GlaubenserfahrungSpielunterbrechung

Glaubenserfahrungen am Weihnachtsfest: in München und anderswo.

Der Heilige Abend ist für mich als Pfarrer eng getaktet: Um 15.30 Uhr beginnt das Krippenspiel mit den Kindern, um 17 Uhr die Eucharistiefeier für alle, die in der Nacht nicht kommen können. Zwei Stunden später gibt es ein festliches Essen, zu dem alle eingeladen sind, die an diesem Abend andernfalls alleine wären. Und schließlich um 22.30 Uhr die Christmette mit allem, was dazugehört. Nach dem Essen, vor der Mette, gehe ich an die frische Luft in den Olympiapark. Schön, wenn ich für eine Stunde allein sein kann, nachdem ich bereits in so viele Gesichter geschaut, so viele Hände geschüttelt und so oft schon „Frohe Weihnachten“ gewünscht habe. Die Stunde des einsamen Spaziergangs hilft mir, mich zu sammeln und mich auf die Feier der Heiligen Nacht einzustimmen.

Meistens gehe ich dann auf den Olympiaberg, Münchens höchste Erhebung, und segne wie immer von dort unsere Stadt: Zuerst nach Norden hin meine Pfarrgemeinde im Olympischen Dorf, dann nach Westen die Stadtteile, in denen ich geboren und groß geworden bin und wo heute meine Brüder mit ihren Familien zu Hause sind; dann nach Süden zum Stadtzentrum hin segne ich alle, die Verantwortung tragen für Stadt und Land: den Ministerpräsidenten und den Landtag, den Bürgermeister und den Stadtrat, den Bischof und das Ordinariat; schließlich - nach Osten hin - schließe ich alle ein, mit denen ich in irgendeiner Weise verbunden bin, und denke auch an die, die es schwer haben im Leben.

Der Wirt, der bewirtet

Die Idee, zu Weihnachten und zu Ostern die Stadt zu segnen, verdanke ich einem alten Pfarrer, der ebenfalls immer wieder auf den Olympiaberg hinaufstieg, um die Stadt zu segnen. „Wenn es sonst keiner tut, muss ich es tun“, sagte er scherzhaft. Vor ein paar Jahren ist er gestorben. Seither sehe ich mich in der Pflicht, unsere Stadt nicht ohne Segen zu lassen. Ich muss zugeben, dass ich mir dann schon ein wenig wie der Papst beim „Urbi et orbi“ vorkomme. Doch merkt das ja keiner. Denn weit und breit sind keine Fernsehkameras, und statt eines überfüllten Petersplatzes ist zu meinen Füßen das leere Olympiastadion.

In diesem Stadion hallen gewissermaßen noch die Worte des einstigen IOC-Präsidenten Avery Brundage nach, der, vor die Frage gestellt, ob die Olympischen Spiele 1972 nach dem Attentat extremistischer Palästinenser auf die israelischen Sportler fortgesetzt werden sollten, ausgerufen hatte: „The games must go on!“ („Die Spiele müssen weitergehen“). Das war seinerzeit nicht unumstritten. Tatsächlich gibt es Ereignisse, die das Herz in einer Weise berühren, dass man nachher nicht mehr einfach so weitermachen kann wie vorher; Ereignisse, die das Spiel unterbrechen und das Leben verändern. Und jetzt, vor Weihnachten, frage ich mich: Hat das Ereignis der Geburt Jesu in Bethlehem für uns eine solche spielunterbrechende und lebensverändernde Kraft?

In meiner früheren Gemeinde wohnten bis 1992 amerikanische Soldaten mit ihren Familien. Aus dieser Zeit erzählt man sich eine nachdenklich machende Geschichte: Auch die kleinen Amerikaner spielten alle Jahre wieder das Krippenspiel. Und wie es immer ist: Alle Mädchen wollen Maria sein, Josef ist bei den Buben weniger beliebt. Und natürlich spielt man lieber einen braven Hirten als einen bösen Wirt. Aber zum Spiel braucht es die letzteren eben auch.

Vor die Wahl gestellt, ob er als böser Wirt mitspielen will oder eben gar nicht, beugt sich einer der Jungs schweren Herzens seinem Schicksal. Aber während der Proben bringt er es einfach nicht übers Herz, Maria und Josef von der Tür zu weisen und weiterzuschicken. Vielmehr hat er jedes Mal seine Freude daran, das heilige Paar einzuladen, es zu bewirten und ihm ein Zimmer zur Verfügung zu stellen. Und jedes Mal bekommt der kleine Schauspieler Ärger mit den Verantwortlichen. Erst als man ihm bedeutet, dass er so nicht weiter mitmachen kann, weil er das ganze Spiel sabotiere, ringt er sich bis zur Generalprobe durch, die Rolle des bösen Wirts wie gewünscht zu spielen.

Dann kam die eigentliche Aufführung, und die, welche die Vorgeschichte kannten, bangten um den Verlauf des Spiels und hofften, dass der böse Wirt seine Rolle „gut“ spielt. Maria und Josef klopften an. Der Junge öffnete und sah sie mit finsterem Blick an: „Go away! Here is no place for you!“ - „Fort! Hier ist kein Platz für euch!“ Aber dann überkam ihn etwas. Etwas war ihm eingefallen - sein Blick hellte sich auf, und er rief: „But, just come in for a moment and have a cup of tea! Then I must send you away, because the game must go on.“ („Aber kommt doch für einen Moment herein und trinkt eine Tasse Tee! Dann muss ich euch wegschicken, weil das Spiel weitergehen muss.“)

Die Flüchtlinge im VIP-Bereich

Die Güte des Herzens hat in diesem Jungen lauter gesprochen als die zugedachte Rolle. Für einen Augenblick wenigstens konnte er nicht mehr mitspielen, sondern musste dem Anruf seines Gewissens folgen und das „Go away“ in ein „Come in“ verwandeln. Das Krippenspiel wurde in diesem Moment weihnachtliche Wirklichkeit im Herzen des Jungen: Ich muss die beiden aufnehmen, ich will Jesus aufnehmen! Wie sehr wünsche ich mir, dass durch die unzähligen Krippenspiele am Heiligen Abend auch unzählige Menschenherzen sich öffnen für das Wort Gottes, und das nicht nur für einen Augenblick.

Und tatsächlich: Wer Augen hat zu sehen, der sieht es: Die Stadt München hat mehrere Tausend Flüchtlinge aufgenommen. 200 davon sind vorübergehend im Olympiastadion als einer der Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und zwar im VIP-Bereich der „very important persons“, der ganz wichtigen Personen. Viele ehrenamtliche Helfer bemühen sich um eine gute Aufnahme der Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten. Sie alle sagen: „Come in“ und nicht „Go away“. Die Gäste können „very important persons“ werden für die Gastgeber. Sie duschen in den Sanitäranlagen, in denen vor vierzig Jahren die Weltmeister von 1974 geduscht haben, und dann lange Jahre auch die Stars des FC Bayern. Und sie speisen in der Cafeteria für die Ehrengäste. „The games must go on“ hört sich auf einmal ganz anders an. So anders, wie das Herz des kleinen Amerikaners ein anderes wurde, als es sagte: „Come in“!

Die Schwestern von der Wolga

Ja, wirklich, es gibt Ereignisse, die das Spiel unterbrechen und das Leben verändern. Die Geburt Christi ist ein solches Ereignis, für uns Christen das Ereignis dieser Art schlechthin. Die lebensverändernde Kraft des Weihnachtsgeheimnisses habe ich auf eindrückliche Weise erfahren, als ich Anfang der neunziger Jahre als Kaplan in Traunreut im Chiemgau ein russlanddeutsches Schwesternpaar kennenlernte. In den zerfurchten Gesichtern der beiden Schwestern waren die Spuren der härtesten Lebensläufe des 20. Jahrhunderts zu lesen.

An der Wolga waren sie geboren und aufgewachsen. Unter Stalin wurden sie nach Kasachstan verschleppt. Eine Umsiedlung von der brutalen Art, die vielen Russlanddeutschen das Leben kostete. In der neuen Heimat angekommen, musste man sich unter anhaltenden Schikanen der Sowjetregierungen ein neues Leben aufbauen. Die beiden Schwestern gehörten zu den Christen, die im Verborgenen ihre Kinder und Enkel selbst tauften, weil jahrelang kein Priester in der Nähe war. Sie gaben ihren Glauben an die Jüngeren auswendig weiter, da ihnen alle Bibeln, Gebet- und Gesangbücher genommen worden waren. Als sie um das Jahr 1990 als bereits betagte Witwen nach Deutschland kommen konnten, war bei ihrer Ankunft die erste Frage nicht die nach der Wohnung, die man ihnen zugewiesen hatte, sondern: Wo ist die Kirche?

Es war für mich als junger Kaplan ein großes Geschenk, solchen Menschen zuhören zu dürfen, wenn sie aus ihrem an unerschütterlichem Vertrauen und zugleich unsagbaren Leiden reichen Leben erzählten. So freute ich mich auch, als die beiden Damen mich in den Tagen nach dem Weihnachtsfest 1993 zu Kaffee und Kuchen einluden. Diesmal allerdings erzählten sie nicht von früher und nicht von Russland, sondern von dem, was sie unlängst vor dem Weihnachtsfest erlebt hatten. Und sie erzählten mit einem Humor, der wohl einzig glaubenden Menschen eigen ist:

Am Tag vor Weihnachten war einer der beiden Schwestern übel geworden, und sie verlor das Bewusstsein. Die andere rief daraufhin den Notarzt, der auch bald kam und mit Hilfe einer Spritze der Bewusstlosen half, wieder zu sich zu kommen. Nachdem er seine Patientin gründlich untersucht hatte, schlug er vor, sie zur Sicherheit über die Feiertage ins Krankenhaus einweisen zu lassen. Aber der Arzt wusste noch nicht, mit wem er es zu tun hatte. Denn die Frau entgegnete ihm ganz empört: „Aber, Herr Doktor, morgen ist doch Heiliger Abend, und da möchte ich in die Kirche gehen und nicht ins Krankenhaus.“ Woraufhin der Arzt entgegnete: „Also das würde ich mir an Ihrer Stelle schon noch einmal gut überlegen, ob mir die Kirche wichtiger ist oder meine Gesundheit.“ Die gute Frau brauchte nicht lange zu überlegen. Sie wusste es sofort: „Nichts ist mir wichtiger als unser lieber Heiland!“

„Merkt ihr es nicht?“

Es bereitete den Schwestern sichtliches Vergnügen, mir zu erzählen, wie sie dem Arzt beigebracht hatten, worauf es letztlich ankommt. Irgendwie beneide ich sie bis heute um ihre einfache, klare Lebensordnung. Gesättigt von ihrer reichen Lebenserfahrung und ohne jede Verurteilung anderer, kannten sie sehr wohl den Wert der Gesundheit, aber eben auch, was den Vorrang hat. Ich wüsste gern, ob der Arzt die souveräne Aussage der Kranken in seiner beruflichen Routine als eine Art „Spielunterbrechung“ empfunden hat, ob er gemerkt hat, dass er da jemanden vor sich hat, den der Tod nicht mehr schrecken kann. Und zwar nicht nur, weil die Frau ihm schon so oft in ihrem Leben begegnet ist, sondern vor allem, weil sie in einer Beziehung mit dem „lieben Heiland“ lebt, der an Weihnachten das menschliche Leben als sein Leben angenommen hat, damit wir sein göttliches Leben als unser Leben annehmen können.

Das ist die große Freude, die der Engel den Hirten und allen Menschen mit hörfähigem Herzen verkündet. Ein Funke dieser Freude ist ins Herz des jungen Amerikaners gefallen und ein anderer ins Herz der alten Russlanddeutschen. Wo dieser Funke zündet, wird das bisherige Spiel des Lebens heilsam unterbrochen. Dieses bisherige Leben wird entlarvt als Leben unter einem Gesetz, das Rollensicherheit gibt, aber auch Angst macht und nur vorläufige, etwa medizinische Beruhigung vermitteln kann.

„Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten. Seht her, nun mache ich etwas Neues.“ Durch den Propheten Jesaja gibt Gott kund, dass die verheißene „Spielunterbrechung“ mehr ist als eine kurzzeitige Pause, dass es nachher wirklich einen Neuanfang gibt. Dennoch wird das Spiel auch nicht einfach gewaltsam abgebrochen. Gewalt ist nicht Gottes Art. Geduld ist Gottes Art. Klein, unscheinbar und demütig beginnt das neue Leben in Bethlehem und in jedem Menschen, der sich dafür öffnet. „Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?“, fügt Jesaja fragend hinzu.

Vielleicht nehmen wir die Veränderung im Spielverlauf des Lebens so wenig wahr, weil wir sie als etwas Einschneidendes, Überwältigendes oder zumindest als Eindruck machendes Ereignis erwarten. In der Nacht von Bethlehem aber wird ein Kind geboren und kein krachendes Feuerwerk abgebrannt.

Was hilft dem Menschen? Was schenkt ihm Frieden? Was tröstet ihn, und was weckt Hoffnung im Herzen? Eine der großen Erinnerungsfeiern des zu Ende gehenden Jahres war der 25. Jahrestag des Mauerfalls. Ich bin mit dieser Mauer auf merkwürdige Weise verbunden. Im Jahr ihres Aufbaus wurde ich geboren, und im Jahr des Aufbruchs wurde ich zum Priester geweiht.

Wie Kennedy, 1963

Im Denken an die Ummauerung Westberlins 1961 geht mir ein politischer Vergleich mit dem Weihnachtsgeheimnis nicht mehr aus dem Sinn: Als der amerikanische Präsident John F. Kennedy am 26. Juni 1963 nach Westberlin flog, kam er in die bereits eingeschlossene Stadt. In seiner berühmten Rede vor dem Schöneberger Rathaus waren es unter den vielen rhetorisch genialen und starken Sätzen über die Solidarität der freien Welt und den klaren Sätzen gegen den Kommunismus vier einfache Worte, welche die Berliner im Herzen berührten und die bis heute unvergessen sind: „Ich bin ein Berliner!“ Wer Ohren hatte zu hören, der konnte es hören. Der amerikanische Präsident wollte sich identifizieren mit der Situation der eingeschlossenen Bürger in Berlin. Er wollte sich an ihre Seite stellen, wie einer von ihnen sein, sie so verstehen, dass sie sich verstanden fühlten.

Das gibt eine leise Ahnung von dem, was Weihnachten ist. Gott ist Mensch geworden, ein Bürger von Nazaret, ein Berliner, Münchner, Freiburger und so weiter. Und wie Kennedy ein „Berliner“ blieb, obwohl er noch am selben Tag weiterflog, so ist Gott, der Menschgewordene, für immer bei uns, alle Tage bis zur Vollendung der Welt. Kennedy wollte das Selbstbewusstsein und den Stolz der Berliner stärken. Gott will die Würde aller Menschen wieder aufrichten. Kennedy wollte durch seine Worte zum Ausdruck bringen, dass die Westberliner trotz der sie umgebenden Mauer zur freien Welt gehören. Gott sagt ohne Worte, dass er zu den Menschen gehört und diese zu ihm.

Am Anfang und am Ende seines sichtbaren Lebens auf der Erde gebrauchte Jesus keine Worte. Am Anfang, weil er, wie jeder Säugling, noch nicht sprechen konnte. Am Ende, weil er vor Pilatus nicht mehr sprechen wollte und verstummte wie das Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Beide Male geht es nur noch um die pure Hingabe, ohne Erklärung und ohne Belehrung. Hingabe in die Welt und Hingabe in den Tod. So sehr wir für jedes uns aus dem Mund Jesu überlieferte Wort dankbar sind, haftet den Worten doch immer etwas Strittiges an. Man kann sie so und auch anders verstehen. Sie streifen etwas mit ihnen Beabsichtigtes nie ganz ab. Sie erheben einen Anspruch und wecken Widerspruch. Man ist heute der vielen Worte überdrüssig und müde. Man liebt die einfachen, für sich sprechenden Gesten. Frère Roger von Taizé hat es in der ihm eigenen oftmals überraschenden und erfrischenden Sprache so gesagt: „Als Gott sich nicht mehr anders verständlich machen konnte, wurde er ein kleines Kind.“

An Weihnachten feiern wir, dass Gott das große Welttheater, das Drama der Menschheitsgeschichte, mit dem Einsatz seines Lebens berührt hat. Seit dieser „Spielunterbrechung“ ist nichts mehr so, wie es zuvor war.

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