Die Armen und die Reform der Kirche seien die beiden Themen des Apostolischen Schreibens „Evangelii Gaudium“ („Freude des Evangeliums“), hieß es in den Medien. Entgegen dieser weitverbreiteten Deutung hat Papst Franziskus in seinem Lehrschreiben jedoch im Grunde nur ein Thema: die Befreiung des Menschen aus Strukturen, die ihn einengen, bevormunden, ausbeuten, ja sogar töten. Dass er die „Option für die Armen“, den vorrangigen Einsatz für die politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich Ausgeschlossenen, nennt und damit der in Lateinamerika entstandenen Befreiungstheologie die Wertschätzung entgegenbringt, die ihr eine bislang europäisch geprägte vatikanische Kirchenleitung verweigerte, ist nicht einfach seiner südamerikanischen Herkunft geschuldet. Eine arme Kirche für die Armen ist schlicht evangeliumsgemäß. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen“, singt Maria dem Lukasevangelium (1,52f) zufolge. Weil der Glaube an diesen menschgewordenen Gott und sein Reich, das hier beginnt, konkrete Folgen hat, lehnt sich der Papst gegen eine ökonomisch beherrschte Kultur auf, die den Menschen als „Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann“.
Da hierzulande größere Bevölkerungsschichten von den menschengemachten Wirtschaftsstrukturen profitieren als anderswo, regt sich bei uns gegen die Kapitalismuskritik des Papstes stärkerer Widerwille. Dass Franziskus I. „die Leugnung des Vorrangs des Menschen“ als die grundsätzliche Krise ausmacht, findet dafür bei der Kritik an den ebenso menschengemachten Kirchenstrukturen umso mehr Beifall. Der Papst will eine „dezentrale“ Kirche, in der die Bischöfe und besonders die Bischofskonferenzen mit ihrer eigenen, bisher von „Rom“ bestrittenen, lehramtlichen Autorität mit dem Volk Gottes vor Ort unter den jeweiligen kulturellen Bedingungen Glauben leben.
Eine „Kölner Kircheninitiative“ hat den päpstlichen Auftrag, „wagemutig und kreativ“ von den Synodalitätserfahrungen der Orthodoxen zu lernen und neue Ideen zu entwickeln, angenommen und umgesetzt. In einem Brief an den Papst schlagen sie vor, alle Gläubigen bei der 2014 anstehenden Wahl eines neuen Kölner Erzbischofs zu beteiligen. Auch das ist keine modernistische Neuerung. Während heute das Domkapitel aus einer vatikanischen Dreierliste wählt, wurde in den ersten Jahrhunderten derjenige zum Bischof gewählt, auf den sich „die übereinstimmende Mehrheit von Volk und Klerus gerichtet hat“, so Papst Leo der Große. Franziskus I. sieht den Menschen und Christen durchaus visionär, befreit aus wirtschaftlichen, politischen und kirchlichen Zwängen, mit einem aufgeklärten Glauben und Leben in Gemeinschaft als Mitte der Christusnachfolge.