Mit dem Titel „Palazzo Enciclopedico“ („Palast des universalen Wissens“) hatte der amerikanische Künstler Maurino Auriti 1956 ein 700 Meter hohes Gebäude entworfen, in dem das gesamte Wissen der Welt gesammelt werden sollte. Die Nachricht, dass US-Geheimdienste Zugriff auf alle Internet-Kontakte haben und damit Bescheid wissen über jede Liebesmail, jeden heimlichen oder versehentlichen Besuch auf einer Pornoseite, ist allerdings unheimlicher als die Vorstellung vom Weltgericht im Hymnus „Dies Irae“, wo es heißt: „Und ein Buch wird aufgeschlagen, / treu ist darin eingetragen, / jede Schuld aus Erdentagen.“ An das Projekt Auritis von 1956 erinnerte der Kurator der 55. Biennale von Venedig, Massimiliano Gioni, mit dem gleichnamigen Titel der diesjährigen Weltkunstschau. An ihr nehmen erstmals auch die Bahamas, die Malediven und der Vatikan mit je eigenen Länderpavillons teil.
Bald nach der ersten Biennale 1895 brach die Revolution der modernen Kunst aus. Damals hörten Maler und Bildhauer damit auf, die Natur nachzuahmen. Farbe und Form sollten wie der Klang in der Musik unmittelbar auf die Seele wirken. Ein entscheidendes Ereignis war die erste Ausstellung von abstrakten Bildern der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ in München 1913. Paris, Amsterdam, Mailand und Moskau waren andere Stationen dieser weltverändernden Umwälzung. Sie fiel zusammen mit den bahnbrechenden Publikationen von Max Planck, Albert Einstein und Sigmund Freud und mit der entschiedenen Absage an die Moderne im katholischen Antimodernismus. Die politischen Revolutionen von 1917/18 folgten den geistigen. Hundert Jahre später traut sich der Vatikan zum ersten Mal auf ein internationales Kunstereignis, die 55. Biennale in Venedig. Ist der Vatikan ein Kleinstaat und Nachzügler der Moderne wie die Malediven?
Das System einander sich messender Kunstpavillons, in dem sich die - zunächst nur europäischen - Nationen in ihrer künstlerischen Produktion vergleichen sollten, wird seit Jahren überschritten, weil die nationale Kunst längst von der globalen überholt worden ist. Darum können heuer auch Frankreich und Deutschland ihre Pavillons tauschen und darin chinesische Künstler zeigen. Ein nationaler Pavillon des Heiligen Stuhls ist darum ein hoffnungsloser Nachzügler. Oder doch nicht?
„Kardinal Ravasi illustriert die Genesis“: Unter diesem Titel berichtet die Zeitschrift „Art“ (Juni) über den Pavillon des Vatikans, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu denen Argentiniens und der Vereinigten Arabischen Emirate befindet. Illustrieren war einmal die Aufgabe von Malern, Zeichnern Holzschneidern. Sie wird als Kunstgattung heute kaum mehr ernst genommen. Um so wichtiger ist sie im globalen Warenaustausch, weil sie allein in viele Sprachen schlecht übersetzte Gebrauchsanweisungen verständlich macht.
Der Kardinal als Illustrator ist eine journalistische Verkürzung, aber dennoch nicht ganz falsch. Denn viele Theologen verstehen sich immer noch als die eigentlichen Künstler, deren Gedanken von professionellen „nur noch“ ausgeführt werden müssen. Gianfranco Ravasi, der Kulturbeauftragte der Kurie seit 2007, hat aus seiner Arbeit an der Bibliotheca Ambrosiana in Mailand, wo er unter anderem die Zeichnungen Leonardo da Vincis betreuen durfte, eine große Achtung vor dem Metier und der Begabung des Künstlers. Aber er stellte den zeitgenössischen Künstlern ein Thema: „Schöpfung, Genesis 1-11“. Und das ist heute nicht mehr üblich.
Die Kulturjournalistin Kia Vahland hat es in der „Süddeutschen Zeitung“ negativ beurteilt: „Der Vatikan musste den Künstlern zeigen, wer der wahre Schöpfer ist.“ Den Beitrag von Lawrence Carroll im Vatikan-Pavillon nennt sie „recycelte, weiß bepinselte Matratzen“. Wer aber das Werk des in Melbourne 1954 geborenen, seit zehn Jahren in Venedig lebenden amerikanischen Künstlers von der Kasseler „Documenta 9“ oder von Ausstellungen in Hamburg, München, Mailand, Toulon oder Venedig her kennt, weiß, dass er häufig mit übermalten Gegenständen, die Spuren des Gebrauchs tragen, arbeitet. Seine Werke schreien nicht. Sie schweigen, sind beredt für jeden, der sich auf sie einlässt. Sie deuten stumm Leiden an und sprechen doch von Hoffnung auf Genesung, auf ein Heil. Carroll für einen kirchlichen Beitrag zur zeitgenössischen Kunst auszuwählen, zeugt von Kennerschaft, Urteilskraft.
Bisher wurde kirchliche Kunst auf der Biennale nur als Ort für den Auftritt der Zeitgenossen benützt. Der Versuch, der Kirche von heute wieder eine Stimme in der zeitgenössischen Kunst zu geben, ist deshalb aller Ehren wert. Der „Kunstpater“ Friedhelm Mennekes hat im Kölner „Domradio“ die Bemühungen Ravasis sehr freundlich beurteilt. Der Jesuit erinnerte daran, dass in Venedig „die ganze Stadt ein Nachschlagewerk“ sei. Ins Wasser gebaut, ist sie ein Ort, an dem sich die Eitelkeit, der Ehrgeiz und die Träume der Menschen wie nirgendwo sonst beweglich spiegeln.
Den Kunstpreis der Biennale, den goldenen Löwen, erhielt in diesem Jahr unter anderen der 1976 geborene, in Berlin lebende Künstler Tino Seghal. Er schafft Werke, die nur in der Erinnerung Spuren hinterlassen, weil jede fotografische oder akustische Dokumentation verboten, das Werk nur in der unmittelbaren Begegnung mit den tanzenden, summenden, singenden Akteuren zu erleben ist. Sie agieren nach einer Choreographie des Künstlers, häufig im Dunkeln. Anlässlich der „Documenta 13“, wo er eine seiner Installationen präsentierte, hatten wir auf Tino Seghal bereits hingewiesen (CIG Nr. 32/2012, S. 356).