Ehe und FamilieDie Ehe ist kein Allerlei

Trotz vieler Beziehungskrisen gibt es für den Menschen als Individuum und Gemeinschaftswesen nichts Besseres als: Ehe und Familie. Zur aktuellen Gesellschaftsdebatte über Beziehungsformen.

Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken“. So hieß eine Streitschrift, die der Publizist Henryk M. Broder 2006 vorgelegt hatte. Darin beschrieb er unter anderem die naive Multikulti-Gesinnung und Beschwichtigungsrhetorik westlicher Medien wie Meinungsmacher. Sie fordern viel Verständnis gegenüber Fremdem, beeindrucken damit jedoch keineswegs die Feinde der offenen Gesellschaft, unter anderem radikale Muslime. Die Gewalttäter verbergen in ihren Parallelgesellschaften unter dem Deckmantel freundlicher Worthülsen ihre wahren totalitären Absichten. Sie führen Bürger wie Behörden ständig an der Nase herum. Broder verlangt leidenschaftlich, die humanistischen Errungenschaften der eigenen Kultur nicht preiszugeben, den sozialen wie politischen und rechtlichen Fortschritt des demokratischen Gemeinwesens mit Vehemenz zu verteidigen, klar und deutlich Grenzen zu setzen, statt die eigenen Werte ständig zu verwässern und sich somit selbst zu demontieren.

Inzwischen ließe sich Broders Kritik auf einem weiteren kulturellen Feld fortschreiben: bei Ehe und Familie. Im Lauf der Menschheitsevolution haben diese über alle Zivilisationen hinweg verbreiteten biologisch-kulturellen Institutionen für Zusammenhalt und Fortpflanzung eine verbindliche Gestalt gewonnen. Die Monogamie ist für die gleichberechtigten personalen Beziehungswelten von heute die angemessene und fortschrittlichste „Erfindung“ des modernen Mensch schlechthin. Doch dieses Progressive wird zusehends infrage gestellt.

Die „Neue Zürcher Zeitung“ (25. Juni) beobachtet sogar einen „Generalangriff“ auf die Ehe, eine schwere Bedeutungsverschiebung und Einebnung dieser einzigartigen, unvergleichlichen verbindlichen Verbindung von Mann und Frau. Vor allem die Bewegung der „Freunde der Gleichstellung homosexueller Paare“ habe zuletzt ganze Arbeit geleistet, um die Ehe zu nivellieren und das Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten zu verwirren. Keine andere Lobbygruppe weltweit hat laut der renommierten Schweizer Publikation „ihre Agenda so zügig und umfassend umsetzen“ können. „In gut einem Jahrzehnt ist es Schwulen und Lesben gelungen, aus der ‚eingetragenen Partnerschaft‘ in vielen europäischen Ländern eine vollwertige Ehe zu machen.“ Überall sei deren Propaganda - zum Beispiel über einschlägige Filmfestivals oder Christopher-Street-Day-Paraden - durch die Medien intensiv, wohlwollend aufgenommen und unkritisch verbreitet worden.

„Hausfrauenehe“, „Herdprämie“

Entscheidend für die Aushöhlung der Ehe sei jedoch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gewesen. Die Gleichstellungsrichtlinien hätten die Richter so ausgelegt, dass die sexuelle Orientierung bei der Unterscheidung der Partnerschaften keine Rolle mehr spielen dürfe. Für nationale Rechtsprechungen sei nur noch wenig Raum geblieben. „Die meisten politischen Parteien - sofern sie es nicht schon getan hatten - verschoben daraufhin bereits ihre Definition von Ehe: Aus der … Ehe wurde die ‚auf Dauer angelegte Verantwortungsgemeinschaft‘. Die Fähigkeit zur Reproduktion spielte keine Rolle mehr.“ Anscheinend wagt fast niemand mehr, gegen den Zwang der politischen Korrektheit öffentlich darauf hinzuweisen, wer eigentlich für den biologischen wie sozialen Fortbestand des Menschengeschlechts sowie eines Staatswesens gesorgt hat und sorgt. Auch die christlichen Parteien haben sich - wie manche Kirchen - antiaufklärerisch blind den doktrinären juridischen und außerjuridischen Befehlsmustern „von oben“ gebeugt.

Die „Neue Zürcher Zeitung“ vermutet weitere Konsequenzen, die in einigen Parteien - etwa bei den Liberalen und in der Union - schon angedacht wurden: „Wenn Partnerschaft als bloßes verantwortliches ‚Beisammensein‘ gesehen wird, entfällt langfristig auch die Beschränkung auf zwei Partner, die ja der Zahl der Geschlechter entlehnt ist. Schon jetzt propagieren Piraten in Deutschland ‚Polyamory‘ als moderne Form der Partnerschaft. Setzt sich der juristische Rutschbahneffekt der letzten Jahre fort, so dürfte es schwerfallen, weiteren Partnerschaftsmodellen … ähnliche staatliche Anerkennung zu verweigern.“

Wo das Bild von Familie diffuser und völlig Verschiedenes zur Ehe umdefiniert wird, gerät auch die Familienpolitik in chao­tisches Fahrwasser. Die zentrale Stellung der gesellschaftlichen „Keimzelle“ ist schon relativiert, nicht zuletzt infolge beharrlicher sprachlicher Manipulationen, durch semantischen Betrug. So wird Treue als „bürgerliche Ehe“ denunziert, als „antiquiert“ und „überholt“ dargestellt. Starke partnerschaftliche Leistungen sind als „Hausfrauenehe“ gebrandmarkt. Das hohe Engagement fürs Kinderwohl durch Eigenerziehung wird anhaltend mit dem Unwort „Herdprämie“ verunglimpft. Verächtlichmachung und Herabsetzung der Ehe allenthalben. „Schon heute gilt Familienarbeit vielfach als minderwertige Haus-und-Herd-Sparte, während selbst stumpfeste Erwerbstätigkeit sinnstiftende Erfüllung verheißt. Die gesellschaftlichen Reparaturkosten versagender Familien trägt die Allgemeinheit.“ Falls die seelischen Störungen und Erkrankungen von Kindern aus kaputtgegangenen oder kaputtgemachten Ehen überhaupt noch zu heilen sind.

Kollektive Gehirnwäsche

Scharf rechnet die „Neue Zürcher Zeitung“ mit Gleichstellungsaktivisten ab. Zu ihrem „Erfolgsrezept“, das den Leuten Sinn und gesunden Menschenverstand raubt, gehöre es, „abweichende Standpunkte als anti-emanzipatorisch, reaktionär oder homophob umzudeuten und zu diskreditieren“. Wie weit der Ehrgeiz, aber auch Erfolg jener Ideologen reicht, habe sich neulich in einer Einladung der Kinderkommission des Bundestages gezeigt, in der es hieß: „Aber auch in Schulbüchern wird immer noch ein sehr traditionelles, heteronormatives Weltbild vermittelt.“ Bereits die Sprache verrät eine massive „Umprogrammierung der Gesellschaft“, des Bewusstseins. Dennoch sehnen sich die meisten jungen Leute aller Anti-Ehe-Propaganda und allen ehelichen Krisenerscheinungen zum Trotz nach nichts so sehr wie nach einem verlässlichen Partner, einer verlässlichen Partnerin, nach einer guten Ehe, nach Familie.

Wer steht diesen Leuten hilfreich, aufbauend bei? Wer widersetzt sich der subtilen kollektiven Gehirnwäsche, die gegen die Lust auf Ehe immunisieren will? Üblicherweise würde man es den Kirchen zutrauen. Doch diese haben massiv an Einfluss und geistiger Autorität eingebüßt, was mit der Erosion des Christlichen zusammenhängt, aber auch damit, dass manche Neo-Klerikalisierung und Neo-Dogmatisierung die religiösen Amtsträger dem Leben, wie es ist, entfremdet haben.

Andererseits scheinen die Christen selber manchen Zeittrends unkritisch zu erliegen. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ soeben eine Schrift veröffentlicht, die einiges an Resonanz gefunden hat, vorwiegend allerdings scharfe Kritik, erstaunlicherweise ausgerechnet in säkularen Medien. Der als „Orientierungshilfe“ gekennzeichnete 160-seitige Text versucht, ein Panorama der Situation und der Herausforderungen zu zeichnen: vom sexuellen Wandel, von den Veränderungen in den turbulenten Liebesbeziehungs-Welten über verfassungsrechtliche Grundlegungen, theologisch-biblische Begründungen bis zu den vielen Facetten der Familienpolitik wie Vereinbarkeit von Kindern, Erziehung und Beruf, häusliche Pflege, Migrationsfragen, finanzielle Verhältnisse, Erziehungseinrichtungen, Gewalt. Schlussendlich geht es darum, was die Glaubensgemeinschaften und ihre diakonisch-caritativen Einrichtungen tun können, um Familien zu unterstützen.

Evangelisch „ultrakatholisch“

Leider durchzieht das Dokument genau jene Nivellierungstendenz, die von der „Neuen Zürcher Zeitung“ gesamtgesellschaftlich ausgemacht wurde. Die Ehe erscheint paradoxerweise eher als Sonderfall denn als Normalfall. Kaum wird die Ehe erwähnt, wird im selben Satz und Atemzug stets sofort pedantisch auf einen „erweiterten Familienbegriff“ verwiesen und ein Lob der „alternativen Lebensformen“ gesungen, statt diese zu problematisieren.

Ein evangelischer Text sollte sich den neutestamentlichen Weisungen des Evangeliums verpflichtet fühlen, insbesondere dem hochschätzenden Eheverständnis, wie es in der Bergpredigt bezeugt ist. Das aber wird weggewischt, geradezu ignoriert. Befremdlich ist, dass die Autoren wider den klaren exegetischen Befund - in aneinandergereihter Verknüpfung und Vermengung völlig verschiedener Sachverhalte - behaupten: „Ein normatives Verständnis der Ehe als ‚göttliche Stiftung‘ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus der Schöpfungsordnung entsprechen nicht der Breite des biblischen Zeugnisses… In diesem Sinne ist die Ehe eine gute Gabe Gottes, die aber, wie das Neue Testament zeigt, nicht als einzige Lebensform gelten kann.“

Geradezu grotesk wird es, wenn die evangelische Kirche plötzlich ihre ureigene Identität, die in der Normativität der Bibel gründet, aufgibt und Zuflucht nimmt zu nachträglicher Deutung, die sie mit eigener Autorität über die Autorität der Heiligen Schrift hinaus und gegen diese auflädt. Das ist eigentlich ein methodisches Verfahren, das vom reformatorischen Glaubensverständnis strikt abgelehnt und klassisch-kontroverstheologisch dem katholischen Lehramtsverständnis immer wieder unterstellt, ihm als pure Willkür und reiner Dogmatismus vorgeworfen wurde. Genau derart in gewisser Weise „Ultrakatholisches“ - allerdings nicht „Urkatholisches“ - praktizieren hier plötzlich ganz unprotestantisch die protestantischen Textverfasser, wenn es etwa heißt: „Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familialen Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und damit Orientierung geben.“ Wenn es also nicht passt, passt auch das nicht, was Jesus sagt.

Wie zur Ehe befähigen?

Vergleichbar wird die Autorität von Artikel 6 des Grundgesetzes, der den besonderen Schutz von Ehe und Familie vorsieht und den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der elterlichen Ehe und ihrer Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder herausstellt, ausgehebelt. Die Verfasser insinuieren, dass diesem Grundgesetzartikel ein überholtes, antiquiertes Eheverständnis zugrunde liege, das dem Mann alle Rechte einräume, von der Frau jedoch die totale Unterordnung verlange. Im betreffenden Verfassungs-Abschnitt gebe es ein „Spannungsverhältnis“ zwischen dem besonderen Schutz von Ehe und Familie und der zugesicherten Gleichberechtigung der Frau. Gleichberechtigung wird also widersinnig ausgespielt gegen Eheschutz. Das deutsche Grundgesetz, das das freiheitlichste ist, das die Staatengemeinschaft des dritten Jahrtausends kennt, und das vielen Verfassungen neuer Staaten als Vorbild dient, gerät plötzlich in Verdacht, rückschrittlich, patriarchalisch, ja vorsintflutlich zu sein. Dabei handelt es sich bei dieser Unterstellung um ein pures Konstrukt, um mit einem Seitenhieb den hochrangigen Verfassungsschutz für die Ehe zu diffamieren und klammheimlich zu entsorgen.

Vollends unerträglich aber wird das Dokument, wenn im Kontext der Beschreibung historischer Entwicklungen der deutschen Familienpolitik das westliche „bürgerliche Familienmodell“ der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit abwertend karikiert wird. Ihm wird unterstellt, eigentlich nur deshalb funktioniert zu haben, weil ihm als „Negativfolie staatlicher Einflussnahme“ die „als kollektivistisch bezeichnete“ Sozial- und Familienpolitik der DDR vorgehalten worden sei. Nicht der SED-Familienkollektivismus und dessen schädliche Folgen zum Beispiel unter gewalttätigen jungen Leuten - bis hin zu den ostdeutschen Rechtsradikalen von heute - werden in diesen Ausführungen kritisch unter die Lupe genommen. Das Ziel ist einzig die Diskreditierung und vermeintliche Entlarvung der „bürgerlichen“ Ehe und Familie als ideologischen Reflex der Adenauer-Ära gegen die DDR. Geradezu beleidigend für die Mütter und Väter, die sich nach dem Krieg für den Wiederaufbau zerstörter Familienverhältnisse sowie das Kindeswohl aufopferten, ist es, wenn es heißt: „Die kollektive Sehnsucht nach Normalität und ‚heiler‘ Welt hat Mythen, Ideale und wirkmächtige Rollenbilder (zum Beispiel mit Blick auf die Mutterrolle und Mütterlichkeit) aufleben lassen, die schon damals nicht mehr in die prosperierende Industriegesellschaft passten.“

Und so weiter und so fort…

Diese ideologische Tendenz eines kirchlich autorisierten Dokuments mit christlichem Anspruch, sein nachlaufender Gehorsam, bar jeden Widerstands, vermutlich aus Angst, in den eigenen Reihen unbequem zu sein, mit anti-zeitgeistiger Gesellschaftskritik Anstoß zu erregen und Ärgernis zu geben, ist unfassbar, skandalös. Unbegreiflich, wie eine solche Schrift die sonst so vorbildlich kritischen wissenschaftlichen Standards und Instanzen der EKD passieren konnte. Nicht einmal der bedeutenden evangelischen Exegetenwelt scheint der Text zur Prüfung vorgelegt worden zu sein. Erst vereinzelt regt sich Widerspruch unter den Evangelischen selbst. In der Orientierung, die über weite Strecken eher einer Desorientierung gleicht, findet sich nichts Erhellendes, wie junge Leute von heute zur Ehe hin befähigt, ermutigt, gebildet werden könnten und welche entsprechenden erzieherischen Aufgaben und Pflichten Staat, Schule und Verbände hätten. Ebenso wenig ist Aufklärendes zu entdecken, wie der epidemieartigen Ausbreitung von Scheidungen entgegenzuwirken sei, wie Ehekonflikte durch Krisenarbeit bewältigt werden könnten. Überhaupt nicht analysiert wird, wie offenkundig schädlich sich der Stabilitätsverlust im Patchworkstrudel auf die Kinder auswirkt.

Treue? Ist nicht ernstgemeint

Sogar auf „Spiegel online“ wurde das Kirchendokument vernichtend beurteilt, voller Ironie. Unter der Überschrift „Scheidung leichtgemacht“ heißt es: „Das wichtigste Ergebnis vorneweg: Wer demnächst vor den Traualtar tritt, kann unbekümmert das Eheversprechen ablegen - auch wenn der Pastor sagt, es gelte ‚bis dass der Tod euch scheidet‘. Keine Sorge, das ist nicht länger wirklich ernstgemeint.“ Der EKD-Leitfaden sei nicht nur eine „Kapitulation vor dem Wertewandel“. Vielmehr handele es sich um einen spektakulären Versuch „der Verweltlichung von innen, wie ihn noch keine der großen Religionen unternommen hat“. Die evangelische Kirche wolle nicht mehr urteilen, nicht mehr ethische Leitlinien geben, sondern nur noch „verstehen“ im Sinne des „Fühl dich wohl!“. Das sei die „frohe Botschaft ihrer Vertreter. Alle sind ihr gleichermaßen lieb: das treusorgende Paar ebenso wie der Ehebrecher oder die Geschiedene, die fünf Kinder von vier Männern hat. Selbst der Talib kann in dieser Stuhlkreis-Theologie noch auf Aufnahme hoffen.“ Die evangelische Kirche ist laut „Spiegel“ „in der Selbstsäkularisierung schon weit vorangekommen“. Alles, was an biblischen Texten sperrig, streng, bevormundend wirke, habe sie so weit entschärft, „dass man sich von ihr heute völlig unbesorgt ein Kerzlein aufstecken lassen kann“.

Dagegen verlangt der Kolumnist Jan Fleischhauer, dass die Kirche Rat gibt und auf normative Ansprüche nicht verzichtet. „Wer für alles Verständnis zeigt, wird irgendwann sprachlos.“ Vor allem würden die Autoren kein Wort verlieren „über die Verantwortungslosigkeit, die junge Frauen in die Situation bringt, die in dem Leitfaden wortreich beklagt wird. Auch von den seelischen Kosten einer Scheidung für die Kinder ist mit Rücksicht auf die Geschiedenen nur am Rande die Rede.“

Die „Welt“ (19. Juni) kritisiert, dass die auf Dauer angelegte Zweisamkeit der Ehe „als ein zwar wünschenswertes, aber nicht leitendes Prinzip beschrieben wird“. Das Institut der Ehe löse sich „in ein diffuses Feld von vielfältigen Familienleben hinein auf, ohne dass noch recht ersichtlich würde, was das Besondere der Ehe sein könnte. Dass die Ehe von Martin Luther aus theologischen Gründen (!) nicht als Sakrament, sondern als ‚weltlich Ding‘ verstanden wurde, nimmt dieser Text zum Anlass, sich sehr weit von der reformatorischen Hochachtung vor dem Ehestand zu entfernen und diesen nur als eine nicht besonders herausgehobene Lebensform zu sehen, bei der die Kirche an die Paare bloß die ‚Ermutigung‘ zu richten hat, ‚in allen Veränderungen einen gemeinsamen Weg zu wagen‘. Dass dies aber ein wichtiger Anspruch ist, dass Scheidungen hingegen Unglück produzieren, dass es in neuen Verbindungen keineswegs besser werden muss - über all das liest man in diesem Text nichts.“

Kinderarmut - nicht nur Geld

Dagegen meint die „Süddeutsche Zeitung“ (20. Juni), dass der Text mutig sei, weil man aus ihm „das Tastende und Suchende herausliest“. Nicht mehr die Norm einer Beziehung werde betrachtet, sondern ihr existenzieller Gehalt: „Gehen Menschen dort fair miteinander um? Sorgen sie für Kinder und Alte? Teilen sie Familien- und Erwerbsarbeit?“

Die „Frankfurter Allgemeine“ (18. Juni) vermisst ein „Lob der Ehe“. Erstaunlich am EKD-Papier sei „sein laxer Umgang mit der Bibel“. Leider vertiefe sich damit auch „die Kluft zur Soziallehre der römisch-katholischen Kirche“.

Die linksliberale „Frankfurter Rundschau“, die sich sonst bei Fehlentwicklungen betont gesellschaftskritisch gibt, lässt in einer Kolumne durch die frühere taz-Chefredakteurin Bascha Mika scharfe Geschütze argumentationsfreier reiner Polemik gegen die Kritiker des EKD-Papiers auffahren: „Eigentlich sind die Zeiten vorbei, in denen die christlichen Kirchen Schrecken verbreiten konnten. Mittlerweile sind ihnen ja so überzeugende Instrumente wie Scheiterhaufen und Streckbett abhandengekommen. Trotzdem hat es die Evangelische Kirche in Deutschland geschafft, beachtliches Entsetzen auszulösen… Thema: Familie. Und so harmlos das klingt, hat die EKD damit wohl ein paar Türen aufgestoßen, hinter denen das Böse wartet. Wie sonst wohl sind die phobischen Reaktionen der Kritiker zu erklären? … Glückwunsch! Damit ist die evangelische Kirche im Hier und Jetzt eingetrudelt.“

Der liberale Berliner „Tagesspiegel“ bezieht die gegenteilige Position: Für die „Neuorientierung“ habe die Kirche viel Lob bekommen. „Zu Unrecht. Denn eine Kirche, die ihren normativen Anspruch an die Welt aufgibt, tut zwar keinem mehr weh. Aber sie hilft auch niemandem … Die evangelische Kirche verkennt in ihrer neuen Haltung den Wert von Normen. Normen existieren, weil Menschen ihrer bedürfen. Normen stellen Verlässlichkeit und Berechenbarkeit her, sie schaffen eine Normalität … Dass … die Kirche von ihren Gläubigen nicht mehr erwarten will, sich vor Gott und den Menschen zum Zusammenleben zu bekennen, ist verrückt … Eine Glaubensgemeinschaft …, die es nicht mehr wagt, von ihren Gläubigen etwas zu verlangen, verliert ihren Markenkern, sie gibt sich auf. Da, wo alles gut ist, ist am Ende nämlich alles egal.“

Vielleicht sollten die Kritischen und Nachdenklichen in Fragen ehelicher Wertebildung und Stabilisierung familiärer Beziehungen besser überhaupt nicht mehr auf die üblichen Ratgeber setzen und den kirchlichen Kompetenzteams nicht mehr allzu viel zutrauen. Anregung zur Gewissensbildung, Hilfe zur selbstkritischen Bewusstseins­änderung zugunsten von Ehe- und Familienwohl kommt inzwischen eher aus Bereichen, wo man es am wenigsten vermutet. In der „Zeit“ (20. Juni) erklärte der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger James Heckman: Es sei klar, alle Studien würden es belegen, dass Bildung und Intelligenz der Kinder mit guten, stabilen Familienverhältnissen zusammenhängen. „Intakte Familien investieren weit mehr in ihre Kinder als Familien Alleinerziehender beispielsweise. Die Schere kognitiver Stimulation hat sich zwischen den sozialen Gruppen in den letzten Jahren weiter und weiter geöffnet. Kinder, die in beschränkten Bedingungen aufwachsen, erfahren weniger Stimulation, weniger Gesundheitsvorsorge, weniger Zuwendung. Auch ist die elterliche Bindung ein mächtiger Indikator für Fertigkeiten, welche die Kinder später als Erwachsene haben, die Gesundheit eingeschlossen.“ Über den bloßen Intelligenzquotienten hinaus erheblich bedeutsamer sei jedoch, welche „weichen Fertigkeiten“ die Kinder erwerben würden, soziale Fähigkeiten wie Einfühlung, Neugierde, Konzentration, Gewissenhaftigkeit, Ausdauer, Verantwortungsbewusstsein. „Bindung und Verständnis sind viel wichtiger für die menschliche Entwicklung als Geld. Die Maßeinheit für Kinderarmut ist nicht Geld, sondern die Abwesenheit von Bindung, Verlässlichkeit, Aufsicht und emotionaler Unterstützung. Es ist verrückt, zu glauben, dass tausend Dollar mehr die Probleme der benachteiligten Kinder lösen könnten. Ich sehe hier Mütter in Chicago, die unter schwierigen Bedingungen ihren Kindern genau diese sozialen Fertigkeiten beibringen. Natürlich hilft Geld, aber die Familie macht den Unterschied. Erfolgreiche Familien bringen erfolgreiche Kinder hervor.“

Sind die als „bürgerlich“ diffamierte Ehe und Familie womöglich gar nicht so schlecht? Die menschliche Weisheit und Erfahrung lehrt: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Und es ist am besten, wenn Mann und Frau sich in partnerschaftlicher Ehe lebenslang einander treu verpflichten und wenn sie verantwortungsvoll in Liebe Kinder zeugen und aufziehen. Der Anspruch ist hoch, die Menschen werden vor ihm immer wieder versagen, sündigen. Dennoch gibt es nichts Besseres in guten wie in schlechten Tagen, Barmherzigkeit und Vergebung einbeschlossen. Denn an einem Punkt können auch noch so viele juridische Manipulationen und die Propaganda ständig nachgeplapperter Begriffsverdrehung nichts ändern: Einzig die Ehe ist Ehe, nichts sonst. Die Ehe ist kein Allerlei. Sie hat in allen Kulturen einen besonderen, hohen Anspruch und eine besondere, höchste Würde, was sich in den einzigartigen Festen der Eheschließung universal manifestiert. Die Ehe ist ein Geschenk der Schöpfung an den Homo sapiens sapiens, den weisen, weisen Menschen. Von Gott. Heilig. Und das ist auch gut so.

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