"Wer ist Jorge Mario Bergoglio?“ Seit Papst Franziskus sein Amt vor einem halben Jahr angenommen hat, stellen sich Medien und Gläubige, Vertreter anderer Religionen und Konfessionen sowie Kirchenführer diese Frage. Für die einen passt der frühere Erzbischof von Buenos Aires weder in das Bild, das man sich dort von ihm gemacht hatte, noch allgemein in das eines Papstes. Überwiegt bei den einen ungläubiges Staunen, macht sich bei anderen Unbehagen breit. Angesichts ungewohnter Gesten, des unbefangenen Zugehens auf die Menschen und unkonventioneller Entscheidungen heißt es hinter vorgehaltener Hand manches Mal: Wer glaubt er denn, wer er ist?
Antonio Spadaro, Chefredakteur der italienischen Jesuitenzeitschrift „La Civiltà Cattolica“ hat mit dieser Frage sein Interview mit Franziskus I. eröffnet. „Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat.“ Die päpstliche Antwort klingt im ersten Moment in ihrer Demut nach den schon
oft gehörten Bescheidenheitsfloskeln, die meist dazu dienen, die Macht der Kirchenleitung zu verschleiern. Der Papsttitel „servus servorum“ („Diener der Diener“) ist da nur ein Beispiel, wie absolutistische Machtfülle in Fragen von Lehre und Kirchenrecht kleingeredet wird.
Dass Jorge Maria Bergoglio sehr deutlich eigene Fehler benennt und daraus auch als heute mächtigster Mann der katholischen Kirche Konsequenzen zieht, zeigt sich in dem Gespräch, das Spadaro stellvertretend für zwölf Kollegen der Jesuitenzeitschriften verschiedener Länder und zwei weitere Journalisten führte, mit denen er gemeinsam Fragen gesammelt hatte. „Mein Führungsstil als Jesuit hatte anfangs viele Mängel … Ich war erst 36 Jahre alt - eine Verrücktheit!“, erinnert Bergoglio sich an seine Zeit als Provinzial der argentinischen Jesuitenprovinz. Mit seinem autoritären Entscheidungsstil habe er sich den Ruf, ultrakonservativ zu sein, eingehandelt, obwohl er „nie einer von den ‚Rechten‘ gewesen“ sei. Als Erzbischof von Buenos Aires habe er sich deshalb alle vierzehn Tage mit den Weihbischöfen und mehrmals im Jahr mit dem Priesterrat getroffen, um nach offenen Diskussionen „die besten Entscheidungen zu fällen“. Aufgrund dieser Erfahrungen spricht sich der Papst für weniger starre Beratungen der Weltbischofssynoden aus. Das von ihm berufene Gremium von acht Kardinälen aus allen Erdteilen, das erstmals Anfang Oktober zusammentritt und ihn bei der Reform der vatikanischen Behörden beraten soll, sei keine einsame Entscheidung von ihm gewesen, sondern die Konsequenz der Beratung der Kardinäle vor der Papstwahl.
Unfehlbare Gläubige
Nach verschiedenen Affären und Skandalen um die sogenannte Vatikanbank, um vom Papstschreibtisch verschwundene Schriftstücke und angesichts der Frage, wer noch Zugang zum Papst hat und wer diesen kontrolliert, gab es vor allem bei den Kardinälen, die Bistümern vorstehen und nicht Teil der vatikanischen Verwaltung sind, Unmut. „Die römischen Dikasterien (Kongregationen, Räte und die anderen Ämter) stehen im Dienst des Papstes und der Bischöfe“, stellt der Papst nun fest. In deutlichen Worten beklagt er ein weit verbreitetes Denunziantentum: „Es ist eindrucksvoll, die Anklagen wegen Mangel an Rechtgläubigkeit, die in Rom eintreffen, zu sehen.“ Anstatt sich jedoch zu Zensurstellen zu entwickeln, sollte die Kurie die Bischöfe und die Bischofskonferenzen dabei unterstützen, ihre Fragen und Probleme vor Ort zu lösen. Dass diese Relativierung der vatikanischen Behörden dort sehr wohl verstanden wird, zeigt eine Äußerung von Erzbischof Gerhard Ludwig Müller. Der Präfekt der Glaubenskongregation betonte umgehend, dass die Bischofskonferenzen keine dritte Instanz zwischen Papst und Bischöfen seien und dass hier keine Kompetenzen „föderalistisch“ aus der Zentrale abgegeben worden seien. Aus dem Papstinterview geht jedoch eindeutig hervor, dass Franziskus I. auf die Vielfalt und Eigenständigkeit der Ortskirchen setzt und die Konferenzen auf Länderebene als Beratungsgremien aufwerten will. Der Kurie bleibt eine vermittelnde, dienende Rolle.
Für gemeinschaftliche Beratungen sind die orthodoxen Kirchen für den Papst vorbildhaft: „Von ihnen kann man noch mehr den Sinn der bischöflichen Kollegialität und die Tradition der Synodalität lernen.“ Dieser Wunsch nach gemeinschaftlichem Entscheiden gerade auf den „unteren“ Ebenen entspringt seinem bevorzugten Bild von Kirche als dem Volk Gottes, welches das Zweite Vatikanische Konzil geprägt hatte. „Das Ganze der Gläubigen ist unfehlbar im Glauben. Es zeigt diese Unfehlbarkeit im Glauben durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes Gottes auf dem Weg.“ Damit will Franziskus I. keinem Populismus das Wort reden. Doch nach Jahren, in denen unterschiedliche Meinungen gleich als Relativismus verdammt wurden, macht der Papst deutlich, dass er die Zukunft nicht in einer „kleinen Kapelle“ Ausgewählter sieht, sondern in einer dynamischen, nach außen auf die Menschen zugehenden Kirche. „Wir dürfen die Universalkirche nicht auf ein schützendes Nest unserer Mittelmäßigkeit reduzieren.“
Offene Kirchentüren reichen Franziskus nicht. Als barmherzige Mutter und als Hirtin müsse die Kirche auch zu denen gehen, „die nicht zu ihr kommen, die ganz weggegangen oder die gleichgültig sind“. Wer aber die Wunden der Menschen heilen und ihre Herzen erwärmen will, darf weder rigoristisch auf die buchstabengetreue Einhaltung moralischer Vorschriften pochen noch in eine laxe Gleichgültigkeit verfallen. „Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen, mit homosexuellen Ehen, mit Verhütungsmethoden. Das geht nicht“, ist sich der Papst sicher, ohne die moralischen Ansichten über Gut und Böse aufzugeben. Man müsse sich jedoch auf das Wesentliche konzentrieren. „Die wichtigste Sache ist aber die erste Botschaft: ‚Jesus Christus hat dich gerettet‘.“
Der medial verbreitete Eindruck, mit Papst Franziskus habe sich in Glaube und Moral vieles geändert, ist falsch. Auch er löst das Problem nicht, wie amtliche Lehre und das reale Leben der Menschen besser zusammenfinden können oder wie sich das Lehrgebäude angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse historisch weiterentwickeln muss. Gerade auch bei der Frage nach der Rolle der Frau in der Kirche ist er konventionellen, ja traditionalistischen Vorstellungen verhaftet: „Ich fürchte mich aber vor einem ‚Machismo im Rock‘, denn Frauen sind anders strukturiert als Männer. Die Reden, die ich über die Rolle der Frau in der Kirche höre, sind oft von einer Männlichkeits-Ideologie inspiriert.“ Mit dem Hinweis auf Maria und der Mahnung, Funktion und Würde nicht zu verwechseln, schließt er einen Zugang zum Priesteramt der Frau faktisch aus. Nicht zuletzt betont Franziskus I., dass Reformen, auf die viele Gläubige angesichts der Abbrüche bei der Kirchenbindung drängen, genügend Zeit brauchten.
Gott in jedem
Neu ist aber, dass er dazu auffordert, über „den spezifischen Platz der Frau gerade auch dort, wo in den verschiedenen Bereichen der Kirche Autorität ausgeübt wird“, nachzudenken - was immer das heißt. Die Theologie ist für ihn nicht ein Gegenspieler des päpstlichen Lehramts. Vielmehr helfe sie der Kirche, im eigenen Urteil zu wachsen. Die Wissenschaften führten insgesamt zu einem tieferen Verständnis von Mensch und Welt. Sehr inspiriert zeigt er sich von Kunst und Kultur. Dostojewskij und Hölderlin nennt er als bevorzugte Autoren. Neben Mozart, Beethoven und Bach bekennt er, auch Wagners „Ring“ und „Parsifal“ - wenn auch nicht immer - zu lieben. In die Welt des Films wurde Bergoglio von seinen Eltern eingeführt. Fellinis „La Strada“ und der Film „Roma città aperta“ (Rom, offene Stadt) haben ihn besonders bewegt. Jorge Mario Bergoglio ist ein Mensch, dem die „Klage darüber, wie barbarisch die Welt heute sei“, fremd ist. Weil Gott in jeder Person ist, will Papst Franziskus mit allen Menschen neue Wege suchen und finden, um die Botschaft Jesu Christi in dieser Welt zu verkünden. Denn „Gott kommt im Heute entgegen“.
Das vollständige Interview finden Sie bei den Stimmen der Zeit.