Der Fortschritt und der GlaubeWeshalb Antimodernsimus unkatholisch ist

Das Katholische erlebt derzeit einen gewissen Akzeptanzmangel. Dabei sind Fortschrittshoffnung und Christusglaube nicht Feinde, sondern Geschwister.

Lateinamerika, Asien, Afrika: „Die Gewichte in der katholischen Kirche verlagern sich weg von Europa“, schrieb jüngst die „Süddeutsche Zeitung“. Gerät der Kontinent der Aufklärung religiös aus dem Blickfeld?

Wird man als Theologe im Bekanntenkreis, der sich weitgehend aus kritischen und diskursbereiten Erwachsenen zusammensetzt, auf das Thema Katholizismus gebracht, so hat man es manchmal schwer, die eigene Glaubensgemeinschaft zu verteidigen. Ja, so heißt es oft, über die Gottesfrage, die Frage nach dem Woher und Wohin, lasse sich durchaus diskutieren. Auch der jetzige Papst sei sympathisch, aber für kritisch Denkende liefere die katholische Kirche und ihre überkommene Lehre kein überzeugendes Angebot.

Wie viele Stunden habe ich, auch in meiner mehr als dreißigjährigen Tätigkeit in der Erwachsenenbildung, über dieses Thema diskutiert! Auch die vierzig Jahre gymnasialen Religionsunterrichts, in dem es von Jahr zu Jahr weniger „brave Ministranten“ gab, haben mich gelehrt: Das kirchliche Erscheinungsbild wird oft zum Hindernis, die Menschen für die Frage nach Gott und Christsein zu sensibilisieren. Dabei liegt es am wenigsten am „bösen Zeitgeist“ oder an den „übelwollenden Medien“, dass das, was man einst das „Wesen des Katholizismus“ nannte, nur selten zu faszinieren vermag.

Nimmt man das Phänomen genauer unter die Lupe, so reicht es auch nicht, sich nur auf die weitgehend als weltfremd empfundene Sexualmoral zu beziehen, auch wenn sie ein besonders beliebtes Objekt der Kritik ist. Dieser Bereich ist aber nicht mehr als die Spitze des Eisbergs. Wer der Frage nach dem Akzeptanzmangel des Katholischen auf den Grund gehen will, muss weiter ausholen, ja einige Jahrhunderte der Kirchengeschichte zurückschauen. Nehmen wir als Beispiele drei Jahreszahlen, die jeweils für einen selbstverschuldeten Ansehensverlust der Kirche stehen: 1633, 1864 und 1968.

Von Galilei zum Antimodernisteneid

Dass Galilei 1633 von der Inquisition zum Widerruf gezwungen wurde, gilt noch heute aufgeklärten Mitmenschen als Beleg für Rückständigkeit und Vernunftfeindlichkeit der Kirche. In der Tat gingen seither die Naturwissenschaften ihre eigenen Wege. Man war in der Folgezeit nicht mehr bereit, sich in der Forschung von irgendwelchen Glaubensvorgaben einschränken zu lassen. Auf der anderen Seite begann die Kirche, mehr und mehr ihre „eigenen Wahrheiten“ zu pflegen - bis hin zu den Dogmen päpstlicher Unfehlbarkeit, der unbefleckten Empfängnis Mariens und deren leiblicher Aufnahme in den Himmel: für aufgeklärte, naturwissenschaftlich Versierte in der Regel Absurditäten jenseits jeglicher Vernunft. Nachvollziehbar, dass in ihren Kreisen die Kirche oft als „hinterwäldlerisch“, bestenfalls als Trost- und Zufluchtsort für „einfache“ Leute gilt, die es nie richtig gelernt hätten, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.

Für diese verhängnisvolle geschichtliche Entwicklung kann symbolisch auch das Jahr 1864 stehen. Damals ließ Pius IX., der Papst, der im Geist der Aufklärung nur den Teufel am Werk sah, den sogenannten Syllabus veröffentlichen, in dem nahezu alle Werte, die wir heute für unverzichtbar und für Errungenschaften abendländischer Kultur halten, als „pestilentissimi errores“, als „verderblichste Irrtümer“, gebrandmarkt wurden: Demokratie, Menschenrechte, Religionsfreiheit und vieles mehr. Der „Modernismus“, wie Folgerungen und Forderungen der Aufklärung genannt wurden, galt als unvereinbar mit der Lehre der katholischen Kirche und dem Seelenheil, das nur diese gewährleisten könne. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 1910, schrieb Papst Pius X., der dem aufgeschlosseneren Papst Leo XIII. folgte, allen Priestern einen „Antimodernisteneid“ vor, um den angeblichen „Zeitirrtümern“ der Aufklärung zu widersagen.

Die Kirche und die Nazis

Gewiss kennen die wenigsten unserer kritischen intellektuellen Zeitgenossen diese geschichtlichen Fakten genau. Wohl aber wissen sie um deren Wirkungsgeschichte. In persönlichen Gesprächen wurde ich beispielsweise oft auf das weitgehende Versagen der Kirche(n) gegenüber dem Nationalsozialismus hingewiesen. Dabei kamen mitunter auch die Umstände, die zu diesem Versagen führten, zur Sprache. An erster Stelle führte man die Vorliebe für autoritäre, gar absolutistische Gesellschaftsstrukturen an. Versteht sich nicht bis heute die katholische Kirche als hierarchisch, also keinesfalls demokratisch?

Gravierend kommt eine jahrhundertealte Abneigung gegen das Judentum, ja sogar die Verurteilung der Juden als „Gottesmörder“ hinzu, die die Kirche(n) hinderte, sich für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus engagiert einzusetzen. Und schließlich kann man auch die Glorifizierung militärischer Tugenden anführen, deren Anfänge noch in der Spätzeit des Römischen Reiches zu suchen sind, ja bis ins 20. Jahrhundert auch kirchlicherseits nicht infrage gestellt wurden. Offenbar sah man keinen Gegensatz zu Jesu Forderung der Feindesliebe darin. Anders sind die Aufrufe deutscher Bischöfe, im Krieg gegen die Sowjetunion besondere Tapferkeit und Opferbereitschaft zu zeigen, oder die Verurteilung des Attentats vom 20. Juli 1944 als „Verrat am Vaterland“ kaum zu erklären. Und da wird es schwierig, in der Diskussion auf Differenzierung zu pochen und zu argumentieren, dass es eben auch einen katholisch motivierten Widerstand gab oder dass die mangelhafte Befolgung einer Idee noch keine Widerlegung von deren Güte sein muss.

Wenn man kirchlichen Verlautbarungen selten intellektuelle Qualität zuschreibt, hat das freilich auch mit unzureichender Vermittlung seriöser theologischer Entwicklungen zu tun. Meist wissen nicht einmal diejenigen unter den Gebildeten davon, die sich durchaus noch als religiös empfänglich verstehen. Die Resultate der historisch-kritischen Bibelauslegung sind bei Nichttheologen so gut wie unbekannt. Kommt ein Gespräch auf die Bibel, kann man etwa hören: Man schätze gewiss die Zehn Gebote (auch wenn man sie wohl kaum im Einzelnen aufzählen könnte), habe natürlich nichts gegen die Nächstenliebe oder die Bergpredigt (auch wenn man nicht so genau weiß, wo sie steht), aber das andere, angefangen bei Adam und Eva, die Geschichten im Alten Testament, die Jungfrauengeburt und die Wunder Jesu, das seien doch alles nur eine Art Märchen, an die fromme Katholiken eben glauben müssten (weshalb man sie auch für ein wenig naiv hält). Dass in der protestantischen Theologie seit rund 200 Jahren und in der katholischen seit fast 100, spätestens aber seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) mit wissenschaftlicher Methodik nach Entstehung und ursprünglicher Aussageabsicht der Texte, nach ihrem „Sitz im Leben“ geforscht wird, wissen leider meist nur theologische Insider, die sich jedoch nur selten die Mühe machen, ihre Kenntnisse unters Volk zu bringen.

Dabei würde sich die Anstrengung lohnen. Wie hilfreich die Unterscheidung zwischen zeitgebundenem Wortlaut und dem möglicherweise zeitlos bedeutsamen Sinn sein kann, ließe sich beispielsweise schon auf der ersten Bibelseite aufzeigen. Wenn da vom Menschen als Abbild Gottes (Gen 1,26f) die Rede ist, so wäre es sicher naiv, daraus auf die äußere Erscheinung Gottes zu schließen. Nicht naiv, sondern von tiefer Humanität aber ist der im Text enthaltene Hinweis auf die Würde des Menschen, und zwar auch die des Geringsten (siehe Mt 25,40), und auf die absolute Gleichrangigkeit von Mann und Frau.

Ähnliche Verstehensprobleme ergeben sich auch bei Glaubenssätzen im Gottesdienst: Was bedeutet eigentlich Dreifaltigkeit, was der Kreuzestod Jesu als „Sühne für unsere Sünden“, was die „Auferstehung des Fleisches“? Fragen über Fragen!

Die Last „Humanae vitae“

Kehren wir zur geschichtlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts, die zuallererst leider eine Fehlentwicklung war, zurück. Statt vom lebensfreundlichen, weltzugewandten, humanen Wesen des Glaubens zu predigen, zog man sich in eine katholische Sonderwelt zurück. Sicherlich ist die Vorstellung eines „irdischen Jammertals“, aus dem man sich ruhelos nach der „himmlischen Heimat“ sehnt (wie es ein häufig gesungenes Kirchenlied betonte), schon Jahrhunderte älter, spielt sie doch sogar bei der Entstehung von Luthers Gnadentheologie eine zentrale Rolle. Aber die Brandmarkung jeglicher Lebensfreude als Sünde wurde in der katholischen Kirche nun zum vorherrschenden Predigtmuster. Man schmökere nur einmal in alten Handbüchern für Geistliche oder in der sogenannten Erbauungsliteratur um 1900, die vor allem und oft während der Messe von Frauen gelesen wurde. Dass die Kirche noch heute - trotz künstlerischer Hochleistungen, barocker Prachtentfaltung und ihres unbestreitbaren humanitären Engagements - dem Verdacht der Lust- und Lebensfeindlichkeit ausgesetzt ist, ist noch eine Spätfolge jener Weltflucht und deren Ablehnung aller „modernistischen“ Ideen der Aufklärung.

Dafür, dass sich die Kirche tatsächlich immer noch schwertut, historisch bedingte Irrtümer einzugestehen, steht zeichenhaft auch die Jahreszahl 1968. Während dieses Jahr weltgeschichtlich für Umbruch und Aufbruch steht, sehen es Kirchenkritiker, aber auch viele gläubige Katholiken als das Jahr an, in dem die Kirche endgültig ihre Inkompetenz auf dem Gebiet menschlicher Sexualität unter Beweis stellte. Bis heute, bis zur Philippinenreise von Papst Franziskus, belastet die Enzyklika „Humanae vitae“ von Papst Paul VI. Akzeptanz und Glaubwürdigkeit selbst bestgemeinter Botschaften aus amtlichem Munde schwer.

Sex-Fixierung

Die Behauptung, Sexualität, genauer gesagt: sexuelle Lust, stehe in engem Zusammenhang mit Sünde, ist jedoch weder jesuanisch noch überhaupt biblisch begründbar. Durch außerbiblische Vorstellungen, insbesondere der Gnosis und des Neuplatonismus in den letzten Jahrhunderten der Antike, breitete sich auch in der Kirche die Überzeugung aus, die vergängliche Materie, zu der auch der fehlerhafte und hinfällige Körper gehöre, sei grundsätzlich schlecht. Nur in der geistigen Welt finde sich der Inbegriff alles Wertvollen, so die durchgehende Ansicht der Kirchenväter. So rückte in der Folge des ursprünglich platonischen Gedankens, der Leib sei das Grab der Seele, alles, was den Menschen an den Leib bindet, in die Nähe des Sündhaften. Bezeichnend ist die Äußerung des Augustinus, die bei der Zeugung eines Kindes empfundene Lust sei Strafe für den Sündenfall im Paradies und ursächlich für die Weitergabe der Erbsünde. In der „concupiscentia“, der Begehrlichkeit, sah er die Wurzel aller Sünde.

Aus dieser problematischen und biblisch nicht begründbaren Sicht musste man fast zwangsläufig auf die Minderrangigkeit der Frau - als „Verführerin des Mannes“ - und auf die zölibatäre Lebensweise als die gottgefälligere schließen. Man muss nicht eigens betonen, dass eine solche Wertung mit unserem heutigen Selbstverständnis nicht vereinbar ist. Die Lebenswirklichkeit von Sexualität, Partnerschaft und Familie deckt sich kaum noch mit dem einseitigen, im Grunde platonischen Naturrechtsdenken, das von einem Gegensatz von Geist und Materie ausgeht und bei genauer Betrachtung noch hinter der nur scheinbar schöpfungstheologischen Argumentation von „Humanae vitae“ erkennbar wird.

Welche Verletzungen, welche Minderung an Lebensfreude und Lebensqualität brachte dieses „naturrechtliche“ Denken im Lauf der Geschichte mit sich. Ältere, vor allem männliche Erwachsene, die noch eine traditionelle katholische Erziehung genossen, wissen ein Lied von Sündenängsten zu singen, denen sie beispielsweise nach einer Selbstbefriedigung ausgesetzt waren - als hätte Gott nichts anderes im Sinn, als über nächtliche Lustgefühle Pubertierender zu wachen und beim „Missbrauch der Geschlechtskraft“ (so die damalige Formulierung) tödlich beleidigt zu sein! Und für welche aus Zuneigung entstandene Partnerschaft böte eine - weder biblisch noch humanwissenschaftlich begründbare - Forderung nach Verzicht auf jegliche erotisch-sexuelle Annäherung hilfreiche Orientierung? Hätte sich nicht auch Papst Franziskus, als er auf dem Rückflug von den Philippinen im Januar freimütig über eine verantwortbare Begrenzung der Kinderzahl sprach, fragen müssen, wie sie möglich sein soll, wenn man zugleich am Verbot künstlicher Empfängnisverhütungsmittel festhält?

Dabei ist man in der Theologie eigentlich längst weiter. Redlich argumentierende Moraltheologen schweigen zwar eher über die Verhütungsfrage, streichen aber mit Recht den Grundsatz gegenseitiger Verantwortung heraus. Und das „Kirchenvolk“ hat sich, zumindest hierzulande, weitgehend seine eigene Sexualmoral zurechtgelegt, die oft gar nicht so weit von einer theologisch begründeten entfernt ist. Aber dies kostet den Preis, dass amtskirchliche Verlautbarungen grundsätzlich nicht allzu ernstgenommen werden, auch da, wo sie Aufmerksamkeit verdienten, etwa zum Thema Frieden, Gerechtigkeit oder Umgang mit Flüchtlingen.

Es gibt aber noch einen weiteren betrüblichen Aspekt bei der traditionellen kirchlichen Fixierung auf Sündhaftigkeit sexueller Lust. Damit hängt nämlich auch das weitgehende Versagen der Kirche(n) gegenüber totalitären Ideologien im 20. Jahrhundert zusammen. War man doch noch zu Zeiten des Nationalsozialismus, als dessen Gewalttätigkeit schon überall sichtbar wurde, damit beschäftigt, in ungezählten Sonntagspredigten lieber gegen französische, allzu „körperbetonte“ Mode oder „übertriebene“ Körperpflege zu wettern, die „Unsitten des Familienbades“ zu geißeln und sich über den lockeren Lebenswandel in Großstädten zu ereifern. Dass der Antichrist ganz woanders sein verderbliches Spiel trieb, geriet darüber fast völlig aus dem Blick.

Frauenversteher Jesus

Kein Wunder daher, dass auch die Missbrauchsfälle in Internaten und Pfarrgemeinden die Kirche besonders hart trafen. Für Kritiker, die ihr fernstehen, gelten sie oft als schlagender Beweis für katholische Doppelmoral. Je verklemmter das Verhältnis zur eigenen Sexualität, so das oft zu hörende Argument, umso größer sei die Gefahr, sich hilflose Opfer seiner Phantasien zu suchen. Den Hinweis auf mindestens ebenso häufige Übergriffe in Sportvereinen und im Familienbereich lässt man nicht gelten: Da sich gerade die katholische Kirche als Hort von Enthaltsamkeit und Keuschheit sehe, sei die Fallhöhe - ähnlich wie bei den Missbrauchsfällen in der sogenannten Reformpädagogik und in den grün-alternativen Ideologien - hier besonders groß.

Der selbst Kirchentreuen mitunter verkrampft erscheinende Streit um die Zulassung wiederverheiratet Geschiedener zu den Sakramenten gilt vielen als weiterer Beleg für katholische Weltfremdheit. „Haben die keine anderen Probleme?“ Wie oft musste ich diesen Satz schon hören! Und auch die Behauptung, das Verbot der Ehescheidung sei jesuanisch und somit nicht diskutierbar, hält dem historisch-kritischen Befund kaum stand: War doch Jesu Wort ausschließlich an Männer gerichtet, die mit einem Scheidebrief ihre Frauen ins soziale Elend stoßen konnten. Dennoch gilt das Scheidungsverbot den allermeisten Bischöfen weltweit geradezu als „Markenkern“ katholischer Moral. Es ist schon merkwürdig: In derselben Bergpredigt, in der das Wort gegen die Ehescheidung steht, finden wir auch das strikte Verbot des Schwörens (Mt 5,34ff). Da aber war man in der Kirche offensichtlich etwas großzügiger: siehe Antimodernisteneid…

Sieht man die symbolischen Jahreszahlen 1633, 1864 und 1968 im Zusammenhang, öffnen sich rasch weitere Problemfelder. Eines davon ist der Ausschluss der Frauen von Weiheämtern in der katholischen (und orthodoxen) Kirche. Indes ist fast nichts für das Selbstverständnis europäischer beziehungsweise westlicher Kultur so wesentlich wie die absolute Gleichberechtigung der Geschlechter. Ein unüberbrückbarer Gegensatz von Kirche und Zeitgeist? Nein, denn auch hier könnte die historisch-kritische Bibelauslegung weiterhelfen. Die Stellung der Maria von Magdala und anderer Frauen im Jüngerkreis, die Erkenntnis, dass die Aussendung der zwölf Jünger (Mk 6,6-13 par) symbolisch auf die zwölf Stammväter Israels verweist, nicht aber auf ein künftiges Priestertum: Es böten sich viele gute Argumente, um nicht in falscher Gegnerschaft zu verharren.

Man mag erwidern, auch die Kirchen der Reformation zögen erst seit kurzem diesbezügliche Konsequenzen. Doch immerhin zogen sie sie! Hingegen ist der Hinweis, auch die Orthodoxie weigere sich, Frauen zu Ämtern zuzulassen, wenig schlagkräftig. Verschließt sich diese doch seit Jahrhunderten gegen praktisch alle theologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Auch die Aufklärung ging an ihr spurlos vorbei. Die systemverherrlichende Äußerung des Moskauer Patriarchats zu Wladimir Putins Politik liegt leider auch auf dieser Linie.

Dagegen könnte man von den Kirchen der Reformation in manchen Punkten durchaus lernen. Dies gilt nicht nur für die Stellung der Frauen, es gilt auch für Amts- und Sakramentsverständnis. Denn historisch lässt sich weder eine Amtsweihe noch die Lehre, nur geweihte Priester dürften Sakramente spenden (mit Ausnahme der Taufe und der Ehe), aus der Zeit der frühen Kirche begründen. Ähnlich verhält es sich mit der historisch äußerst unwahrscheinlichen Praxis ununterbrochener apostolischer Sukzession, also der Weitergabe des Sendungsauftrags der Apostel bis in die Gegenwart. Daraus folgt: So manches noch bestehende Hindernis auf dem Weg zu einer christlichen Ökumene wäre bei gutem Willen überwindbar.

Irrtümer zugeben

Was aber haben die zuletzt genannten Problemfelder mit den drei symbolträchtigen Jahreszahlen zu tun? Mir scheint, es ist das Sich-Sperren gegen neue, nicht auf dem Boden der Kirche gewachsene Erkenntnisse und Entwicklungen, es ist der latente Anspruch auf Unfehlbarkeit, es ist die liebgewonnene Illusion, die Kirche habe sich in Glaubensfragen nie geirrt, was es schwer macht, frühere Irrtümer zuzugeben.

Der Blick auf die Geschichte zeigt jedoch, dass die Kirche sehr wohl frühere Lehraussagen zu ändern wusste oder später gar ins Gegenteilige verkehrte; vom Zinsverbot bis zur Religionsfreiheit ließe sich da manches Beispiel finden. In jüngster Zeit hat sich diesem Zusammenhang vor allem der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf gewidmet (vgl. sein Buch: „Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte“, München 2015). Gibt es also Chancen für die Kirche, wieder an Glaubwürdigkeit und zuerkannter Aufmerksamkeit zu gewinnen, wenn sie das Motto des Konzilspapstes Johannes XXIII., es bedürfe eines „Aggiornamento“, eines „Heutig-Werdens“, endlich ernstnähme?

Die Jahreszahlen 1633, 1864 und 1968 können symbolisch für den Vorwurf kritischer Intellektueller stehen, die katholische Kirche sei im Großen und Ganzen rückständig und weltfremd: Mit der Verurteilung Galileo Galileis 1633 habe sich die Kirche gegen die moderne Wissenschaft gestellt. Sie habe darüber hinaus mit der Verwerfung wichtiger Errungenschaften der Aufklärung, durch den sogenannten Syllabus errorum 1864 von Papst Pius IX. den Katholiken verboten, sich als moderne Menschen zu verstehen. Und schließlich habe sie mit dem Verbot künstlicher Empfängnisverhütung die heutige Lebenswirklichkeit vollends aus dem Blick verloren. Doch hinter all dieser Kritik steckt ein weiterer schwerwiegender Vorwurf: Kirchengeschichte sei die Geschichte eines Jahrtausende währenden Machtstrebens, das mit der Konstantinischen Wende Anfang des 4. Jahrhunderts begonnen, im Mittelalter den Höhepunkt erreicht habe und bis zur Gegenwart andauere. Vielem, was in einer „Kriminalgeschichte des Christentums“ zu lesen ist, muss man als Christ ehrlicherweise beipflichten.

Lob der Kunst

Freilich bietet sich hier auch ein unwiderlegbares Gegenargument: Die Glaubensgeschichte war und ist weit mehr als nur die Geschichte des Machtanspruchs. Daneben gibt es auch eine breite und bleibende Spur der Nächstenliebe, der Hinwendung zu den Armen, Kranken und Hilfsbedürftigen. Da finden sich ebenfalls eine Geschichte der Humanisierung barbarischer Völker und vor allem eine unerschöpfliche Weite von Kunst und Kreativität. Selbst militante Atheisten?- die es auch gibt?- können dem wenig entgegenhalten: Was wären unsere europäischen Städte ohne Kirchen? Was schauen wir uns denn als Reisende an? Weshalb erfüllen uns die Kathedralen Italiens und Frankreichs, falls wir nicht völlig unsensibel sind, mit Staunen und Bewunderung? Ja, es war der christliche Glaube, der diese Werke und Werte schuf! Gilt nicht dasselbe auch für andere Kunstrichtungen abendländischer Kultur, für Malerei und Bildhauerkunst, für Musik und Poesie? Welcher halbwegs musikalisch Empfängliche wird, mag er sich auch als noch so glaubensfern verstehen, nicht doch ein wenig Ergriffenheit verspüren, wenn er den Schlusschor aus Bachs „Matthäuspassion“ oder Händels „Halleluja“ hört? Sagen die Gedichte eines Matthias Claudius demjenigen gar nichts mehr, der das Christentum lediglich unter der Rubrik „Kriminalgeschichte“ abheftet?

Aus Fehlern zu lernen, ist auch eine christliche Tugend. Dies gilt nicht nur für den Einzelnen, es gilt auch für die Kirche insgesamt, vornehmlich für die, die besondere Verantwortung in ihr tragen. Mehr noch: Es könnte bei ehrlicher Aufarbeitung jener Fehlentwicklungen, die mit den genannten Jahreszahlen verknüpft sind, vielleicht sogar gelingen, daraus neue Überzeugungskraft für Glauben und Kirche zu gewinnen.

Gehen wir zunächst noch einmal zum Jahr 1633 zurück, in dem die Entfremdung von Kirche und Wissenschaft unausweichlich wurde. Man muss heute feststellen, dass der kämpferischste Atheismus vonseiten der Naturwissenschaften kommt. Freilich tragen dafür auch Bibelfundamentalisten eine Mitschuld, wenn sie sich zum Beispiel auf die Reformation und das lutherische „Allein durch die Schrift“-Prinzip (Sola scriptura) berufen, um ihren Kreuzzug gegen Darwins Evolutionstheorie zu rechtfertigen. Die Kampagne des britischen Wissenschaftlers Richard Dawkins gegen den Gottesglauben mag zum Teil als Gegenreaktion darauf zu erklären sein. Aber sind dies nicht alles Kämpfe an der falschen Front?

Die unüberschaubar vielen, täglich mehr und immer ausgefeilter werdenden Erkenntnisse über Natur und Kosmos müssten eigentlich alle, Gläubige wie Atheisten, zunächst einfach nur zum Staunen bringen. Dies aber wäre ein Staunen über die unfassbare Großartigkeit dessen, was der Gläubige Schöpfung nennt. Stellt sich da nicht unwillkürlich die Frage nach dem Urgrund aller Wirklichkeit, der auch der, der an keinen Gott glaubt, nicht ausweichen kann?

Wie kam der Geist in die Materie? Ist sie vielleicht nichts anderes als „geronnener Geist“? Das Rätsel, wie aus Unbelebtem Leben, Empfinden und schließlich Bewusstsein werden konnte, hat noch kein Naturwissenschaftler plausibel zu lösen vermocht. Was also steht einem fruchtbaren Dialog, ja einem Miteinander von Naturwissenschaften und Schöpfungstheologie entgegen?

Lob des Fortschritts

Dies führt jedoch auch zu einer weiteren kritischen Anfrage an die Kirche(n): Sind Liturgie und Predigt nicht nach wie vor hauptsächlich von einer eher einseitigen Kreuzes- und Erlösungstheologie geprägt, während das Gotteslob aus dem Schöpfungsglauben viel zu kurz kommt?- sieht man einmal von einigen Liedern wie dem „Te Deum“ ab? Warum bleibt die zwar schon in der Urgemeinde entstandene, heute aber kaum noch verstehbare Sühnetod-Theorie weitgehend ohne kritische Reflexion im Glaubensleben des Gottesvolkes, in Gebet und Liturgie Dabei sollte doch in der gewiss unerlässlichen Rede vom Kreuz vor allem das Mitleiden Gottes mit der Kreatur, sollte die Hoffnung auf Auferstehung und ewiges Leben im Zentrum stehen.

Bedeutsam ist noch ein weiterer Ansatzpunkt für den Dialog von Glaube und Naturwissenschaften. Deren ungeheurer Erfolg?- vor allem seit der industriellen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts?- machte unbestritten nicht nur die Bedrohung der ganzen Menschheit und der Schöpfung durch Waffentechnik oder Kernspaltung möglich, sondern führte eben auch zu einer einst unvorstellbaren Erleichterung und Verlängerung unseres Lebens. Der medizinische Fortschritt, Errungenschaften wie Elektrizität oder Digitalisierung, um nur ein paar Beispiele zu nennen, tragen, indem sie das Alltagsleben gegenüber allen früheren Zeiten so viel einfacher und bequemer machen, bei vernünftigem Gebrauch auch zur Humanisierung bei. Der Theologie fällt dabei freilich die Aufgabe zu, die Frage zu klären, was bei dem, was machbar ist, Leben fördert oder aber zerstört. Sicherlich gibt es oft gerade keine einfachen Lösungen?- was die Fragen umso wichtiger macht. Aber auch hier gilt: Ohne seelsorgliche Vermittlung bleiben selbst bestbegründete theologische Erkenntnisse wirkungslos.

Lob der Aufklärung

Im Zeitalter der Globalisierung und der damit zusammenhängenden Probleme wie etwa des gewaltbereiten Islam denken viele darüber nach, was abendländische Kultur eigentlich ausmacht. Gerade dabei spielt das Jahrhundert der Aufklärung eine zentrale Rolle. Angesichts der päpstlichen Verurteilung der Aufklärung 1864: Warum nur bringen wir Christen nicht deutlicher zum Ausdruck, dass die meisten Errungenschaften der Aufklärung, dass die Idee der Menschenrechte und die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Wesentlichen Folgerungen des jüdisch-christlichen Glaubens sind? Warum wurde das damals weder der Mehrheit der Aufklärer noch Päpsten und Bischöfen bewusst?

Jene Werte wurzeln nicht in der Vorstellungswelt Indiens, Chinas oder anderer Kulturen. Weder Hinduismus noch Buddhismus, weder Yoga noch Zen-Meditation führen zu ihnen. Aber im Alten Testament und zum ersten Mal bei den Propheten finden wir die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Sie wird zum Maßstab für das Einhalten des Bundes, den der Gott JHWH mit Israel schließt. Auch Jesus sah sich in dieser prophetischen Tradition. Stellt die Kirche da nicht ihr Licht unter den Scheffel?

Kirchlicherseits wird gern eingewandt, bereits das Zweite Vatikanische Konzil habe dies doch alles zurechtgerückt. Das mag sein. Doch ist zum einen die Sprache konziliarer Verlautbarungen nicht die des modernen Zeitgenossen. Zum anderen gingen die modernen Erkenntnisse kaum in die Verkündigung ein, weshalb sie „unten“ nur selten ankamen. Noch einmal: Die Werte der Aufklärung ruhen auf jüdisch-christlichem Fundament. Wenn heute viele Atheisten meinen, die Menschenrechte und die Ideale des 18. Jahrhunderts gegen das Christentum ausspielen zu müssen, sind sie sich der Wurzeln ihres Denkens nicht bewusst.

Der christliche Glaube hat jedoch noch ein „Mehr“ zu bieten: die begründete Hoffnung, dass dieses irdische?- und allzu oft auch erbärmliche?- Dasein nicht die ganze Wirklichkeit ist. Es ist die Zuversicht, dass das Böse eben nicht das letzte Wort hat, „der Henker nicht triumphiert“, wie der Sozialphilosoph Max Horkheimer einmal notierte. Sicherlich gehört der Tod zur Schöpfung. Aber diese, so der jüdisch-christliche Glaube, ist eben noch nicht vollendet, sondern harrt der Erlösung.

Lob der Sexualität

Das Jahr 1968 steht symbolisch für das in der katholischen Kirche nicht aufgearbeitete Problem der Sexualität. Warum gelingt es Amtsträgern in der Kirche so selten, den Blick von einem einseitig naturrechtlichen Denken zu lösen, um auf das Wesentliche zu kommen: auf gegenseitige Rücksichtnahme und Zärtlichkeit, auf Sensibilität und Freude aneinander? Und es geht um einen ganz anders gearteten „Missbrauch der Geschlechtskraft“, der mehr denn je eine ethische Haltung erfordert. Was ist mit den menschenverachtenden „Nebenwirkungen“ einer fast schon totalitären Sexualisierung der Gesellschaft? Ist der Grundsatz: „Erlaubt ist, was gefällt“ wirklich human? Ist sexueller Missbrauch von Kindern und Abhängigen nur ein juristisches und psychotherapeutisches Problem? Geht nicht die sogenannte sexuelle Befreiung, für die ja 1968 ebenfalls steht, bis heute vornehmlich auf Kosten der Frauen? Müssten nicht vor allem weibliche Empfindungen zum Maßstab einer humanen Sexualität werden? Dilige et quod vis fac (Liebe und tue dann, was du willst)! Dieser Satz des Augustinus?- der ihn wohl etwas anders verstanden haben mochte?- könnte auch hier Orientierung geben.

Leider aber gilt die katholische Kirchenführung bei der überwiegenden Mehrheit des Kirchenvolks als wenig kompetent, wenn es um Fragen zu Sexualität und Familie geht. Es kann aber doch keine Lösung sein, dass sich deshalb jedes Kirchenmitglied seine eigene, nach seinen jeweiligen Vorstellungen lebbare Sexualmoral zurechtlegt.

Viele Chancen gäbe es, mit ernsthaften Kirchen- und Glaubenskritikern im Gespräch zu bleiben, Argumente auszutauschen, vielleicht sogar zu überzeugen. Die Kirche ist noch nicht am Ende, auch wenn es sich manch ein Gegner wünscht. Aber sie bedarf einer kritischen und ehrlichen Selbstbetrachtung, ganz so, wie sie unter anderem Hans Küng gewagt hat (in „Ist die Kirche noch zu retten?“): „Überleben … kann eine Kirche, die am christlichen Ursprung orientiert und auf die gegenwärtigen Aufgaben konzentriert ist.“

Glaubwürdig werden, das bedeutet zuallererst eines: Es muss gelingen, gerade den gesprächsbereiten Kirchen- und Religionskritikern einleuchtend zu machen, dass der Glaube an Gott, den Schöpfer und Erlöser, einen guten, wenn nicht den besten Weg zu wahrer Humanität weist.

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