der Vernunft, auf die sich das Lehramt in der Enzyklika „Glaube und Vernunft“ berufen wollte.
Ein Zirkelschluss liegt aber nicht nur der Begründung der Unfehlbarkeit des Dogmas der Unfehlbarkeit zugrunde, sondern auch dem Versuch, die absolute Wahrheit aller überlieferten Inhalte einer Offenbarung daraus abzuleiten, dass sich in ihr ein wahrhaftiger und allwissender Gott - in der Sicht des Christentums durch Jesus Christus als menschgewordenen Gott - mitgeteilt habe. Denn die Tatsache und die absolute Glaubwürdigkeit der geoffenbarten Inhalte und ihrer unverfälschten Weitergabe wurden schon im Ersten Vatikanum wieder damit begründet, dass es sich eben um eine Botschaft Gottes handle, „der weder sich täuschen noch (andere) täuschen kann“. Diesen logischen Fehler begeht nicht nur das Christentum, sondern ebenso das Judentum und der Islam, sofern sie die Wahrheit ihrer Lehren auf von Gott geoffenbarte Schriften zurückführen und deren Irrtumslosigkeit damit rechtfertigen wollen, dass es sich um Mitteilungen Gottes handelt. Ein solcher illegitimer Zirkelschluss ist die innerste Wurzel jedes religiösen Fundamentalismus, der diesem eine scheinbar unangreifbare, aber auf Selbsttäuschung beruhende Sicherheit verleiht.
Das Problem wird in der katholischen Kirche noch dadurch verschärft, dass zu ihrer als unfehlbar geltenden Lehre auch das Dogma vom Jurisdiktionsprimat des Papstes gehört. Dadurch wurde sein Recht, in allen Fragen, in denen er es für nötig hält, allein die letzte Entscheidung zu treffen, für unabänderlich und ewig gültig erklärt. Die kirchlichen Reformbewegungen sowie die Aufrufe zum Ungehorsam beachten nicht oder verdrängen die Tatsache, dass sie letztlich die unfehlbare Gültigkeit dieses Primats und damit eines Dogmas infrage stellen. Vor allem aber zeigen sie keine Alternative auf, die an die Stelle der jetzigen hierarchischen Kirchenstruktur treten könnte. Denn weder der Hinweis auf den Dialog, von dem im Zweiten Vatikanum die Rede ist, noch der Ruf nach synodalen Strukturen geben eine Antwort auf die Frage, von wem und wie die Entscheidungen getroffen werden: Wer hat das letzte Wort, wenn der Dialog nicht zur Übereinstimmung führt? Nach welchen Regeln soll in den Synoden, die dem Begriff nach nur „Zusammenkünfte“ sind, entschieden werden? Wer kann mitbestimmen, und wie kommt es zur Einigung? In Glaubens- und Gewissensfragen sind keine Entscheidungen durch Mehrheiten möglich. Sie führen nur zu Spaltungen.
Paulinisch kühn
Wenn das kirchliche Lehramt den Anspruch aufgäbe, absolut unfehlbare Wahrheit zu vertreten, würde das keineswegs bedeuten, in das andere Extrem eines Relativismus zu fallen, der die gleiche Gültigkeit aller und damit auch gegensätzlicher Meinungen behauptet. Allerdings käme es zu einer prinzipiellen Relativierung der kirchlichen Lehre. Auch diese ist von geschichtlichen Bedingungen abhängig und daher irrtumsanfällig und verbesserbar. Dazu schrieb der Theologe Karl Rahner (1904-1984): „Auch dogmatisch schlechthin verbindliche Wahrheiten“ können „amalgamiert“, also verschmolzen sein mit geschichtlich bedingten Elementen und Vorstellungen, die „sich später dann durchaus als nichtverbindlich oder sogar als falsch herausstellen“. Das gilt nach Rahner auch von dem Dogma des Ersten Vatikanums, dass „ein Dogma immer in dem ‚Sinn‘ weiter festgehalten werden müsse, den es bei seiner früheren Verkündigung gehabt hat“. Daher „wird man nicht daran zweifeln können, dass auch die Glaubens- und Dogmengeschichte der Kirche Veränderungen mit sich bringen wird, die wir uns heute noch kaum vorstellen können“ („Schriften zur Theologie“ 13). Rahner nahm sogar an, dass es in der Kirche möglich sein müsste, an die Zäsur beim Übergang des Christentums in die damalige heidnische Welt und damit auch vor die ersten Konzilien und ihre Dogmen zurückzugehen. Von da aus könnte die Kirche „mit einer paulinischen Kühnheit“ neue Inkulturationen des Christentums unter anderen Verstehensvoraussetzungen wagen („Schriften zur Theologie“ 14). Eine solche kritische Sicht des kirchlichen Lehramts und seiner Dogmen wirft allerdings die Frage auf, wie unter diesen Voraussetzungen ein gemeinsamer Glaubenssinn des Gottesvolkes zustande kommen kann.
Wenn der Glaube nicht durch ein unfehlbares Lehramt abgesichert werden kann, sind die Gläubigen - und damit auch die Träger des Lehramts - auf ihren Glaubenssinn angewiesen, der auf dem Gewissen beruht. Dieses ermöglicht ihnen, die Wahrheit einer Botschaft, die sich auf göttliche Sendung beruft, selbst zu erkennen und sie nach eigener Einsicht gläubig anzunehmen. Auch Jesus Christus mutete den Menschen, die ihm zuhörten, ihr eigenes Urteil zu: „Wer bereit ist, den Willen Gottes zu tun, wird erkennen, ob diese Lehre von Gott stammt oder ob ich in meinem eigenen Namen spreche“ (Joh 7,17).
Wer sich auf die von Jesus vorgelebte und verkündete Praxis von Gottes- und Nächstenliebe einzulassen bereit ist, wird Erfahrungen machen, die Jesu Botschaft und seinen Glauben an die Liebe Gottes als berechtigt erweisen. Das ist vorrangig in Gemeinden möglich, in denen Christen im Vertrauen auf Gott einander lieben und miteinander für andere da sind (vgl. Joh 13,34f). In ihnen können sie nach einem immer tieferen Verständnis ihres Glaubens und nach Antworten auf die Fragen ihrer jeweiligen Zeit suchen. Was sich nicht bewährt und damit nicht bewahrheitet, kann verbessert werden.
Der Glaubenssinn der Gläubigen ist daher in Glaubensfragen weder dem kirchlichen Lehramt untergeordnet noch bloß eine Alternative neben diesem, sondern selbst Erkenntnisquelle für die Träger des Lehramts, die freilich einen besonders guten Glaubenssinn haben sollten. Das Lehramt ist nicht die allein letztentscheidende Instanz, der nur zu gehorchen wäre. Es hat aber bei der Erarbeitung des kirchlichen Glaubensverständnisses die Aufgabe, den Prozess der Meinungsbildung zu koordinieren, indem es als Vermittler und Vertreter der nötigen Gemeinsamkeit wirkt. Das Ergebnis dieses Vorgangs müssen die Gläubigen zumindest in Form einer Rezeption, also durch eine anschließende Annahme, mittragen können.
Vielfalt und Einheit - wie?
Wenn die Christen in den Gemeinden, in den Ortskirchen und in der Weltkirche miteinander leben und wirken sollen, braucht es eine Übereinstimmung in den grundlegenden Überzeugungen. Diese kann nicht autoritativ von Amtsträgern hergestellt werden, die sich für unfehlbar halten und das Kirchenvolk mittels Katechismen oder kirchlicher Verlautbarungen belehren wollen. Der notwendige gemeinsame Glaubenssinn des Gottesvolkes kann aber auch nicht bloß in der in sich uneinheitlichen Summe oder im faktischen kleinsten gemeinsamen Nenner der Glaubensverständnisse aller Getauften bestehen.
Wegen der Anonymität in den meist unüberschaubar großen Pfarreien oder Pfarrverbänden, angesichts der auf der Basis von Säuglingstaufe und Firmung im Kindes- oder Jugendalter ungenügend geklärten Kirchenzugehörigkeit und in einer hierarchisch strukturierten Kirche, die nur vertikal von oben nach unten, aber nicht horizontal als Koinonia, als geschwisterliche Gemeinschaft unter der alleinigen Herrschaft Gottes (vgl. Mt 23,8f), gestaltet ist, können die Ansichten der Glaubenden kaum erhoben werden. Die Glaubensauffassungen wären oft unklar und untereinander widersprüchlich. Der Einwand jener Väter im Zweiten Vatikanischen Konzil, die eine kircheninterne Religionsfreiheit ablehnten, „weil dies die Einheit der Kirche bedrohe“ (nach Eberhard Schockenhoff in CIG Nr. 28/2012, S. 318), ist also durchaus zu beachten. Erst in einem gemeinsamen Ringen um eine Übereinstimmung in den Grundfragen des Glaubens kann es immer wieder zu der nötigen Einheit kommen; zugleich meistens zu einer größeren Annäherung an die Wahrheit, zu der grundsätzlich alle - auch die Kritiker - ihren Teil beitragen können.
Was gilt für alle?
Die notwendige gemeinsame geistige Grundlage einer Glaubensgemeinschaft ist vergleichbar mit den Voraussetzungen einer Demokratie, über die nicht - auch nicht durch qualifizierte Mehrheiten - abgestimmt werden kann. Minderheitenschutz, Anerkennung der Religionsfreiheit, Verpflichtung zur Vertragstreue und dergleichen können nicht zur freien Verfügung stehen. Es handelt sich dabei um moralische Werte, die den Verfassungen von Staaten und Staatengemeinschaften oder der Deklaration der Menschenrechte zugrunde liegen. Diese ist ein gutes Beispiel dafür, wie schwierig eine verbindliche gemeinsame Grundlage in den wesentlichen Normen menschlicher Gemeinschaft zu finden und in Kraft zu setzen ist.
Die Erklärung wird in der Präambel aus dem „Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau“ abgeleitet. Aber wie wird dieser Glaube begründet, etwa angesichts einer ideologischen Sicht der darwinistischen Evolutionslehre, die den Kampf ums Dasein und das Überleben des Fittesten durch Anpassung und Selektion vertritt? Und kann der grundlegende Glaube an die gleiche Würde der menschlichen Person bei allen Menschen vorausgesetzt werden? Diese können sich ja nicht selber ihre Würde verleihen. Sie muss ihnen vorgegeben sein und als solche von allen und für alle anerkannt werden.
Konnte die Generalversammlung der Vereinten Nationen die verpflichtende Gültigkeit der Menschenrechte für alle und für immer beschließen, und dies bei acht Enthaltungen? Gelten sie auch in jenen Ländern, deren Vertreter sie nicht angenommen haben? Müssten nicht die Menschen in den verschiedenen Nationen einzeln befragt werden und zustimmen, auch alle später Geborenen, etwa anlässlich der Volljährigkeitserklärung?
1990 verabschiedete die Organisation der Islamischen Konferenz die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“, die keine Gleichberechtigung von Männern und Frauen und kein Recht auf freie Wahl der Religion oder des Ehepartners garantiert. Welche Menschenrechte gelten nun in den islamischen Ländern und für Musliminnen und Muslime in den anderen Nationen? Außerdem wurde es unterlassen, ebenso deutlich die den einzelnen Menschenrechten entsprechenden Menschenpflichten zu formulieren, ohne deren Anerkennung und Einhaltung die Verwirklichung der Menschenrechte eine Utopie bleibt. Manche Rechte, wie der Anspruch jedes Menschen auf eine Lebenshaltung, die ihm und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden garantiert, sind in einer Weise definiert, dass ihre Verwirklichung eigentlich eine göttliche Allmacht bei den anderen voraussetzt. Mit der Notwendigkeit, sich mit der Endlichkeit und den Grenzen der Schöpfung zu versöhnen, die für Christen im Zeichen des Kreuzes steht, wird nicht gerechnet.
Nach diesem Blick auf vergleichbare Probleme in säkularen Institutionen stellen sich ähnliche Fragen auch für die Kirche: Wenn diese im Zeitalter der Religionskritik und aufgrund der Religionsfreiheit nicht mehr durch eine „heilige Herrschaft“ unfehlbarer Amtsträger von oben zusammengehalten werden kann, muss sie sich als eine Gemeinschaft mündiger Christen formieren, die zusammen ihren Glauben bedenken, um ihn miteinander leben und verkünden zu können.
Basisgemeinde Machstraße
Ein solcher Prozess ist höchst anspruchsvoll. Er erfordert so etwas wie eine „gemeinsame Unterscheidung der Geister“ (nach Karl Rahner, „Schriften zur Theologie“ Bd. 12, 191ff), also die Bildung eines gemeinsamen Gewissensurteils durch das eigene und gegenseitige Abklären und Hinterfragen der Überzeugungen der Einzelnen in der Bereitschaft, diese zu korrigieren. Mehrheitsentscheidungen sind dabei nur zulässig, wenn alle jedes mögliche Ergebnis der Abstimmung mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Die Beschlüsse werden eine möglichst große Bandbreite haben müssen, weshalb unterschiedliche Überzeugungen eventuell nur in verschiedenen, aber miteinander versöhnten Gemeinden oder Kirchen gelebt werden können. Ein frühes Beispiel dafür ist die - durchaus nicht konfliktfreie - Gemeinschaft von Judenchristen und Heidenchristen nach dem Apostelkonzil, das um das Jahr 49 stattfand.
Eine solche Erarbeitung des gemeinsamen Glaubenssinns ist ein spiritueller Vorgang, der ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen - beginnend mit einem Vertrauensvorschuss - voraussetzt und der von der Besinnung auf Gott, in dem die Gemeinschaft gründet, sowie vom Gebet getragen sein muss. In den Ordensgemeinschaften, besonders bei den Dominikanern, gibt es von Beginn an Elemente gemeinsamer Entscheidungsfindung, die auch heute als Vorbild dienen können; in den Klöstern etwa die Einberufung von „Kapiteln“, also Versammlungen der Ordensleute, die Organe kollegialer Leitung sind. Ignatius von Loyola und seine ersten sechs Gefährten stellten sich miteinander 1539 in einem mehrmonatigen geistlichen Entscheidungsprozess, den sie genau beschrieben, der Frage, ob sie sich einem Oberen unterordnen sollen. Dann aber beschlossen sie den Gehorsam.
In zwei Basisgemeinden mit insgesamt etwa 140 Erwachsenen, die sich in der Wiener „Pfarre Machstraße“ gebildet hatten, zeigte sich beispielhaft die Notwendigkeit, ein gemeinsames Selbstverständnis zu erarbeiten: als Grundlage für das Leben und Wirken der Gemeinden, für die Klärung der Zugehörigkeit zu ihnen und für ihre Verkündigung nach außen. Dazu wurde ein „Theologischer Kreis“ gebildet, der aus Vertretern der innergemeindlichen Runden bestand und immer in Rückkopplung mit diesen vorging. Dieser Prozess dauerte dreizehn Jahre. Das Ergebnis eines solchen Bemühens bleibt zweifellos weiterhin korrigierbar und verbesserbar. Denn auch eine Übereinstimmung der Gewissensurteile der Einzelnen bedeutet keine Unfehlbarkeit.
Wenn also an die Stelle einer bloß autoritativ verfügten Unterordnung des Glaubens unter hierarchische Amtsträger der Glaubenssinn des Gottesvolkes treten soll, dann verlangt dies von allen Beteiligten eine Anstrengung, die noch kaum vorstellbar ist und jedenfalls über die Anforderungen des hierarchischen Systems hinausgeht. Weil das gesamtkirchlich geschehen muss, ist eine Rückbindung der Gremien, also auch eines Konzils, an das Gottesvolk und damit an die Gemeinden nötig. Dabei ist es denkbar und auch zu hoffen, dass einzelne Gemeinden oder Ortskirchen im Erarbeiten dieses gemeinsamen Glaubenssinns eine Art Pionierarbeit leisten, deren Ergebnisse von anderen Gemeinden oder Gremien übernommen werden; ähnlich wie Ordensregeln oft in einer Gemeinschaft entstanden sind und dann von anderen angenommen wurden.
In solchen Prozessen braucht es auch eine geeignete Leitung. Sie hat aber nicht allein das letzte Wort, sondern ist Zeichen und Werkzeug der im Prozess der Meinungsbildung anzustrebenden Einmütigkeit. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen die leitenden Personen eine geistige wie geistliche Autorität haben, die alle anderen zu einer persönlichen Stellungnahme herausfordert, aber ohne sich über sie zu stellen und das Ergebnis festzulegen. Dadurch wird auch verhindert, dass sich Einzelne hinter einer Mehrheit verstecken und in Wirklichkeit die Verantwortung nicht mittragen. Das verlangt eine „operationale“, das heißt verfahrensbedingte Gleichrangigkeit zwischen der Leitungsperson einerseits und der übrigen Gemeinde oder den übrigen Angehörigen eines Gremiums andererseits.
Dieses interne Leitungsamt, das auch die Vorgesetzten in den Laienorden innehaben, ist nicht gleichzusetzen mit dem Bischofs- und dem Priesteramt. Die Aufgabe des Bischofs ist die Einbindung der Ortskirche in die Gesamtkirche, die des Priesters die Einbindung der Gemeinde in die Ortskirche. Dadurch wird die sichtbare und wirksame Rückbindung der ganzen Kirche an Jesus Christus vollzogen, allerdings nicht in einer Einbahnkommunikation. An die Stelle des Gehorsams gegenüber den Amtsträgern im jetzigen hierarchischen System tritt dann die Verbindlichkeit als freiwillig angenommene Verpflichtung zur Teilnahme an der Beschlussfassung und zum Einhalten der gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse.
Eine solche Form einer geschwisterlichen Kirche, die vom Glaubenssinn des Gottesvolkes getragen wird, ist derzeit noch eine Vision. Sie kann umso eher Wirklichkeit werden, je mehr Gemeinden sich bilden, in denen diese Gestalt von Kirche schon überzeugend gelebt wird. Denn sie sind die wichtigsten Orte des Glaubens: „Niemand hat Gott je geschaut; wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet“ (1 Joh 4,12).
Literatur:
Paul Weß: „Papstamt jenseits von Hierarchie und Demokratie. Ökumenische Suche nach einem bibelgemäßen Petrusdienst“ (Münster 2009); „Glaube aus Erfahrung und Deutung. Christliche Praxis statt Fundamentalismus“ (Salzburg 2010)