CIG: Herr Professor Mann, in Ihrem Buch „Das Versagen der Religion“ nehmen Sie die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam in den Blick. Worin besteht deren Versagen?
Mann: Diese drei Religionen haben ihre Geburtsstädte im Nahen Osten. Das ist ein entscheidendes Zeichen. Denn damit fußen alle drei auf der Gesellschaftsordnung der Zeit, in der sie gegründet wurden. Von dieser Ordnung kommt man sehr schnell auf die Hierarchie von Himmel und Erde, Hölle und Sternenzelt und einer Welt mit dem Menschen im Mittelpunkt. Und diesem Weltbild blieben alle drei Religionen verhaftet. Weder die Kopernikanische Wende, noch die Naturwissenschaft vermochte sie zu ergreifen.
Ostern in Belem
CIG: Insbesondere dem institutionalisierten Christentum stellen Sie ein äußerst schlechtes Zeugnis aus. Mit Ihrer Kritik schließen Sie sich an die Einlassungen zahlreicher katholischer Theologen an. Hubertus Mynarek, einst Dekan der katholischen Fakultät der Universität Wien, hält die Kirche für unreformierbar und dem Untergang geweiht. Käme mit einem solchen Ende der Institution Kirche auch das Ende des Christentums?
Mann: Es wäre bedauerlich, wenn das Ergebnis so aussähe. Denn die Grundschriften der verschiedenen Religionen, ob das die Bibel ist oder der Koran, enthalten viele Schätze, die, wenn man sie versteht und in die heutige Zeit übersetzt, sehr wesentlich sind. Ich halte die Kirchen durchaus für rettbar, wenn sie ihre hierarchische Struktur aufgeben, sich regionalisieren und vom Staat loslösen. Entscheidend ist, der Basis, den einzelnen Gemeinden mehr Raum zu lassen und die geistlichen Würdenträger nicht als Befehlshaber anzusehen, sondern als Vorbilder, als Ratgeber. Dann wäre die Freiheit für eine Weiterentwicklung gegeben. In der evangelischen Kirche ist das sicher leichter zu erreichen. Im Katholizismus hängt alles vom gegenwärtigen Papst ab. Er könnte Wunder wirken, wenn er will und sich nicht nur im sozialen Bereich hervortut, sondern auch theologische Reformen durchführt.
CIG: Seit dem 19. Jahrhundert steht die Frage der historischen Glaubwürdigkeit der biblischen Botschaft im Mittelpunkt kirchenkritischer Diskussionen. Der evangelische Theologe Gerd Lüdemann meint, die Hälfte der Theologieprofessoren würde nicht glauben, dass die Auferstehung tatsächlich stattgefunden habe. Denkt man an das Paulus-Wort von der Vergeblichkeit des Glaubens, wenn Christus nicht auferstanden sei, stellt sich die Frage: Wie tragfähig ist der kirchlich vermittelte Glaube noch?
Mann: Die Auferstehung wird in den Evangelien sehr plastisch beschrieben. Aus der damaligen Zeit heraus kann man gut verstehen, dass das eine Auferstehung im Sinne einer Überwindung des Todes war. Sein Leiden ist beendet. Er hat sich für uns geopfert. Das sind alles Metaphern für den einen Glauben. Ich habe im brasilianischen Belem am Äquator einmal die Ostergottesdienste erlebt. Am Karfreitag wird eine gipserne Jesus-Figur durch das Mittelschiff der Kirche getragen, und die Gläubigen weinen, wenn die Figur vorbeizieht. Im Ostergottesdienst steht diese Figur hinter dem Altar und wird mit einem Knall am Strick hochgezogen. Das ist die Auferstehung. Da muss ich an den Ausspruch von Carl Friedrich von Weizsäcker denken: Man könne die Bibel entweder ernst nehmen oder wörtlich. Nimmt man sie ernst, konzentriert man sich auf das, was innerlich gemeint ist: das freudige Erleben der Überwindung des Todes. Aus meiner Sicht gibt es für die Kirche kein großartigeres und wichtigeres Dogma als das vom Vierten Laterankonzil im 13. Jahrhundert. Auf ihm wurde ex cathedra festgestellt, je mehr man über Gott spreche, desto mehr entferne man sich von ihm.
CIG: Bereits in Ihrem Essay „Freie Sinnfindung durch Religion“ schrieben Sie von der Verkrustung des Religiösen. Sind alle Religionen gleichermaßen von solchen Erscheinungen der Verkrustung betroffen?
Mann: Sobald das unmittelbare Erleben einer kleinen Gruppe eine Institutionalisierung erfährt, gerät jede Religion in Gefahr zu verkrusten und zu erstarren. Dennoch bestehen Unterschiede zwischen den Religionen. Während die drei monotheistischen Religionen sich auf Propheten berufen, die verkündeten, was ihnen von außen gesagt wurde, ist etwa beim Buddhismus der Ansatz ein anderer. Da geht es nicht um Vorgaben oder Normen von außen, sondern darum, dass Menschen versucht haben zu erklären, was sie in ihrem Selbst tun können, wie sie zu sich und zu einem inneren Sinn gelangen können. Auch für diesen Weg bestehen klare Regeln. Da gibt es den achtfachen Pfad usw. Das ist alles auch etwas systematisiert. Aber ich würde nicht von Verkrustung sprechen. Der Mensch ist auf diesem Weg viel stärker bei sich.
Wenn Religion zu hoch hinaus will
CIG: Würden Sie sagen, dass die Verkrustungen in den monotheistischen Religionen bereits durch die Art der Offenbarung angelegt sind?
Mann: An der Grundbotschaft der Offenbarung muss sich nichts ändern. Aber wir Menschen sind angehalten, dafür auch etwas zu tun, nicht im Sinne von guten Werken, sondern im Sinne einer inneren Haltung, einer Öffnung. Ansätze dazu findet man bei den Jesuiten und in der Mystik. Man müsste das aber viel weiter ausbauen. Was nützt es, von außen her über Sinnfindung zu sprechen, wenn kein Selbst da ist, das als dispositionelle innere Instanz die Sinneserfahrung in eine Sinnerfahrung verwandelt? Dieses buddhistische Moment fehlt in den monotheistischen Religionen. Die Art, wie der Mensch die Glaubensinhalte verarbeitet, spielt in ihnen keine Rolle, selbst bei Luther nicht. Martin Luther schreibt von der Rechtfertigung durch den Glauben. Was Glaube aber heißt, darauf geht er nicht ein. Der Glaube wird als ein Ergebnis von Gnade dargestellt. Ein solcher Gnadenakt ist jedoch etwas Anderes als die Anstrengungen, die ein Mensch aufbringen muss, um zu einer Sinnfindung und Werteerfahrung zu kommen.
CIG: Buddhistische Ideen erfreuen sich gegenwärtig großer Beliebtheit. Könnten sich die monotheistischen Religionen unter dem Einfluss des Buddhismus erneuern?
Mann: Die fernöstlichen und die monotheistischen Religionen könnten viel voneinander lernen, wenn sie mehr aufeinander zugingen. Sie müssten erkennen, dass das alles nur Metaphern, nur Bilder sind und keine absoluten Wahrheiten, die man über andere Wahrheiten stellt. Jesus hat sich nur als Menschensohn bezeichnet, nie als Gottessohn. Dass die Menschen, die ihn damals erlebt haben, als man dieses Gottesbild hatte, von ihm so beeindruckt waren, dass sie ihm diese Gottessohnschaft zugesprochen haben, ist verständlich. Aber wenn man das heute als Gegebenheit hinnimmt, ohne zu sehen, wie es aus der Geschichte heraus entstanden ist, dann zeugt das von Erstarrung und Verkrustung. Wenn man dagegen die eigenen Erfahrungen als solche erkennt, fällt es leichter, im Dialog auf andere Geisteshaltungen zuzugehen.
CIG: Sie fordern eine Selbstzurücknahme…
Mann: Das wird sogar verkündet. Demut ist ein Grundwert im Christentum. Aber das sollte nicht nur Theorie bleiben. Es müsste praktisch umgesetzt werden im Sinne einer Öffnung auf andere Denkformen. Der Turmbau zu Babel ist durchaus ein Bild für eine Religion, die immer zu hoch hinaus will und ihr Dogmengebäude so hoch baut. Dass die Buddhisten ihre Heilslehre nicht als Religion bezeichnet haben möchten, hat eine Bedeutung. Es ist eine Gratwanderung zwischen Demut und Hochmut, Verblendung und Erleuchtung.
Alte Texte neu nehmen
CIG: Gelegentlich werden auch Hoffnungen geäußert, das Christentum ließe sich aus einem inzwischen erreichten institutionalisierten Zustand zurückführen in eine Art Urchristentum. Wie schätzen Sie eine solche Möglichkeit ein?
Mann: Das Rad der Geschichte kann man nicht zurückdrehen. Das war genau das Problem der Reformation. Sie versuchte eine Reduktion auf die Bibel. Aber da bleibt nicht viel übrig. Hinzu kommt, dass die evangelische Theologie des 20. Jahrhunderts auch noch die Bibel zerpflückt und aufgelöst hat. Am Ende ließ man zwei, drei Grundsätze gelten, das „Vaterunser“, die „Bergpredigt“. Alles Andere betrachtete man bereits als überlagert. Das ist eine Tragik. Es ist schwer, von einer Zukunft der Kirche zu reden, wenn sie Theologen hervorbringt, die selbstzerstörerisch auch noch den letzten Rest infrage stellen.
Wo liegt die Grenze zwischen der Offenbarung und dem, was darüber hinausgeht? Es ist ein willkürlicher Akt, alle Texte in gleicher Weise zu kanonisieren und gar nicht mehr zu unterscheiden, was wichtig ist und was nicht. Dennoch sehe ich die Chance, wieder zu einer parainstitutionellen Sinnfindung zu kommen, wenn Menschen sich zusammentun und sich in Kooperation mit nichtkirchlichen Sinnorientierungen wie der Ökologie, der Kunst oder der Kultur die alten Texte vornehmen.
CIG: Der katholische Theologe Gotthold Hasenhüttl, der aus der Kirche austrat, kritisierte, in der Institution Kirche gehe es nicht mehr um den Menschen, auch nicht um theologische Impulse, sondern nur noch um den Selbstzweck einer erstarrten fundamentalistisch orientierten Institution…
Mann: Leider ist das weitgehend so. Aber wenn man auf die Basis schaut und die vielen Menschen, die sich bemühen, ist das Bild nicht mehr ganz so düster. Versagen verstehe ich nicht in dem Sinne, dass jede Chance verspielt wurde, sondern im Sinne eines Nicht-gerecht-geworden-Seins. Damit verbindet sich für mich aber die Frage, was man tun könne, um das zu verbessern. Es kostet große Anstrengungen, eine Religion sich so entwickeln zu lassen, dass sie wieder glaubwürdig wird. Als ich das Buch schrieb, fragte ich mich auch, ob es sinnvoll sei, ein einsamer Rufer in der Wüste zu sein, oder ob ich mich doch einer Gemeinschaft anschließen sollte, um ein wenig Rückendeckung zu haben. Ich dachte sowohl an die Unitarier, von denen ich herkomme, als auch an die evangelisch-lutherische Kirche. Aber ich bin unentschlossen.
Lebensfrage Glaubensfrage
CIG: Die Unitarier und auch die Quäker verkörpern aufgrund ihrer humanitären Spannkraft geradezu die idealen Bedingungen einer zeitgemäßen Religion. Dennoch haben sie keine weite Verbreitung gefunden. Wie ist das zu erklären?
Mann: Zum einen liegt es daran, dass die Menschen zu sehr auf eine große, fest in sich geschlossene religiöse Botschaft fixiert sind. Zum anderen liegt es an den Gemeinschaften selbst, die etwas Geistumspannendes, Wichtiges sagen, aber nicht mehr. Das gilt vor allem für die Unitarier, die ziemlich kopflastig sind und viel reden und predigen. Die Quäker sind eher caritativ engagiert. Sie kommen ursprünglich von der Mystik, und das Meditative spielt bei ihnen eine große Rolle. Eine Weltkirche haben sie nicht geschaffen. Vielmehr bilden sie eine kleine stille Gemeinschaft und missionieren nicht. Auch wenn sie zahlenmäßig nicht groß sind, weiß man von den Quäkern mehr als von den Unitariern, die in der Überzahl sind. Die Unitarier kennt in der Tat niemand.
CIG: Auch in Ihrer Autobiografie „Achterbahn“ haben Sie sich mit der Thematik des Religiösen und der Bedeutung, die Sie der Religion für Ihr Leben beimessen, auseinandergesetzt. Wann begannen Sie, sich dem Wirken religiöser Werte in Ihrem Inneren bewusst zu werden?
Mann: Das nahm merkwürdigerweise seinen Anfang, als ich im Alter von acht Jahren Amerika verlassen musste und nach Europa entwurzelt wurde. Ich war unitarisch getauft. Aber ich wusste nicht, dass mein Großvater das für alle vier Enkel initiiert hatte. Wir haben nie darüber gesprochen. Von meinen Eltern wurde das gehandhabt, als handle es sich um eine bürgerliche Konvention, um zur Gesellschaft des Gastlandes zu gehören. Mich interessierte das überhaupt nicht. Erst in Europa fing ich an, selbstständig zu denken und zu beobachten.
Entscheidenden Einfluss hatte die katholische Hausangestellte meiner Schweizer Großeltern. Sie hatte ein Jesus-Bild in ihrem Zimmer hängen und ging jeden Sonntag in die Kirche. Ich fragte sie in der Küche darüber aus, und an einem Sonntag nahm sie mich mit in die Kirche. Der Gottesdienst faszinierte mich ungeheuer. Ein Jahr später zog ich mit meinen Eltern nach Österreich aufs Land. Das österreichische Landleben ist sehr katholisch. Da gehen am Sonntag alle in die Kirche. Also ging ich auch einmal hin. Dann sah ich bei einer Nachbarin die verstorbene Großmutter in einem Zimmer bei Kerzenschein und Blumen aufgebahrt. Das beeindruckte mich ungemein. In dieser Zeit sagte ich zum ersten Mal zu meiner Mutter, dass ich katholisch werden möchte. Nach zwei Jahren aber war die Idee schon wieder weg. Mit siebzehn Jahren kam der nächste Schub, der sich ebenfalls wieder verflüchtigte. Erst mit Anfang zwanzig vollzog ich den Schritt.
CIG: Jeder Glaube birgt für den Gläubigen ein Moment der Enttäuschung. Haben Sie jemals die Alternative Nichtgläubigkeit in Erwägung gezogen?
Mann: Bis vor zwölf Jahren, als ich anfing, mich an mein Theologiestudium zu erinnern, und ich auf einer religionsübergreifenden Ebene die Glaubensfrage noch einmal für mich aufrollte, sah ich mich als ungläubig. Ich ahnte zwar, dass es irgendwo noch eine Wichtigkeit gibt. Auch als Psychotherapeut habe ich auf Gebieten gearbeitet, auf denen oft die Grenzen der menschlichen Existenz erreicht wurden. Aber ich machte mir keine Gedanken darüber. Man erfährt als Ungläubiger keine Enttäuschung. Aber man erlebt eine Leere. Im Nachhinein tut es mir nicht leid, innerlich früh aus dem katholischen Bereich emigriert zu sein. Damals aber erlebte ich es als Enttäuschung. Zu schnell und zu unkritisch hatte ich diesen Glauben übernommen. Es gehört auch Disziplin dazu, sich mit dem, was man glauben will, auseinanderzusetzen, damit der Glaube wirklich solide ist.
Katholizismus
CIG: Würden Sie in der Rückschau Ihre Konversion zum Katholizismus und Ihre Hinwendung zur Psychiatrie als Schritte auf dem Weg zur Ergründung der menschlichen Seele betrachten?
Mann: Unbedingt. Es waren große Umwege. Erst bin ich in die katholische Kirche eingetreten, und schon im zweiten Studiensemester bin ich innerlich emigriert. Dann habe ich als Katholik eine Dissertation über Luther geschrieben. Ich habe der katholischen Kirche gegenüber ein etwas komisches Bild abgegeben. Aber das tat letztlich niemandem weh.
Was mir mehr zusetzt, ist, dass meine Frau, die aus der lutherisch-evangelischen Kirche kam, sich von mir anstoßen ließ, zum Katholizismus überzutreten, und zwar zu einem Zeitpunkt, als ich mich schon wieder aus dem katholischen Glauben gelöst und über Luther den gesamten christlichen Bereich verlassen hatte. Das blieb für uns lange Zeit eine gewisse Barriere. Ich habe sie meiner Selbstfindung geopfert. Das empfinde ich als sehr problematisch. Jetzt könnten wir wieder einen gemeinsamen Weg finden. Der war damals nicht gegeben.
CIG: „Betrachtungen eines Gläubigen“ lautet der Untertitel Ihres Buches. Worin besteht heute Ihr Glaube?
Mann: Zu einer Sinnfindung und Werteerfahrung zu kommen, die das Leben bereichern und lebenswert machen. Das ist mein Glaube. Dazu gehört die ständige Überwindung des Nichtselbst durch das Selbst, und dazu gehören Liebe, Licht und Leben, die zwischen den Quellen der Sinnfindung und dem Selbst stehen.
Fließendes Denken
CIG: Das wäre ein Glaube außerhalb der Kirchen…
Mann: Aber in den Fußstapfen der Tradition, wenn man etwa einzelne Vorbilder heranzieht wie Franz von Assisi oder Ignatius von Loyola und all die anderen Ordensgründer. Es existiert eine Fülle an Quellen, um sich den Möglichkeiten einer Sinnfindung zu stellen. Auch die betonte Ablehnung eines religiösen Glaubens, wie man das etwa bei Naturwissenschaftlern findet, ist ein Glaube. Richard Dawkins beschimpft in seinem Buch „Der Gotteswahn“ alles, was auch nur in den Verdacht von Religion kommt. Am Ende aber legt er ein Credo für das Leben ab. Das ist der beste Teil des Buches. Denn genau darum geht es.
CIG: „Die sich langsam vereinheitlichende Sicht auf die Welt durch die neueste Entwicklung der Naturwissenschaft wird die Unterschiede zwischen der östlichen und der westlichen Denkweise langfristig mehr und mehr einebnen“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Glauben Sie, dass die Naturwissenschaft eine Alternative zu den Religionen bilden kann?
Mann: Es geht darum, neue Anstöße zu geben für das, was verloren gegangen ist. Die klassische Physik wurde von der westlichen Gesellschaft bestimmt. Die Quantenphysik dagegen steht östlichen Denkweisen näher als westlichen. Das Fließende, das Denken in Möglichkeiten und Beziehungen entspricht mehr dem östlichen Denken. So kam mit der Quantenphysik ein neues Denken in die Physik, das Ansätze bietet, Geistes- und Naturwissenschaft miteinander zu verbinden. Die Sprachentwicklung ließ diese beiden Bereiche völlig auseinanderdriften. Mit der Quantenphysik aber ändert sich die Sprache der Physik. Damit ist die Chance gegeben, sich wieder geisteswissenschaftlichen Themen anzunähern.
Werner Heisenberg wusste nicht, welchen Stein er da ins Rollen brachte. Die Unschärferelation war doch eine rein physikalische Angelegenheit. Dass sie auf philosophischem Gebiet und in gesellschaftlichen Bereichen eine Revolution des Denkens hervorrufen würde, ahnte Heisenberg nicht.
CIG: Sie sprachen einmal von der Dreiheit Literatur, Religion und Musik, die Ihr Leben prägte. Welchen Anteil hat die Musik bei der Entfaltung Ihrer religiösen Kräfte?
Mann: Die Musik ist eindeutig meine stärkste Prägung. Sie war das, womit ich als Erstes in meinem Leben in Verbindung kam. Mein Vater war Musiker und übte jeden Tag. Dann fuhr er mit dem Auto über die Golden Gate nach San Francisco zum Orchester. Er nahm mich in die Kinderkonzerte mit. Zu Hause wurde Kammermusik gespielt. Und ich bekam Klavierunterricht. Darum ist Musik das, was mich im Hinblick auf Sinn- und Werteerfahrung am stärksten beschäftigte. Die Religion kam erst mit acht, neun Jahren. Und die Wissenschaft kam erst durch meine Heirat. Als ich innerlich aus der Kirche emigriert war und mich mit dem Buddhismus beschäftigte, kamen die Naturphilosophie und die Quantenmechanik.
CIG: Ihr Buch haben Sie dem 1999 von Daniel Barenboim und Edward Said in Weimar gegründeten West-Eastern Divan Orchestra gewidmet, das je zur Hälfte aus arabischen und israelischen Jungmusikern besteht. Können Werke und Werte der Kunst die verloren gegangenen Werte der Religion ersetzen?
Mann: Auch Musik kann eine Religion nicht ersetzen. Aber sie kann neue Wege zu einer Sinnfindung aufbieten. Dieses Orchester ist ein Weg. Es war immer gefährdet. In den ersten Jahren drohte es mehrfach auseinanderzubrechen. Sobald die Gespräche über die Musik hinausgingen, kam es zu Eklats. Mittlerweile konsolidierte es sich. Über das Medium der Musik lebt es vor, was die Religionen leisten sollten.
Wenn man vergleicht, wie die klassischen monotheistischen Religionen in diesem Konfliktherd miteinander umgehen und was diese jungen Musiker vollbringen, dann wird deutlich, dass die Religionen weit hinter dem zurückstehen, was man von ihnen erwartet. Hier findet ein eklatantes Versagen statt. Und das ist eine Einsicht, die mir nahelegt, Religion in Zusammenhang mit Natur, Kunst und Kultur zu sehen. Ich könnte mir vorstellen, dass Religion in der klassischen Definition aufgehoben wird in einem größeren Zusammenhang, ohne dass die Grundaussagen dadurch verloren gehen.
Professor Dr. Frido Mann, geboren 1940 im kalifornischen Exil als Sohn von Michael Mann, dem jüngsten Sohn von Thomas Mann. Er studierte Musik an der Züricher Musikhochschule. 1964-1969 Studium der katholischen Theologie in München; Doktorarbeit: „Das Abendmahl beim jungen Luther“. 1969 wissenschaftlicher Assistent von Karl Rahner in Münster. Gleichzeitig Psychologiestudium; als Klinischer Psychologe in Gütersloh; 1986 Professor für Psychologie. 2009 verließ er die katholische Kirche aus Protest gegen die Wiederaufnahme der vier exkommunizierten Bischöfe der traditionalistischen Pius-Bruderschaft durch den Papst. Neuere Veröffentlichungen: „Hexenkinder“ (Roman, 2000), „Nachthorn“ (Roman, 2002), „Babylon“ (Roman, 2007), „Achterbahn. Ein Lebensweg“ (Autobiografie, 2008) und „Das Versagen der Religion“ (2013).