Joachim FrankSo schwingt das Religiöse

Navid Kermanis Erinnerung an Vanillepudding und Heribert Prantls Mutter im Altenheim: Das aktuelle Buch von Joachim Frank sieht neben den Schwächen auch die einzigartigen Seiten der Kirche.

Er sieht aus wie der böse Zauberer in Tolkiens „Herr der Ringe“. Ein alter Mann, in dunkles Purpur gehüllt, auf dem Kopf eine Mitra, die Hand um den Stab gekrallt, als wolle er jeden Moment damit losschlagen, von hinten fotografiert vor einem bedrohlichen Gewitterhimmel. Das Titelbild des „Stern“ (Nr. 44 vom 24.10.) macht auf den ersten Blick klar, wovor sich Deutschland in Acht nehmen muss: „Die dunkle Macht“ lautet die Schlagzeile. Gemeint ist nicht die Mafia oder der Geheimdienst, sondern die katholische Kirche. Besondere Kennzeichen: „Verborgene Millionen, dicke Dienstwagen, keine Kontrolle“. Dem „obersten Bösewicht“ hat die Illustrierte zusätzlich eine eigene Geschichte gewidmet: „Tebartz-van Elst: So tickt der Skandal-Bischof“. In großen Zwischenüberschriften werden darin Ungeheuerlichkeiten aus seiner Jugend ausgebreitet, wie zum Beispiel diese: „Die Freunde spielen Fußball. Er wird Messdiener.“ Kein Wunder, wenn da etwas grundlegend schiefläuft…

Ohne die Vorgänge in Limburg beschönigen zu wollen, muss man feststellen, dass die Berichterstattung darüber mittlerweile ein Ausmaß angenommen hat, das an Hysterie grenzt. An die Stelle des Feindbilds der gierigen Banker und Manager sind die angeblich stinkreichen Bischöfe getreten, absolutistische Nichtsnutze, die sich noch dazu vom Staat aushalten lassen.

Diese Maßlosigkeit ruft selbst Journalisten auf den Plan, die Kirche zu verteidigen, die sich sonst nicht darum kümmern. So schreibt etwa Jens Jessen in der „Zeit“: „Was die Kirchen fürs Geld tun, im glanzlosen Normalfall der Caritas und Seelsorge, wurde eher nebenbei erwähnt. Und dass im Normalfall von gemästeten Geistlichen nichts zu sehen ist, im Gegenteil die Aufregung über den Limburger gar nicht verständlich wäre, wenn er den Normalfall markierte“, werde ebenfalls nicht bedacht. Jessen stellt in den Medien eine erschütternde „Unkenntnis - keineswegs nur gegenüber kirchlicher Tradition“, sondern auch gegenüber „christlicher Eigengesetzlichkeit überhaupt“ fest. Das reiche bis dahin, dass man der Kirche jegliche Berufung auf Gott und göttliches Recht abspreche und in ihr nur einen Verein wie jeden anderen sehen will, der sich gefälligst nach Vereinsrecht zu organisieren habe.

Wahrheit soll leuchten

Jessen hat recht: Die Kirche ist nicht (nur) von dieser Welt und darf es nach dem Willen Jesu auch nicht sein. „Woher nähmen die Bischöfe in Lateinamerika die Kraft, gegen Ausbeutung, Willkür und Elend zu protestieren, wenn sie an ‚weltliche Richter und Politiker‘ gebunden wären? Woher hätten sie den Mut zum Widerstand im Sozialismus gefunden, wenn sie den ‚weltlichen Gesetzen‘ hätten folgen müssen? Eine Kirche, die nur nachbuchstabiert, was in der Welt ohnehin gilt, wäre überflüssig, keine Hoffnung für die Bedrängten und vor allem eines nicht: christlich. Es ist nun einmal so, dass sich das Evangelium nicht bruchlos einfügt in die Gesetze einer herrschenden Ordnung, auch nicht in die der Demokratie.“

Daraus freilich darf man nicht den Umkehrschluss ziehen, wonach in der Kirche gewisse Kleriker ihre Träume von feudalen und absolutistischen Strukturen ausleben dürfen. Es ist keine Frage, dass sich Kirchenvertreter mit dem Hinweis auf „göttliches Recht“ auch immunisieren können gegen starke Argumente, berechtigte Kritik und dringende Reform-Anliegen, die ihnen unangemessen oder unbequem erscheinen.

Aber gerade Papst Franziskus ist der schärfste Kritiker von pompösem Gehabe, höfischem Getue und moralinsaurem Gerede in den eigenen Reihen. Die christliche Wahrheit soll von innen heraus leuchten - durch Herzenswärme, Bescheidenheit, Einsatzbereitschaft, Selbstlosigkeit und Verzicht und ein grundlegendes Wohlwollen gegenüber den Anderen, das auch jene miteinschließt, die die moralischen Vorgaben der Kirche missachten oder gar nicht an Gott glauben. Es ist eine eigenartige Ironie der Geschichte, dass der öffentliche Unmut gegen die Kirche gerade jetzt solche Ausmaße annimmt. Haben wirklich so viele Menschen schlechte Erfahrungen mit der Kirche gemacht? Kann beziehungsweise will man nicht mehr sehen, was aus religiöser Überzeugung im Dienst des Evangeliums Gutes geleistet wird? Oder ist es womöglich noch dramatischer: Kann man in der Kirche keinen glaubwürdigen Raum mehr erkennen, der eine Ahnung weckt vom ganz Anderen, von Gott? Was aber hätte die Kirche anderes anzubieten als eine glaubwürdige Sehnsucht nach dem Ewigen, dem Heiligen, erkennbar in Worten und Werken, im Beten und Denken?

„Wir brauchen keine neue Kirche, wir brauchen eine jüngere Kirche, und wir spüren, wie die Zeit uns davonläuft. Die Erneue­rung kann nur durch die Menschen in der Kirche kommen. Sie muss von uns kommen. Aber wir sollten von vorne anfangen. Die zentrale Frage nach Gott: Braucht der westliche Mensch Gott? Hat er ihn nicht schon verloren? Und: Braucht die Kirche Gott? Aber dann auch die Frage: Braucht der Mensch die Kirche?“ Diese Gedanken stammen von keinem Bischof, auch nicht von einem Theologen oder einem professionellen Kirchenbeobachter, sondern von dem Verleger Alfred Neven Du Mont. Er hat sie als Vorwort dem Interview-Buch „Wie kurieren wir die Kirche?“ von Joachim Frank vorangestellt.

Die arme Kirche reich

Joachim Frank war bis 2011 Chefredakteur der „Frankfurter Rundschau“. Er ist heute Chefkorrespondent der Du-Mont-Mediengruppe, zu der unter anderem der „Kölner Stadt-Anzeiger“ und die „Berliner Zeitung“ gehören, also ein Profi im Mediengeschäft. Das merkt man an der Art, wie er die Interviews führt ebenso wie an der Auswahl seiner Gesprächspartner: Mit dem Essener Bischof Franz-Josef Overbeck diskutiert er über die Situation der Priester, mit dem deutsch-iranischen Schriftsteller und Orientalisten Navid Kermani über Kirche und Kunst, mit dem Benediktiner Elmar Salmann über Spiritualität und Gebet. Doch Frank ist nicht nur Journalist, sondern auch Theologe, er war Priester, ausgebildet im römischen Collegium Germanicum, der Elitestätte für künftiges katholisches Führungspersonal in Deutschland. Daher hat sein Buch nicht nur eine theologische Tiefenschärfe, sondern spiegelt auch genaue Kenntnis des Kirchenapparats: Kirchenkrise und Gotteskrise hängen miteinander zusammen. Positiv gewendet: „Wir glauben mittels, dank und trotz der Kirche“, zitiert Frank am Ende den CIG-Autor Gotthard Fuchs und fügt hinzu: „Wenn dieses Buch die Gewichte ein wenig vom ‚trotz‘ zum ‚dank der Kirche‘ zu verlagern hilft, hat es seinen Zweck mehr als erfüllt.“

Verbunden sind die Interviews durch kleine einleitende Essays. Es geht dabei um die altbekannten und oft diskutierten Brennpunkte wie etwa die Frauenfrage, Sexualität, Jugend, Kunst und Politik. Weil die Fronten in manchen Bereichen zum Teil schon jahrzehntelang feststehen, erfährt man zwar inhaltlich nichts grundlegend Neues, aber - und das ist das Besondere - man bekommt einen Einblick, warum die Menschen sich mit widerständiger, frustrationsgeübter Hingabe trotzdem in der Kirche engagieren, was sie antreibt und religiös motiviert. Das Spektrum reicht von der Leiterin einer Notschlafstelle für Drogenabhängige in Köln bis zu Bischöfen in Deutschland und Brasilien.

Von nüchternem Realitätssinn und zupackender Kraft sind die Ausführungen der Missionsbenediktinerin und Ärztin Raphaela Händler zu Aids in Afrika. Selbstverständlich kläre sie Frauen und Männer über Kondome auf. Aber es sei ein Irrglaube, zu vermuten, dass in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft das Aids-Problem allein so zu bewältigen sei. Die Ordensschwester Mary Laurence Kappen erläutert die prekäre medizinische Versorgung in Indien, wo sich nur die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht - gegen Vorkasse - eine ärztliche Behandlung leisten können. Damit die Ordensleute ein Krankenhaus unterhalten können, das bedingungslos auch Arme aufnimmt, braucht es Verzicht, Opferbereitschaft. „‚Arme Kirche‘, das heißt für die vierzig Ordensschwestern im Krankenhaus, unter ihnen drei Ärztinnen, auf ein eigenes Einkommen zu verzichten. So finanzieren sie die Gehälter der zwanzig weiteren Ärzte und der Angestellten.“

Die so liebevoll zu mir waren

Schwester Jordana Kreibisch von den Vinzentinerinnen im badischen Heitersheim dagegen muss damit zurechtkommen, dass ihr Lebenswerk - von Ordensschwestern geführte Krankenhäuser - keine Zukunft mehr hat. „Ich sehe es inzwischen als natürlichen Vorgang an. Das ist unaufhaltsam. Und es hat auch überhaupt keinen Sinn mehr, um Nachwuchs zu werben. Ganz im Gegenteil: Wenn heute eine junge Frau käme und sich uns anschließen wollte - müsste man ihr nicht abraten, weil sie es allein unter so vielen alten Frauen allzu schwer hätte?“ Welcher Schmerz spricht aus diesen Zeilen - und welche Würde! „Wir haben das alles (gemeint ist der Dienst an den Kranken, d. Red.) aus religiöser Motivation getan. Aber offensichtlich geht es auch anders - aus Menschlichkeit eben.“

Braucht der westliche Mensch also überhaupt noch die Kirche? Hier tut ein Blick von außen, die Sicht eines aufgeklärten und frommen Moslem, gut. Das Interview, das Joachim Frank mit Navid Kermani führt, gehört zum Spannendsten. Kermani erinnert sich, wie er Ende der fünfziger Jahre in ein komplett christliches Umfeld hineingeworfen wurde. Sein Vater arbeitete nach Teheran in Köln als Arzt an einem katholischen Krankenhaus, und der Sohn kam jeden Tag vom Kindergarten herüber und erhielt dort von den Ordensschwestern eine Portion Vanillepudding. „Ich war drei oder vier Jahre alt, und so banal das heute anmuten mag, kindisch, für mich waren es dezidiert Christinnen, die so nett, so liebevoll zu mir waren … Die Gastfreundschaft, die Wärme, ja die Liebe, die wir von katholischen Christen in persönlichen Begegnungen erfuhren, haben bei mir zu einer lebenslangen Loyalität, einer tiefen Sympathie für das Christentum geführt. Hätte mir jemand die christliche Religion nur erklärt und gesagt, dass Nächstenliebe zu ihren Wesenselementen gehört, ohne dass ich das hätte erleben können - niemals hätte das diese lang wirkenden Folgen gehabt.“ Damit dürfte Kermani ähnlich denken wie der gegenwärtige Papst.

Kermani wirbt auch für das Würdevolle und Erhabene einer Religion, das sich im Ästhetischen und in der Kunst zeigen müsse. „Wer die Form vernachlässigt, nimmt den religiösen Kern nicht ernst … Ich bin mir jedenfalls sicher, dass der Verlust von Bindung an die Kirche als verfasste Gemeinschaft von Glaubenden … mit einer Preisgabe des Ästhetischen zusammenhängt. Viele Menschen gehen einfach nicht mehr gern zur Kirche, weil der Gottesdienst sie nicht anspricht, sie nicht bewegt, fasziniert oder auch erschüttert und verstört.“

Das gilt für die große Form ebenso wie für das persönliche Auftreten. Um es zu verdeutlichen, wählt Kermani einen Vergleich mit dem Theater. „Die Art, wie jemand sein ganzes Leben einer großen Sache weiht, nicht den eigenen Absichten folgt, sondern den inneren Formgesetzen einer Tonfolge, einer Rolle, eines Textes, so dass durch ihn hindurch eine andere Wirklichkeit sichtbar wird - das ist zweifellos eine Schwingung des Religiösen, die heute in den Kirchen und Moscheen kaum mehr oder gar nicht wahrnehmbar ist.“

Die Form und die Hingabe, die Herzlichkeit und die Bescheidenheit, der Realitätssinn und die Gottessehnsucht - das sind die Bausteine für die Erneuerung der Kirche. Sehr schön kristallisiert sich dies im Gespräch mit Heribert Prantl heraus. Der bekannte Leitartikler der „Süddeutschen Zeitung“, der in seinen Kommentaren gern biblische Bilder aufgreift und sie - bisweilen genial, bisweilen polemisch - ins Heute wendet, beklagt sich wortreich über die nichtssagenden Phrasen der Kirchenvertreter, die Einseitigkeit in ihrer Argumentation, die geistige Auszehrung und das mangelnde intellektuelle Niveau. Man gaukle Gewissheiten vor, die man nicht habe, und sei blind für die Ambivalenzen und Widersprüche des Lebens. Aber dann erlebe er Sonntag für Sonntag das höchste Maß an „leuchtender Glaubwürdigkeit“, wenn er in einem Münchner Altenheim mit seiner Mutter den Gottesdienst besucht. Die Pastoralassistentin kennt alle alten Leute persönlich und spricht sie mit Namen an: „Das ist der Leib Christi, Frau Prantl.“ Zudem hole sie als Zelebranten „die höchst klugen alten Priester, die gut vorbereitet sind und mit einer Wertschätzung zu der Handvoll Gläubigen sprechen, die das oft Lähmende und Bedrückende der Heimatmosphäre überwindet.“

Wie kurieren wir die Kirche? Vielleicht einfach dadurch, das wir als Christen unsere Aufgabe dort erfüllen, wo wir hingestellt sind. Nicht das Große hat Gott erwählt, sondern das Kleine, das mit Liebe gut Gemachte und als Geschenk des Glaubens Angenommene.

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