Es geschieht nicht oft, dass sich weltliche Medien für einen sehr speziellen theologischen Aufsatz interessieren, dessen Veröffentlichung mehr als vierzig Jahre zurückliegt. Ein solcher Text des Professors Joseph Ratzinger „Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe - Bemerkungen zum dogmengeschichtlichen Befund und zu seiner gegenwärtigen Bedeutung“, publiziert 1972, sorgt nun für mancherlei „Aufregung“. Genauer: nicht der Beitrag von damals, sondern seine veränderte Fassung von heute. Die ist im soeben erschienenen vierten Band der „Gesammelten Schriften“ Ratzingers (bei Herder) enthalten, neben der berühmten „Einführung in das Christentum“.
Aktuell bedeutsam sind die Passagen wegen der neu aufgebrochenen Debatte, ob wiederverheiratete Geschiedene, denen in der katholischen Kirche der Empfang der Sakramente verwehrt ist, unter gewissen Bedingungen wieder zur Kommunion gehen dürfen. Im ursprünglichen Aufsatz hatte Ratzinger - mit Blick insbesondere auf dahingehende Regelungen der Ostkirchen und in der Hoffnung auf eine Kircheneinheit mit ihnen - eine vergleichbare Möglichkeit auch unter Katholiken nicht ausgeschlossen. Ja er legte das sogar in abgewogenen Worten nahe, ohne die Unauflöslichkeit der sakramental geschlossenen Ehe anzutasten.
Damals hieß es: „Ich möchte versuchen, mit aller gebotenen Vorsicht einen konkreten Vorschlag zu formulieren, der mir in diesem Rahmen zu liegen scheint. Wo eine erste Ehe seit langem und in einer für beide Seiten irreparablen Weise zerbrochen ist; wo umgekehrt eine hernach eingegangene zweite Ehe sich über einen längeren Zeitraum hin als eine sittliche Realität bewährt hat und mit dem Geist des Glaubens, besonders auch in der Erziehung der Kinder, erfüllt worden ist (so dass die Zerstörung dieser zweiten Ehe eine sittliche Größe zerstören und moralischen Schaden anrichten würde), da sollte auf einem außergerichtlichen Weg auf das Zeugnis des Pfarrers und von Gemeindemitglieder hin die Zulassung der in einer solchen zweiten Ehe Lebenden zur Kommunion gewährt werden.“
Ratzinger verwies unter anderem auf Kirchenväter, etwa die „Nachsicht“ bei Basilius, „wo nach einer längeren Buße“ dem in einer Zweitehe Lebenden „ohne Aufhebung der zweiten Ehe die Kommunion gewährt wird: im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes, der die Buße nicht unbeantwortet lässt“. Mit dieser Ausnahme vom „Gesetz“ wollte man Schlimmeres, womöglich sogar einen Abfall vom Christusglauben, verhindern. Die Eröffnung der Kommuniongemeinschaft scheint - so der Autor damals - „nach einer Zeit der Bewährung nicht weniger als gerecht und voll auf der Linie der kirchlichen Überlieferung zu sein: Die Gewährung der communio kann hier nicht von einem Akt abhängen, der entweder unmoralisch oder faktisch unmöglich wäre.“ Damit gemeint ist der Abbruch der zweiten Ehe.
Annullieren statt scheiden
In den neu geschriebenen Schlussfolgerungen sind die entsprechenden Aussagen weggefallen. Stattdessen weist Joseph Ratzinger als nun emeritierter Papst Benedikt einzig auf den Ausweg hin, über einen kirchenrechtlichen Verfahrensweg eine eventuelle Nichtigkeit der ersten geschlossenen Ehe feststellen, diese annullieren, also für von vornherein ungültig erklären zu lassen. Das wäre etwa der Fall, „wo die Endgültigkeit bewusst ausgeschlossen“ wurde. Dann „wäre eine Ehe im Sinn des Schöpferwillens und seiner Auslegung durch Christus nicht wirklich zustande gekommen“. Die Kirche kenne keine Ehescheidung, betont Benedikt XVI./Joseph Ratzinger. „Aber sie kann die Möglichkeit nichtiger Ehen … nicht ausschließen.“ Doch müssten die kirchenrechtlichen Prozesse „mit großer Sorgfalt“ geführt werden. Es dürfe nicht „eine verkappte Ehescheidung“ daraus werden. „Das wäre unehrlich und dem Ernst des Sakraments entgegengesetzt.“
Der veränderte Artikel deutet auch an, dass schwerwiegende psychische Mängel eine Unfähigkeit zur Ehe bedeuten könnten. „Die psychischen Probleme des Menschen werden gerade einer so großen Realität wie der Ehe gegenüber heute deutlicher wahrgenommen als früher. Doch muss hier nachdrücklich davor gewarnt werden, eilfertig von psychischen Problemen her Nichtigkeit zu konstruieren. Allzu leicht kann man dabei in Wirklichkeit auch eine Ehescheidung unter dem Deckmantel der Nichtigkeit erklären.“
Auch ein ungenügendes sakramentales Eheverständnis unter Getauften erwähnt der Verfasser und führt den Begriff „getaufter Heide“ ein, der trotzdem ungläubig ist und bleibt. „Er kann vielleicht den Willen zur Unauflösbarkeit haben, aber das Neue des christlichen Glaubens sieht er nicht.“ Hier stellten sich Fragen, „auf die wir noch keine Antworten besitzen. Umso dringender ist es, ihnen nachzugehen.“
Im Kontext dieser Aufforderung an Theologie und Lehramt erinnert Benedikt XVI./Joseph Ratzinger daran, dass die katholische Kirche - ausgehend vom Ratschlag des Paulus und mit Bezug auf die Autorität des Petrusamtes - durchaus Möglichkeiten einer Scheidung „zugunsten des Glaubens“ ausgearbeitet habe. Eine nichtsakramentale Ehe kann geschieden werden, wenn es zum Beispiel einem nichtchristlichen Partner nicht zumutbar ist, mit dem zum Christentum übergetretenen weiterhin die Ehe zu führen. Nicht deutlich wird in den Anspielungen der neuen Textfassung, ob Benedikt XVI. in Entsprechung etwa zur frühen Missionsgeschichte und zu antiken Bekehrungen eine päpstlich bevollmächtigte Ehescheidung auch für heute erwägt, wenn ein getaufter Ehepartner in den Unglauben, ins Neuheidentum zurückfällt oder innerlich geistig nie die Entwicklung zum Glauben genommen hat, obwohl er einmal - als Kind - getauft worden war.
Ersatz: „geistliche Kommunion“
Die wiederverheirateten Geschiedenen sind weiter Teil der Kirche. Sie sollen am Gemeindeleben teilnehmen, selbst wenn sie nicht zu den Sakramenten zugelassen sind. Als kleine Erleichterung bietet der Autor den Betroffenen an, in kirchlichen Gremien aktiv zu werden, was ihnen bisher verboten war. Ebenfalls dürften sie in Zukunft ein Patenamt übernehmen.
Dass sie von der Kommunion ausgeschlossen sind, wird nach Ansicht des Autors auch deshalb als „so verletzend empfunden, weil gegenwärtig praktisch meist alle in der Messe Anwesenden auch zum Tisch des Herrn hinzutreten“. Diejenigen, die als Sünder in der Bank bleiben, erscheinen „gleichsam öffentlich als Christen disqualifiziert“. Daher empfiehlt Benedikt/Joseph Ratzinger, jeder Glaubende solle sich selbst prüfen, ob er würdig die Kommunion empfängt. Er bedauert die allzu häufige, selbstverständliche Gewohnheit der Vielen, was in den Vorschlag mündet: „Eine ernste Selbstprüfung, die auch zum Verzicht auf die Kommunion führen kann, würde uns die Größe des Geschenks der Eucharistie neu erfahren lassen und auch eine Art von Solidarität mit den geschiedenen Wiederverheirateten darstellen.“
Für diese sieht der Verfasser als Ersatz eine „geistliche Kommunion“ vor. Er erinnert an einen in der Ökumene da und dort geübten Brauch, dass zum Beispiel Evangelische mit den Katholiken zur Kommunionausteilung vortreten, dann aber „die Hände auf die Brust legen und so zu erkennen geben, dass sie das heilige Sakrament nicht empfangen, aber um einen Segen bitten, der ihnen dann als Zeichen der Liebe Christi und der Kirche geschenkt wird“. Ob eine solche Regelung vor den Augen der versammelten Gemeinde als weniger diskriminierend empfunden wird als ein Verharren in der Kirchenbank, ist aber fraglich.
Kein Bruch, nur Entwicklung?
Brisant sind die textlichen Änderungen zwischen 1972 und 2014 in noch ganz anderer Weise. Nicht wenige Theologen - auch Bischöfe bis hinauf zu Kurienkardinälen - haben die einstige Auffassung von Joseph Ratzinger noch bis vor kurzem als „Munition“ und Argumentationshilfe benutzt, um mit dieser „Tradition“ die eigene Argumentation zugunsten von Reformen machtvoller erscheinen zu lassen. Indirekt spielte dabei wohl eine heimliche Hoffnung mit, an der Autorität des Autors teilzuhaben, der vom Theologieprofessor zum Präfekten der Glaubenskongregation und schließlich zum Papst aufgestiegen war. Er könne doch nicht einfach leugnen, verdrängen oder das Gegenteil dessen behaupten, was er früher einmal gut überlegt aussagte, zumal er auch sonst ein Freund kontinuierlicher theologischer Entwicklung ist und sich stets strikt gegen verstehenswissenschaftliche „Brüche“ - erst recht in lehramtlichen Verstehenswelten - wendet. Allen, die sogar als Kardinäle jene einstigen Passagen Ratzingers bis zur jüngsten Familiensynode als „Barmherzigkeitsargument“ ins Feld führten, ist nun allerdings der Boden entzogen. Dabei hätte man schon seit langem wissen können, dass Ratzinger seine Meinung geändert hat, längst bevor er in den Petrusdienst trat. Jedenfalls ist es unredlich, den „frühen“ Ratzinger gegen den „späten“ Ratzinger und Papst auszuspielen.
Jeder hat das Recht, seine Meinung zu ändern, ja ins Gegenteil dessen zu verkehren, was er einmal redlich vertrat. Das muss sogar einem Papst erlaubt sein. Skurril wird es nur, wenn man meint, trotz einer klar entgegengesetzten Akzentuierung eine irgendwie doch harmonische, das Frühere bloß ergänzende Entwicklung von A nach B herauslesen oder hineinlesen zu können. Der stellvertretende Direktor des Instituts Papst Benedikt XVI., Christian Schaller, der die „Gesammelten Schriften“ mit herausgibt, erläuterte auf der Website katholisch.de: „Es ist normal, dass ein Text, der in einem zeitlichen Abstand von mehr als vierzig Jahren erneut veröffentlicht wird, noch einmal durchgesehen wird. Es geht darum zu präzisieren, zu verdeutlichen, vielleicht noch einen zusätzlichen Aspekt zu ergänzen - in vierzig Jahren gibt es auch eine denkerische und wissenschaftliche Entwicklung.“ Der Autor komme „ja nicht zu völlig anderen Ergebnissen. Joseph Ratzinger hat auch 1972 an der Unauflöslichkeit der Ehe festgehalten, aber dann aus der Tradition der Kirche und aus den Überlegungen der Kirchenväter heraus auf gewisse Möglichkeiten hingewiesen. Seither ist die Problematik der Ehescheidung auch in der Gesellschaft viel deutlicher erkannt worden. In einer ‚Ausgabe letzter Hand‘ wie hier nimmt man immer den letzten Text, also die jüngste Fassung. Das ist dann auch repräsentativ für die Entwicklung eines Autors.“
Schaller bestreitet, dass die neue Textfassung gezielt in die jüngste gesamtkirchliche Debatte hinein platziert worden sei, um sie zu beeinflussen. Bei der Bischofssynode über Ehe und Familie waren gegensätzliche Einschätzungen aufeinandergeprallt, und die starke Minderheit der Gegner jedweder Reform suchte Schützenhilfe beim zurückgetretenen Papst Benedikt XVI., was dieser jedoch - so heißt es - abgewiesen habe. Dass der Band im Umfeld dieser Synode erscheint, sei „reiner Zufall“, so Schaller. Das sei „dem Arbeitsmodus geschuldet und hat keinerlei kirchenpolitische Relevanz… Es ist unredlich, wenn man von einem Autor eine Position von vor über vierzig Jahren nur isoliert wahrnimmt, aber die Genese und die Ergebnisse der jüngeren Texte nicht zur Kenntnis nimmt.“
Auch der Regensburger Theologe Wolfgang Beinert, der zum älteren Ratzinger-Schülerkreis gehört, glaubt nicht an eine gezielte Einmischung des emeritierten Papstes zugunsten der beharrenden Fraktion. Beinert bestätigte im Kölner Domradio, dass die Änderungen „dem ganzen Denken des Ratzinger der zweiten Lebenshälfte“ entsprechen und „seiner nun eher pessimistischen Sicht“.
Päpstliche „Doppelherrschaft“?
Als nicht ganz so harmlos beurteilt der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf den editorischen Vorgang. Benedikt/Joseph Ratzinger positioniere sich „eindeutig in der aktuellen Debatte, was eigentlich nicht dem Anspruch entspricht, sich aus der Öffentlichkeit herauszuhalten“, so Wolf in der „Frankfurter Allgemeinen“. Seit längerem stünden Befürchtungen im Raum, „um Franziskus und Benedikt XVI. könnten zwei konkurrierende Machtzentren an der Kurie entstehen, mit Papst und Gegenpapst an der Spitze“. Benedikt XVI. sehe sich selbst „im Status eines Mönchs, der seine Klausur nur auf persönliche Einladung des Papstes verlässt“.
Doch gibt es etliche irritierende Signale. So habe Benedikt XVI. mit seiner besonderen Liebe für die von ihm wieder in der Breite zugelassene tridentinische Liturgie an eine Versammlung von Anhängern dieser Tradition geschrieben: „Ich bin sehr glücklich, dass der usus antiquus jetzt in vollem Frieden mit der Kirche lebt, auch bei Jugendlichen, und dass er von großen Kardinälen unterstützt und gefeiert wird.“ Einer dieser Kardinäle ist Raymond Leo Burke, ein energischer - auch öffentlicher - Widersacher von Papst Franziskus etwa in der Ehescheidungsfrage. Er wurde soeben als Chef des obersten kirchlichen Gerichts entmachtet. Auch der frühere Leiter der Gottesdienstkongregation Kardinal Antonio Cañizares Llovera, ebenfalls ein Verfechter traditioneller bis traditionalistischer Ansichten und Vertrauter des Vorgänger-Papstes, wurde von Franziskus I. in ein spanisches Bistum „zurückgeschickt“.
Wolf sieht Probleme, die Missverständnisse hinsichtlich einer päpstlichen „Doppelherrschaft“, eines päpstlichen Parallel-Lehramts zumindest begünstigen könnten. Das sei bereits bei Äußerlichkeiten der Fall. So habe sich Benedikt XVI. den Titel „emeritierter Papst“ zugelegt. Er halte weiter an der Anrede „Eure Heiligkeit“ fest, auch an seinem Papstnamen. Zudem trägt er weiterhin eine eigentlich nur dem amtierenden Papst vorbehaltene weiße Soutane, wenn auch in anderer Weise. Das verschiedentlich vorgetragene Argument, Benedikt XVI. habe bei seinem Rücktritt keine andere passende Kleidung zur Verfügung gestanden, lässt Wolf nicht gelten, denn der Rücktritt sei ja ausreichend vorher geplant gewesen.
Papst sein ist kein Sakrament
Zudem verweist der Kirchengeschichtler auf eine sehr eigenwillige Deutung des Petrusamtes durch Benedikt XVI., als verleihe dieses Amt dem Amtsinhaber eine Art immerwährenden, lebenslangen Wesenscharakter. Doch das Papstamt ist nur eine Funktion. Es gibt keine eigene Weihe wie beim Bischofsamt. Benedikt XVI. habe in der Generalaudienz vor dem Wirksamwerden seines Rücktritts erklärt: „Die Schwere der Entscheidung lag gerade auch darin, dass ich nun vom Herrn immer und für immer beansprucht war. Immer - wer das Petrusamt annimmt, hat kein Privatleben mehr. Er gehört immer und ganz allen, der ganzen Kirche … Das ‚immer‘ ist auch ein ‚auf immer‘ …“ Diese Auffassung erinnert Wolf an das „ein für alle Mal“ der Bischofsweihe. Aber diese Parallele zwischen Petrusdienst und Bischofsdienst funktioniere nicht. Denn das Papstamt sei eben kein Sakrament. „Ausgerechnet das höchste Amt in der katholischen Kirche wird nicht durch eine Weihe übertragen. Papst wird man nicht durch Handauflegung und auch nicht durch die Inbesitznahme des Bischofskirche San Giovanni in Laterano, sondern durch die Wahl der Kardinäle im Konklave. In dem Augenblick, in dem der Gewählte die Wahl annimmt, ist er Papst. Hier wird kein sakramentaler character indelebilis (eine unauslöschliche Wesenseigenschaft; d. Red.) verliehen wie bei der Taufe oder dem Weihesakrament. Der Papst übernimmt eine nichtsakramentale Funktion, die erlischt, wenn er seinen Rücktritt erklärt.“
Wolf verweist auf andere Rücktritte der Kirchengeschichte, etwa auf den von Papst Gregor XII. im Zuge des „Großen Abendländischen Schismas“ mit drei Päpsten beziehungsweise Gegenpäpsten, was das Konstanzer Konzil 1417 beendete. Damals trat Gregor XII. zugunsten der Einheit der Kirche zurück. Er wurde wieder einfaches Mitglied im Kardinalskollegium, ernannt zum Kardinalbischof von Frascati und Porto. Die päpstlichen Gewänder legte er ab und zog wieder den Kardinalspurpur an. Auch die Tiara, die Papstkrone, trug er nicht mehr, sondern wieder den Kardinalshut. Statt mit „Eure Heiligkeit“ wurde er mit „Eure Eminenz“ angesprochen. Statt „Papa emeritus Gregorius XII.“ hieß er wieder Angelo Kardinal Correr. Ähnlich war es bei dem späteren Rücktritt von Felix V. Auch bei Benedikt/Joseph Ratzinger sei der Titel „emeritierter Kardinalbischof“ der angemessene statt „emeritierter Papst“, meint Wolf.
Für oder gegen Reformer?
Ob die Irritationen um die jüngste Veröffentlichung von Benedikt XVI./Joseph Ratzinger eine Langzeitwirkung haben, bleibt offen. Der Freiburger Theologe Helmut Hoping vermutet, der Text werde nicht ohne Einfluss auf die kommende Familiensynode 2015 bleiben. „Denn er stärkt faktisch die Position der Kardinäle, die den Vorschlag von Walter Kasper zurückgewiesen haben, darunter Gerhard Ludwig Müller, Marc Ouellet und George Pell.“
Der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff, Hopings Fakultätskollege, vermutet in den beiden Fassungen des Ratzinger/Benedikt-Textes eher die Chance zu einer „Entdramatisierung“ der ganzen Debatte. In der „Herder Korrespondenz“ (Dezember) weist er darauf hin, dass ja auch der frühe Ratzinger in keiner Weise die Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe infrage gestellt habe. Seine damaligen Überlegungen versuchten nur nachzuweisen, dass „eine fallweise Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten nicht im Widerspruch zur eigentlichen Grundnorm der kirchlichen Lehre stünde“. Seine Argumentationskette behält Benedikt/Joseph Ratzinger im ersten Teil der aktuellen Version bei. Allerdings zieht er daraus in der Abwägung andere Schlussfolgerungen als einst. Schockenhoff meint, aus dem parallelen Lesen beider Texte schließen zu können: „Es geht nicht um ein Ja oder Nein zur Unauflöslichkeit der Ehe, nicht um Treue oder Abfall gegenüber kirchlichen Glaubensüberzeugungen, sondern um einen angemessenen seelsorglichen Weg, der den in zweiter Ehe lebenden Christen Gottes Versöhnungsangebot vermittelt und sie seine Barmherzigkeit erfahren lässt, ohne dies an für sie unerreichbare Bedingungen zu knüpfen.“
Ob Benedikt XVI./Joseph Ratzinger dieser Deutung seiner Doppelausführungen zustimmen würde, ist aus dem bisher Geschriebenen jedoch nicht ersichtlich. Er hat seinen damaligen Vorschlag zwar nicht ausdrücklich verworfen, ihn aber bewusst auch nicht wiederholt. Das lässt vermuten, dass er nicht mehr dazu steht. Seine eigene klärende Begründung der textlichen Veränderung steht noch aus.
Das Grundproblem kirchlichen Lebens und kirchlicher Lehre aber wird überdeutlich: Es fällt nach wie vor schwer, einen echten Wandel und faktische Brüche in den religiösen Überlieferungs- und Glaubensvorstellungswelten zuzugeben und mit den - wie Hans Küng sie nennt - Paradigmenwechseln, ähnlich den Falsifikationen im Bereich der erfolgreichen Naturwissenschaften, offen umzugehen. Denn nicht nur Meinungen wandeln sich, sondern auch das Glauben, das Christsein. Dies einzugestehen würde dem christlichen Glauben selber im Angesicht der „Welt“ und der Öffentlichkeit wieder zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen: im Geist der Wahrhaftigkeit.