An Weihnachten geht es um Ostern. Geburt und Tod mögen aus menschlicher Sicht die beiden Extrempunkte bilden, zwischen denen sich unser ganzes Dasein in dieser Welt erstreckt. In den biblischen Erzählungen von der Geburt und dem Sterben Jesu geht es aber stets um die Erlösung des Menschen. „Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr“, verkündet der Engel im Lukas-evangelium (2,10f) den Hirten. Und bei Matthäus teilt der Engel Josef im Traum mit: „Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen“ (1,21).
Im Abendmahlssaal ist es dann Jesus selbst, der das zentrale Anliegen seiner Sendung ausspricht, als er den Jüngern den Kelch reicht: „Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28). Auch Lukas beschreibt die Szene, bleibt aber auch am Ende des irdischen Lebensweges Jesu bei dem für ihn typischen „Euch“: „Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“
Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und sein Tod am Kreuz als Hingabe für die Sündenverstrickungen der Menschheit und der „guten“ Schöpfung sind die zentrale und end-gültige Offenbarung, also Selbstmitteilung, Gottes. Deshalb hat sich jede Generation „aufs Neue der Frage zu stellen: ‚Wer ist dieser?‘ (Lk 7,49) beziehungsweise ‚Woher hat er das? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist?‘ (Mk 6,2)“, wie der Theologe Christoph J. Amor in der Zeitschrift „Theologie und Glaube“ (4/2013) anmerkt.
Wie ist aber ein Gottmensch zu denken? Vor allem: Wusste der irdische Jesus, dass er als Gott in seinem Leben und Sterben als Mensch die Sünden der Welt auf sich nimmt, um uns zu erlösen und um Unheil in Heil zu verwandeln? Man mag die Frage nach dem Wissen und Bewusstsein Jesu als rein spekulative theologische Spitzfindigkeit abtun und darauf bestehen, dass der auf dem Konzil von Chalkedon 451 gelehrte Glaubenssatz: Christus „ist wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch“ eben zu glauben sei. Aber „wer könnte Vertrauen in einen Retter haben, der sich selber nicht als solchen erkannte oder es nicht sein wollte?“, fragte bereits die Internationale Theologenkommission 1987. Obwohl hier der Kern christlichen Glaubens getroffen wird, sind in den letzten Jahren laut Amor „die Verlautbarungen des kirchlichen Lehramts und der akademischen Theologie zu diesem Themenkomplex spärlich geworden“.
Das neu-alte Kelchwort
Doch die sogenannte Pro-multis-Debatte könnte das Nachdenken über diese grundlegende Glaubensfrage neu entfachen. In einem Brief vom 14. April 2012 hatte der damalige Papst Benedikt XVI. von den deutschen Bischöfen verlangt, das Kelchwort bei der Wandlung der Gaben zu verändern (vgl. CIG Nr. 18/2012, S. 190). Bislang hieß es in der Eucharistiefeier: „Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ Künftig soll das lateinische „pro multis“ jedoch nicht mehr mit „für alle “, sondern mit „für viele“ übersetzt werden.
„Nur“ Israel oder alle?
Es waren zunächst vor allem Priester aus der täglichen Praxis, die sich kritisch mit der päpstlichen Entscheidung auseinandersetzten. Da die Neuübersetzung des Messbuchs anstand, hätte natürlich auch das Kelchwort geändert werden müssen. Doch die deutschsprachigen Bischöfe haben die erarbeitete Neufassung nicht genehmigt und das Projekt auf unbestimmte Zeit vertagt (vgl. CIG Nr. 41, S. 471). Das hat nun zu der kuriosen Situation geführt, dass im neuen Gesangbuch „Gotteslob“ das „Für viele“ im dort abgedruckten Zweiten Hochgebet zu finden ist, während der Priester weiter aus dem „alten“, nach wie vor geltenden Messbuch „für alle“ betet.
Ob Jesus als Erlöser angesichts der ganzen sündenverfallenen Menschheit sein Blut „für alle“ oder doch nur „für viele“ vergossen hat, wird auch in der wissenschaftlichen Theologie weiter diskutiert. In der „Theologisch-Praktischen Quartalschrift“ ist es zu einem Schlagabtausch zwischen dem Berliner Theologen Matthias Reményi und seinem Innsbrucker Kollegen Paul Weß gekommen.
Vereinfacht dargestellt, verteidigt Reményi die verbindliche und bindende Entscheidung des Papstes. Zunächst ist „für viele“ schlicht die korrekte wörtliche Übersetzung. Wie auch von Benedikt XVI. angemerkt, ist es außerdem unter Bibelwissenschaftlern zu einem Meinungsumschwung gekommen, was die Deutung des dritten Gottesknechtslieds im Buch Jesaja angeht, auf die sich Jesu Einsetzungsworte beziehen. Mit dem „mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht“ (53,11) seien nicht alle Völker gemeint. Die These, dass an alle Völker gedacht sei, hatte der Göttinger Neutestamentler Joachim Jeremias in den fünfziger Jahren aufgestellt. Sie galt lange als Konsens unter Bibelwissenschaftlern. Heute vertritt die Mehrheit jedoch die Meinung, dass mit den vielen, die der Gottesknecht gerecht macht - einmal ganz davon abgesehen, ob dieser ohne weiteres einfach mit Christus gleichgesetzt werden darf - „nur“ die Gesamtheit Israels gemeint ist. Unstrittig ist auch bei Benedikt und Reményi, dass „viele“ im Hebräischen nicht wie im Deutschen einen Gegenbegriff zu „alle“ darstellt, sondern immer eine Gesamtheit im Blick hat im Gegensatz zum ausgegrenzten Einzelnen. Jesus selbst wusste sich zu ganz Israel gesandt und wollte es retten.
„Nach Ostern allerdings wird dieser Bezug von den sich zur Heidenmission öffnenden Christen schon bald universal gedeutet: Der Auferstandene sitzt zur Rechten Gottes, er ist der Herr über alle Völker. Entsprechend kommt seinem Tod auch eine heilsuniversale Bedeutung zu“, erläutert Reményi die geschichtlich einsetzende Entwicklung ins Universale. Für ihn steht wie auch für den früheren Papst fest: „Es ist deshalb festes Dogma der Kirche, dass Jesus Christus für alle gestorben ist.“ Dass er dennoch auf der Übersetzung „für viele“ beim Kelchwort besteht, begründet Reményi wieder in Anlehnung an Benedikt XVI. damit, dass mit dem „Für alle“ der Eindruck eines Heilsautomatismus entstehe. Mit dem Tod Jesu seien aber nicht automatisch alle Menschen gerettet. Der Einzelne habe auch die Möglichkeit, sich der Einladung Gottes zu widersetzen, im Glauben an ihn das Heil zu erlangen.
Was wusste Jesus?
Doch der Innsbrucker Theologe Paul Weß bohrt tiefer: „Was wäre dann mit jenen, die Jesus und seiner Kirche nie begegnen konnten oder durch das Fehlverhalten von Christen eher vom Glauben abgehalten werden? Jesus ist als Zeuge für die Heilsunmittelbarkeit Gottes zu jedem Menschen gestorben und auferweckt worden, und nur unter dieser Voraussetzung kann gesagt werden, dass ‚der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, sich mit diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise zu verbinden‘, also nicht nur jenen, die einer glaubwürdigen Kirche begegnen und durch sie zum Heil finden.“ Mit diesem Verweis auf die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute betont Weß, dass Jesus für alle gestorben sein muss, und zwar unmittelbar, also ohne dass dafür das Wirken der Kirche notwendig ist. Denn „die Gemeinschaft der Gläubigen ist kein zweiter Heilsweg neben jenem, den Gott durch Christus für alle Menschen erschlossen hat, sondern nur dessen Zeichen und als solches auch Werkzeug, das aber nicht alle erreicht“.
Weß zeigt in und mit seinem Beitrag, dass nicht nur einzelne Lehrfragen gesondert behandelt werden können, sondern dass es grundsätzlich „nötig wäre, die dogmatische Lehre von Jesus Christus zu hinterfragen“. Wenn die Bibelwissenschaft recht einmütig das genannte Lied vom Gottesknecht bei Jesaja als Folie für Jesu eigenes Verständnis seiner Sendung zugunsten und ausschließlich für Israel beurteilt, dann hieße dies logischerweise auch, dass er selbst von seiner Sendung zu allen Völkern gar nichts wusste. Er wäre gewissermaßen in einem theologischen „Provinzialismus“ gefangen gewesen. Dies steht aber in eklatantem Widerspruch zum erklärten Glauben der Kirche, dass Jesus wahrhaft Gott ist. „Weil Christus in der Person des menschgewordenen Wortes mit der göttlichen Weisheit vereint war, wusste seine menschliche Erkenntnis voll und ganz um die ewigen Ratschlüsse, die zu enthüllen er gekommen war.“ Wenn er aber dem Katechismus zufolge dieses göttliche Geheimnis in sich trug, wie konnte er „dann im Abendmahlssaal nicht gewusst haben, dass er nicht nur zu den Vielen in Israel, sondern zu allen Menschen gesendet ist und seine Hingabe im Tod allen zugute kommt?“, fragt Weß.
Aus diesem Dilemma, dieser Paradoxie - und hier wird es wieder weihnachtlich - führt auch kein Verweis auf den Hymnus im Philipperbrief (2,6-8) heraus, wie er beispielsweise im Lied „Lobt Gott ihr Christen alle gleich“ vertont wurde: „Entäußert sich all seiner Gewalt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding.“ Weß zufolge kann man zwar Fähigkeiten ablegen, aber nicht die eigene Natur aufgeben. Jesus hätte zwar „sein Wissen für sich behalten können, aber er hätte sich aufgrund seiner Allwissenheit nicht selbst geirrt und keinen Irrtum vertreten“.
Wie schwierig diese Frage nach dem Gottmenschen, seinem Wissen und Bewusstsein ist, zeigt auch die Auseinandersetzung darüber in der englischsprachigen Theologie. Kritiker werfen der theologischen Lehre von der Menschwerdung Gottes vor, in sich widersprüchlich zu sein. Denn „als Gottmensch müsste Christus demnach zugleich unendlich und endlich, unwandelbar und wandelbar, allwissend und begrenzt in seinem Wissen, Schöpfer (beziehungsweise Schöpfungsmittler) und Geschöpf etc. sein“, fasst Christoph J. Amor die Situation zusammen. Bei seinem Überblick erwähnt er starke und schwache sogenannte kenotische Christologien, also Christusverständnisse, die ähnlich wie in früheren Sichtweisen der Tradition von einer Entäußerung (griech.: kenosis) Gottes ausgehen, wie sie der Philipper-Hymnus beschreibt. In der starken Form nehmen sie an, dass die göttlichen Eigenschaften bei der Menschwerdung abgelegt werden, die einer wahrhaft menschlichen Natur entgegenstehen. In der schwachen Form werden diese nur nicht eingesetzt, „ruhen“ sozusagen.
Dagegen ist es dem amerikanischen Philosophen und Religionswissenschaftler Thomas V. Morris zufolge „nicht wahr“, dass ein Mensch zwingend nicht ewig, nicht allmächtig sein müsse. Denn die Beschränkung der Menschen in ihrem Wissen und Wirken ist Folge ihrer Geschöpflichkeit, nicht aber ihres Menschseins. Um wesentlich Mensch zu werden, müsse Gott nicht die menschlichen Beschränkungen annehmen, sondern „nur“ einen menschlichen Körper und einen menschlichen Geist - nicht mehr, aber auch nicht weniger, so die recht spekulative Theorie. Nach Morris habe der Logos voll und ganz Mensch werden können, ohne deswegen bloß ein Mensch zu sein.
So wäre es denkbar, dass Allwissenheit und Allmacht trotz der Annahme der menschlichen Natur gedacht werden können. Eine solche Sicht des Gottmenschen ist aber nicht mit dem Neuen Testament vereinbar, das sehr wohl einen sich irrenden, sich menschlich entwickelnden Jesus kennt. Darüber hinaus kommt man bei der Betonung der Allwissenheit rasch zu der als Häresie verurteilten Meinung, dass Gott in Jesus nur einen Scheinleib angenommen hätte. Deshalb geht Morris in einem weiteren Schritt davon aus, dass Christus über einen ewigen und einen irdischen Geist verfügt habe, wobei der menschliche im göttlichen enthalten sei, aber nicht umgekehrt. Da Christus sich während seines irdischen Wirkens fast ausschließlich auf sein irdisches Vermögen beschränkt habe, werde auch die im Neuen Testament beschriebene intellektuelle und spirituelle Reifung Jesu durchaus denkbar. Um das Verhältnis von menschlichem und göttlichem Geist zu erläutern, zieht Morris einen Vergleich zu den verschiedenen Schichten des menschlichen Geistes: Das Unterbewusste verhalte sich zum Bewusstsein wie der göttliche Geist zum menschlichen im Gottmenschen.
Allerdings sind diese Vorstellungen auch angreifbar. Morris wird zum Beispiel vorgeworfen, durch die Rede von zwei minds - im Englischen ist das begrifflich ausdrückbar, im Deutschen müsste man hier von zwei „Geistern“ sprechen, was schon sprachlich auf eine gefährlich schiefe Bahn führt - Jesus zwei getrennte Selbstbewusstseine und folglich zwei Personen zuzuschreiben, fast schon eine Art „bipolare“ Daseinsweise. Eine ähnliche Position ist bereits 431 auf dem Konzil von Ephesus als sogenannter Nestorianismus verurteilt worden.
Viele Bilder, ein Geheimnis
Christoph J. Amors Überblick zeigt, dass wir bei den grundlegenden Glaubensfragen immer wieder an ähnliche Grenzen unseres Denkens stoßen. Wer sich aber dem Auftrag stellt, „jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt“ (1 Petr 3,15), kommt nicht umhin, im Horizont seiner Zeit, der gesellschaftlichen Bedingungen und angesichts des je aktuellen Standes wissenschaftlichen Forschens und Denkens den Glauben an einen menschgewordenen Gott als vernünftig aufzuweisen. Deshalb will sich Paul Weß auch nicht mit einem wörtlich korrekten, ungedeutet aus einer fremden Zeit und fremden gesellschaftlichen Situation übernommenen „Für viele“ abfinden. Denn „wir feiern das Abendmahl Jesu in einer Kirche, die das Heilsangebot Jesu universal versteht, die daher auch in ihrer Liturgie diese universale Offenheit zu beachten hat“.
Wenn wir unseren Glauben in Begriffe fassen, drücken wir immer nur mit begrenzten menschlichen Worten und Bildern etwas aus, das die menschliche Anschauungsmöglichkeit und Verstehenskraft immer schon übersteigt. Deshalb gilt, dass bei jeder Aussage über Gott immer angenommen werden muss, dass die Ähnlichkeit von einer größeren Unähnlichkeit übertroffen wird, wie es das vierte Laterankonzil 1215 lehrte.
Dafür ist die Vielfalt der neutestamentlichen Berichte von der Menschwerdung Gottes eine ideale Richtschnur. Vier Evangelisten versuchen auf ganz unterschiedliche, oft recht widersprüchliche Weise, in Worte und Bilder zu „fassen“, wie Gott sich selbst menschlich offenbarte. Neben der erbärmlichen Krippe, in der Gott als zerbrechliches Kind, von den Menschen ausgeschlossen, zur Welt kommt, ist es bei Johannes das Wort, das Fleisch wird, der Geist, der die ganze Welt durchdringt und neu macht. Markus setzt mit der Taufe Jesu im Jordan ein, bei der sich der Himmel öffnet und eine Stimme spricht: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden“ (1,11). Im Markusevangelium ereignet sich die Erkenntnis der Menschwerdung Gottes sozusagen im letzten Moment: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (15,39), bekennt der römische Hauptmann im Angesicht des Sterbenden am Kreuz.
Der Glaube an einen Gott, der sich selbst gibt, um Mensch und Schöpfung zu retten, befreit zur Wahrnehmung der Freiheit, die selber göttlich ins Werden von allem eingestiftet ist. Wer Gott, Mensch und Schöpfung dagegen auf die einmal gemachten Bilder verkürzt, und damit erstarren lässt, erschafft sich Götzen. Wo wir mit dynamischen Worten und Bildern bekennen, dass Gott sich immer neu in seiner Liebe den Menschen hier und jetzt zuwendet, wird die Nacht von Sünde und Tod zur Weih-nacht, zur geweihten heiligen Nacht, die ins Licht führt.