Menschen sind interessanter als Botschaften. Das haben die Medien soeben wieder einmal bewiesen. Zeitgleich zur Veröffentlichung des neuen päpstlichen Weltrundschreibens über das „Licht des Glaubens“ wurden die geplanten päpstlichen Heiligsprechungen bekanntgegeben. Über die Enzyklika fand man im schnellen Internet anfangs - und oft auch später - nichts. Dagegen, dass Johannes Paul II. zur Ehre der Altäre erhoben wird. Schon deutlich weiter unten rangierte, dass auch Johannes XXIII. diese Ehre widerfährt. Mit ihm verbinden allenfalls noch die über Siebzigjährigen eine persönliche Erfahrung.
Der neunzigseitige Text „Lumen Fidei“ war weitgehend schon von Benedikt XVI. abgeschlossen. Er sollte nach den beiden Schreiben über die theologischen Tugenden Liebe und Hoffnung den Dreiklang vollenden, im „Jahr des Glaubens“ erscheinen. Der Rücktritt verzögerte das Vorhaben. Der neue Papst hat am Entwurf anscheinend nichts Wesentliches geändert. Jedenfalls spiegelt das Schreiben ganz die Theologie und Haltung seines Vorgängers wider. Die Kommentatoren schließen daraus, dass der Nachfolger die Veröffentlichung nicht nur aus Ehrerbietung anordnete, sondern dass er die geistig-geistliche Kontinuität im obersten Leitungsamt der katholischen Kirche dokumentieren will. Der residierende Papst hat das Dokument schlicht mit „Franziskus“ unterschrieben.
Bereits in der Einleitung wird der auf Verteidigung zielende Grundton deutlich: Kritisiert wird das neuzeitliche Denken, das den Vorrang der aufklärerischen Vernunft gegenüber dem bloßen Glauben betone. Dieser werde in eine dunkle Ecke gedrängt, als „blindes Gefühl“ oder subjektiver Trost relativiert. Der Verfasser dreht den Spieß um: „Nach und nach hat sich … gezeigt, dass das Licht der eigenständigen Vernunft nicht imstande ist, genügend Klarheit über die Zukunft zu vermitteln; sie verbleibt schließlich in ihrem Dunkel.“ Beklagt wird, dass der Mensch auf die Suche nach dem „großen Licht“, nach der „großen Wahrheit“ verzichtet habe, „um sich mit kleinen Lichtern zu begnügen“.
Dagegen sei das „Licht des Glaubens“ fähig, „das gesamte Sein des Menschen zu erleuchten“. Das Glaubenslicht komme nicht nur aus der Vergangenheit, sondern „von der Zukunft“ her. Es eröffne „großartige Horizonte“, mache das Leben groß und erfülle es. Ein wenig versteckt werden jene Gläubigen in die Schranken gewiesen, die einem bloßen Glaubenstraditionalismus huldigen. Gegen diejenigen, die wie die Lefebvre-Leute behaupten, das Zweite Vatikanische Konzil sei nichts als eine pragmatische Pastoralversammlung gewesen, wird erklärt, dass es „ein Konzil über den Glauben war“.
Erinnerung an die Zukunft
In einem ungewöhnlichen persönlichen Einschub dankt Franziskus in „Ich“-Form Benedikt XVI.: „In der Brüderlichkeit in Christus übernehme ich seine wertvolle Arbeit und ergänze den Text durch einige weitere Beiträge.“
Das erste Kapitel umschreibt den Glauben als „Erinnerung an die Zukunft“. Die göttliche Treue und Verheißung, die dem Glauben vorausgehen, verbänden sich zum Beispiel bei Abraham recht diesseitig mit Fruchtbarkeit und Nachkommenschaft. Das Leben ist nicht nichts, es ist schön. Kein Zufall, sondern göttliches Geschenk, zu dem man dankbar Amen sagen soll.
An diese positive Sicht schließt sich jedoch sofort ein Klagelied über Götzendienst an. Der Mensch verliere seine Grundorientierung, gehe auf in der Ziellosigkeit des pur Gegenwärtigen. Er zerfalle in der „Vielfalt seiner Wünsche“, in die „tausend Augenblicke seiner Geschichte“.
Was ist Wahrheit?
Vom Alten Testament leitet der Text neutestamentlich über zu Christus als Mitte und Verbindlichkeit des göttlichen Handelns in der Welt, durch Heilstaten und Wohltaten. Der Vertrauensbeweis in den „einzigen“ Christus wird in die Nähe weltlicher Vertrauensbeweise gerückt: „Wir haben Vertrauen zu dem Architekten, der unser Haus baut, zu dem Apotheker, der uns das Medikament zur Heilung anbietet, zu dem Rechtsanwalt, der uns vor Gericht verteidigt. Wir brauchen auch einen, der glaubwürdig ist und kundig in den Dingen Gottes. Jesus, der Sohn Gottes, bietet sich als derjenige an, der uns Gott ‚erklärt‘“ - und das definitiv, endgültig.
Benedikts „evangelisches“ Verständnis der Rechtfertigung des sündigen Menschen allein durch Gnade, allein aus Glauben ließ ihn zu einem „lutherischen“ Papst werden. In der Enzyklika formuliert er erneut seine Abneigung gegen das vorwärtsdrängende, fortschrittliche „Machen“: „Was der heilige Paulus verwirft, ist die Haltung dessen, der sich durch sein eigenes Handeln selbst vor Gott rechtfertigen will.“ Der Mensch verwirkliche sich nicht selber, sondern von Christus her. „Die Gestalt Christi ist der Spiegel, in dem er die Verwirklichung des eigenen Bildes entdeckt.“ In dieser Christusbezogenheit bevorzugt der Verfasser das Bild vom „Leib Christi“, nicht das vom „Volk Gottes“.
Das zweite Kapitel verdeutlicht, wie sehr der Papst die weltliche Vernunft vom Glauben ableitet, ja diesem unterstellt. Der Glaube führe zur Wahrheit, nicht eine autonome Vernunft. Wieder einmal bekundet der emeritierte Papst seine Reserviertheit gegenüber den empirischen Naturwissenschaften: „In der gegenwärtigen Kultur neigt man oft dazu, als Wahrheit nur die der Technologie zu akzeptieren: Wahr ist, was der Mensch mit seiner Wissenschaft zu konstruieren und zu messen vermag - wahr, weil es funktioniert und so das Leben bequemer und müheloser macht. Dies scheint heute die einzige sichere Wahrheit zu sein… Die große Wahrheit, die Wahrheit, die das Ganze des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens erklärt, wird mit Argwohn betrachtet.“ So bleibe „nur ein Relativismus“. Einzig durch Glauben finde man zur wahren Erkenntnis - über die Liebe, die vom Glauben bewegt wird.
Zwar erwähnt der Autor in Anspielung auf die Enzyklika „Fides et ratio“ von Johannes Paul II., dass Glaube und Vernunft sich gegenseitig stärken, doch kommt der Rang des „Leitmediums“ in diesem „Dialog“ Ersterem zu: „Das Licht des Glaubens ist ein inkarniertes Licht, das von dem leuchtenden Leben Jesu ausgeht. Es erleuchtet auch die Materie, baut auf ihre Ordnung und erkennt, dass sich in ihr ein Weg der Harmonie und des immer umfassenderen Verstehens öffnet. So erwächst dem Blick der Wissenschaft ein Nutzen aus dem Glauben: Dieser lädt den Wissenschaftler ein, für die Wirklichkeit in all ihrem unerschöpflichen Reichtum offen zu bleiben.“ Der Glaube weite „die Horizonte der Vernunft“.
Tritt an die Stelle der Überheblichkeit der Vernunft wieder eine neu-alte Hybris des Glaubens? Es folgt eine Kritik der zeitgenössischen Theologie, die Mahnung, „dass in der Theologie nicht nur die Vernunft bemüht wird, um zu erforschen und zu erkennen wie in den experimentellen Wissenschaften… Der rechte Glaube richtet die Vernunft daraufhin aus, dass sie sich dem Licht öffnet, das von Gott kommt.“ Theologie müsse demütig sein. Sie habe das Lehramt des Papstes und der mit ihm verbundenen Bischöfe nicht als etwas zu betrachten, „das von außen kommt, als eine Grenze ihrer Freiheit, sondern im Gegenteil als eines ihrer inneren, konstitutiven Elemente, weil das Lehramt den Kontakt mit der ursprünglichen Quelle gewährleistet“.
Die Abhängigkeit des einzelnen „Ich“ vom „Wir“ der Kirche beschreibt das dritte Kapitel. Wie wir von den Ahnen unsere Sprache erlernen und weitergeben, sei es mit dem Glauben. „Die Kirche ist eine Mutter, die uns lehrt, die Sprache des Glaubens zu sprechen.“ Der Weg des Glaubens führt über die Sprache der Sakramente, Bekenntnis, Gebet, die Zehn Gebote. Der sogenannte Weltkatechismus wird als „Grundwerkzeug“ für die Einheit der Kirche und für die vollständige Übermittlung der „Unversehrtheit“ des „ganzen Inhalts des Glaubens“ genannt.
Wunder gibt es immer wieder?
Das vierte Kapitel, das stärker von Franziskus bearbeitet erscheint, erwähnt die ethischen Folgen des Glaubens, seine Bedeutung für die Stabilität von Ehe und Familie, für Fruchtbarkeit und Kindererziehung, für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit in der Gesellschaft, für die Ökologie, auch für Trost im Leiden.
Vor dem an Maria gerichteten Schluss ist ein hermetischer Appell an die Hoffnung eingefügt: „Lassen wir uns nicht die Hoffnung stehlen, lassen wir nicht zu, dass sie mit unmittelbaren Lösungen und Angeboten vereitelt wird, die uns unterwegs aufhalten und die Zeit ‚aufsplittern‘, indem sie diese in Raum umwandeln. Die Zeit steht immer über dem Raum. Der Raum lässt die Vorgänge erstarren, die Zeit hingegen führt sie in die Zukunft und drängt, voll Hoffnung voranzugehen.“
Die Enzyklika beschwört die Christen, zu bewahren und weiterzutragen, was sie selber empfangen haben. Auf die Kern-Glaubensprobleme der Vielen - auch der Getauften - geht das Dokument allerdings nicht ein. Den Argumenten des seriösen neuzeitlichen Atheismus weicht es aus. Die größte Schwierigkeit selbst der religiös Gutwilligen bereitet ja gerade die Frage, wo Gott war, als er nicht da war. Stärker als seine reale Anwesenheit erfahren die Menschen seine reale Abwesenheit. Niemand hat Gott je gesehen. Ist er womöglich doch Projektion, Konstrukt? Wo greift Gott - außer in der nachträglichen rhetorischen Deutung zugunsten psychologisch verständlicher Trostbedürfnisse - in den Gang von Universum und Geschichte ein, wenn doch alles strikt nach Naturgesetzen, nach Zufall und Notwendigkeit abläuft. Wunder gibt es immer wieder? Mehr noch die Anti-Wunder! Warum so viele entsetzliche Irrläufer der Evolution, nicht nur auf dem Weg zum Menschen? Warum überhaupt Evolution - und diese lange vor Christus? Sind die vielen abgestorbenen Religionen von einst und die mehrheitlich andersglaubenden Menschen von heute nur einem furchtbaren Irrtum aufgesessen?
Auch die Getauften fragen
Die Erkenntnisse über die „autonome“ Evolution der Arten, des Menschengeschlechts, der Materie, des Universums, von Raum und Zeit kommen nirgendwo in den Blick, geschweige denn die Fortschritte der Lebenswissenschaften, die Entdeckungen der Determiniertheiten des Gehirns, des Erbguts. Kein Wort zur befreiend-aufklärenden Entmythologisierung von Glauben wie Aberglauben, zu den historischen Umbrüchen und Brüchen in den Glaubens- und Gottesvorstellungen usw. Und was meinen jenseits von Magie und Naturalismus die Auferweckung Jesu Christi und die Auferstehung der Toten in einer Welt, die über das Jenseits nur spekulieren, davon aber nichts erfahren kann? Ganz ausgeklammert ist, dass sich die Glaubensentwicklung heutzutage - wenn überhaupt - individuell, subjektiv vollzieht und dass dieses Innovative keineswegs mit der Unterstellung von „Abfall“ oder „Zersplitterung“ richtig erfasst wird. Wie kann ein moderner Mensch im Horizont moderner Welterfahrung modern glauben, ohne den Glauben der Ahnen im eigenen Anders-Glauben über Bord zu werfen? Letzten Endes versucht das päpstliche Lehrschreiben mit Zitaten von „Klassikern“ seine Meinung zu belegen, statt einen offenen Dialog mit der Literatur, Philosophie, Kunst und Wissenschaft der Gegenwart zu suchen.
Apologetik und Appelle aber reichen nicht einmal mehr für die Glaubenstreuen. Angesichts der riesigen religiösen Herausforderungen ist die Enzyklika unzureichend, enttäuschend. Denn die kleinen Lichter der vielen Wahrheiten und die zahlreichen Irrlichter religiöser Erschütterung sind keineswegs so klein angesichts des großen, ebenfalls flackernden Lichts der ersten Sehnsucht und letzten Hoffnung. Man mag einwenden, dass Enzykliken nicht dafür geeignet sind, dieses Ganze zu thematisieren. Dann aber muss man eingestehen, dass sie ihre Bedeutung verloren haben, dass sie als Gattung überholt sind, wie ähnlich die vielen nichtssagenden Hirtenbriefe.
„Lumen Fidei“ ist das Testament einer großen Sorge des emeritierten Papstes, die er mit vielen Glaubenden teilt. Um den Christusglauben ins Gegenwarts-Bewusstsein zu bringen, braucht es allerdings kreativen, innovativen Mut, sich auf die tiefgreifenden sozialen, kulturellen, religiösen Transformationsprozesse einzulassen. Der Horizont der Glaubensnot ist der Horizont des Glaubens. Es gibt keinen anderen. Aber der Christusglaube kann gewinnen, wo er sich auf die Zweifel einlässt, unter Getauften ebenso wie unter Sympathisanten und Fernstehenden - allerdings nicht zu weit Fernstehenden - der Religion. Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht. Gerade im Glauben.