Gewaltenteilung wird als die wirksamste politische Idee der Neuzeit gewöhnlich dem Philosophen Charles de Montesquieu (1689-1755) zugeschrieben. Exekutive, Legislative und Judikative getrennt zu halten, gilt im Westen als Kerngedanke demokratischer Ordnung. Diese innerstaatliche Gewaltenteilung hat sich außerordentlich bewährt. Und wir durften uns so sehr daran gewöhnen, dass wir kaum mehr bemerken, wie künstlich sie ist. Das erste Modell von Gewaltenteilung hat allerdings sehr viel ältere Wurzeln. Weil es ebenfalls nicht in den Genen eingeschrieben ist, war es lange umkämpft und ist plötzlich wieder von höchster Aktualität: die Trennung von Staat und Religion. Auch sie hat sich als segensreich erwiesen, und zwar für beide Seiten. Auch sie ist keineswegs selbstverständlich.
Macht, vor allem politische Macht, will sich selbst erhalten. Wer an der Spitze angekommen ist, hat gelernt, Rivalen auszustechen. Wer gezwungen war, seine Herrschaftsgewalt zu teilen, musste befürchten, sie bald ganz zu verlieren. Gewaltenteilung ist instinktwidrig. Im Rudel und im Schwarm zeigt das Alpha-Tier, wo es langgeht. Hier herrschen klare Verhältnisse. Das war und ist bei den Horden des Homo sapiens nicht anders. Gerade bei dieser geselligen Gattung wirkt der Machtinstinkt. Er befiehlt die Alleinherrschaft. Daher kann es nicht erstaunen, dass Herrschaft weltweit, vor allem in allen alten Kulturen, den Machtfaktor Religion mit einschloss. Welcher Herrscher wollte schon auf die sakralen Bindungskräfte verzichten? Die Fundamente seiner Macht über Köpfe und Herzen durch Heiligung auszuhärten, war eine unwiderstehliche Versuchung.
Daher stellt der Gottkönig den Urtypus gesellschaftlicher Machtausübung dar. Sein Wort ist Richterspruch und Gesetz zugleich. Auf sein Kommando hört nicht nur die Generalität, sondern auch die Priesterschaft, die in den Tempeln seinem Standbild räuchert.
Tenno, Pharao, Dalai Lama …
„Sohn des Himmels“ hieß im alten China der Kaiser. Japans Tenno (Himmelskönig) galt als Abkömmling der göttlichen Sonne. Erst 1945 musste er als Gott abdanken. Der Pharao im alten Ägypten hatte selbstverständlich göttliche Ahnen. Die klassische Karriere eines römischen Kaisers erreichte mit seiner Vergöttlichung ihren Höhepunkt. Wie ein lebendes Denkmal der Theokratie wirkt der Dalai Lama, der bis zu seiner Vertreibung aus Tibet in seiner Person noch geistliche und weltliche Macht vereinte. Kurios und auch wieder nicht ist, dass selbst in offiziell atheistischen Diktaturen wie Nordkorea der Personenkult religionsförmige Gestalt angenommen hat.
Die Verschmelzung geistlicher und staatlicher Macht ist von den Priesterkönigen Afrikas bis zu den Herrschern Saudi-Arabiens, die ihre Legitimität auf ihre Rolle als Hüter der heiligen Pilgerstädte Mekka und Medina stützen, nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Ausnahme dagegen ist die Scheidung von Religion und staatlicher Macht. Diesen Ausnahmezustand zum allseits anerkannten Dauerzustand zu machen, ist der nervös bewachte Kern der Demokratien westlichen Typs. Auch dort, wo er nicht lupenrein funktioniert, wird er als Fassade inszeniert und damit als Norm anerkannt. Ohne ihn gibt es keine Freiheit.
Schwer tut sich offenbar der Islam mit der Trennung von Religion und Regiment. Der Koran ist weniger ein Glaubens-Katechismus als ein Gesetzbuch für das gemeinschaftliche richtige Leben. Mit der neuen Blüte des Islam mehren sich daher die Versuche, die Scharia, das islamische Recht, wieder zur Grundlage auch staatlicher Gesetzgebung zu machen. Nigeria ist kein Einzelfall. Auch die Staaten der Arabellion sind nicht frei von dieser Versuchung.
Gewalt durch JHWH?
Ein oberflächlich laizistischer Gründungsmythos ließ lange die Türkei als Modell dafür erscheinen, dass es auch in der Gemeinschaft aller Muslime, der Umma, gelingen könnte, Staat und Religion zu trennen. Das Erstarken der religiösen Partei Recep Tayyip Erdogans vor dem Hintergrund einer weltweiten Neubelebung des Islam setzt ein Fragezeichen auch hinter dieses Experiment. Eine Rückbesinnung auf den Glutkern des Ein-Gott-Glaubens könnte allerdings auch dem Islam eine interessante Perspektive geben.
Dass die Eschata, die sogenannten Letzten Dinge, die höchsten Güter und die tiefsten Werte nicht irdischen Machthabern - Menschen aus Fleisch und Blut - gehören, ist eine Vorstellung, die, gerade weil sie gewissermaßen „unnatürlich“ ist, höchst beabsichtigt und gewollt sein muss. Woher aber stammt diese Idee?
Die eschatologische Gewaltenteilung ist der Ursprung aller Gewaltenteilung - das ist meine These. Ihre Entstehung liegt in der Konsequenz des biblischen Ein-Gott-Glaubens, und zwar von Anfang an. Hier tritt sie erstmals in Erscheinung. Die vom Ägyptologen Jan Assmann angestoßene und anhaltende Debatte über die kulturellen Folgen der „Mosaischen Unterscheidung“ hat genau dieses Ergebnis, obwohl sie es gar nicht anstrebte.
In einer ersten aufgeregten Phase beschäftigte man sich mit der Frage, ob mit der Religionskritik Israels an den Kulten der alten Welt erstmals Religion als Quelle von Krieg und Gewalt aufgetreten sei. Welche Frage ist angesichts der gegenwärtigen Konflikte aktueller? Ist der Monotheismus als Ermächtigungsideologie ein politisches Gift, das Wahrheitsbesitzern ein religiös geschärftes Schwert in die Hand gibt? Wer die hebräische Bibel, etwa das Buch Josua, in die Hand nimmt, kann diesen Eindruck gewinnen. In der Tat geht Israel nicht zimperlich mit Amalekitern und Philistern um, die in dem Land wohnen, das der neue und einzige JHWH seinem Bundesvolk versprochen hatte.
Kriege aber hat es weiß Gott vorher auch schon gegeben. Seit wann wären Eroberer um Gründe verlegen? Dem Wolf, der Appetit auf das Lamm hat, ist noch immer etwas eingefallen. Um Krieg zu rechtfertigen, bedarf es keiner Religion. Und dort, wo Religion und Herrschaft in derselben Spitze zusammenkommen, war jeder Krieg immer auch ein Religionskrieg. Die Bilanz der Gewalt ist durch Moses nicht erkennbar gestiegen. Was war dann wirklich neu am biblischen Ein-Gott-Glauben?
Die Religionskritik Israels entlarvt Betrug und Selbstbetrug. Wenn die Gottheiten des Polytheismus, jener in vielen „Dialekten“ verbreiteten Normalreligion der alten Welt, unter den Verdacht gestellt werden, allesamt selbstgemacht zu sein, nichts weiter als die Verlängerung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche, gemäß dem Merksatz: kein menschliches Interesse ohne himmlische Adresse, ist eine philosophische Wahrheitsfrage in der Welt. Ob ausgerechnet die Wahrheitsfrage es ist, die notwendig zu Krieg und Gewalt führt, mag weiterhin diskutiert werden. Die gewaltsamen Eroberungen, von denen das Alte Testament berichtet, werden meist bundestheologisch begründet. Die Landnahme der Israeliten beruft sich nicht auf Vernunft und Wahrheit, sondern auf den Besitztitel, der auf Gott, den großen Bundesgenossen, zurückgeführt wird.
Vorspiel am Nil?
Unbestreitbar hat der Ein-Gott-Glaube immer wieder einmal als Ermächtigungsideologie herhalten müssen. Offensichtlich erliegen tatsächlich auch Monotheisten immer wieder einer gefährlichen usurpatorischen Versuchung. Der Usurpator, also einer, der widerrechtlich Besitz an sich reißt, sitzt auf dem Thron, der ihm nicht zusteht. Usurpatorische Theologie ist die Erschleichungsstrategie von Gottesfürchtigen, die schon wegen ihres frommen Eifers „wissen“, dass ihre Interessen mit denen Gottes identisch sind. Die sichere Kenntnis der göttlichen Ratschlüsse erscheint, bei Licht besehen, allerdings wie ein Rückfall in die Vielgötterei, der man doch vorgeworfen hatte, es seien die eigenen Bedürfnisse und Interessen, die hinter der Produktion von Göttern stehen. Dagegen steht der wuchtige Gottesspruch des Propheten Jesaja: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken …“ (55,8).
Deus vult, „Gott will es!“ war der Schlachtruf der Kreuzritter. Und Allahu akbar, „Gott ist groß!“ riefen die Flugzeugentführer an den Steuerknüppeln am 11. September 2001 schrecklich gewiss - aber war das neu? Göttliche Bundesgenossen hatten schon die Helden Homers. Religion als machtverstärkende Ideologie begleitet, Gott sei’s geklagt, die Geschichte der Religionen, auch der monotheistischen. Das ist also etwas, was in allen Religionen vorkommt, monotheistisch wie polytheistisch. Indien zum Beispiel leidet unter den Ausbrüchen gewalttätiger hinduistischer Polytheisten.
Nun tritt das auf den ersten Blick weniger aufsehenerregende, auf den zweiten aber höchst bemerkenswerte Ergebnis der aktuellen Debatte über den Monotheismus in den Blick, das eigentlich unterscheidend Neue dieses Qualitätssprungs. Jan Assmann hatte sich in der Spur Sigmund Freuds noch einmal mit der Episode von Amarna und ihren Folgen beschäftigt, die der Begründer der Psychotherapie in dem Buch „Der Mann Moses“ verfolgt hatte.
Zugrundegelegt sind die Ereignisse um den Pharao Amenophis IV., Echnaton genannt. Dieser hatte die Priester entmachtet und die vielen Gottheiten seines Reiches zu einer einzigen eingeschmolzen. Für diesen Singular bot sich die spektakulärste Singularität des Kosmos an: die Sonne. Ob dieses monotheistische Vorspiel am Nil, das nach dem Tod des Pharao-Reformators von der Priesterschaft wieder einkassiert wurde, fast spurlos verschwand oder eine unterirdische Tradition hinterließ, die bis zum Mann Moses reichte, diskutieren die Fachleute. Es gibt aber - so Jan Assmann - einen beachtlichen Unterschied zwischen der Sonne am Nil und der Stimme aus dem brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch am Sinai. Es ist ein Unterschied ums Ganze.
Schriftkult statt Kultbild
Der Entzündungsherd der biblischen Religionskritik war zunächst ein aufklärerischer Verdacht. Bis ins Kleinste erzählt Jesaja (Kap. 44) den Herstellungsprozess von Göttern aus Metall oder Holz. Götter selbst können nicht besichtigt werden, wohl aber ihre Statuen. Diese sind von Menschenhand gemacht. Ihre Existenz verdankt sich einer (Selbst-)Täuschung: dem Bedürfnis nach himmlischen Adressen. Auch in der Geschichte vom Goldenen Kalb (Ex 32) wird genau geschildert, wie die Söhne und Töchter Israels ihre goldenen Ohrringe hergeben, wie Aaron eine Skizze zeichnet und dann das Götzenbild herstellt. In der biblischen Polemik sollen die Verehrer selbstgemachter Götter möglichst dumm aussehen. Erst machen sie sich Götter, am Ende tanzen sie verzückt um ihr eigenes Produkt. In der Logik dieser Kritik liegt die Wendung der Denkrichtung um 180 Grad: Ein Gott, dessen Existenz nicht auf menschliche Projektionen zurückgehen darf, muss sie sich selbst verdanken. Dem Menschen wird die Erlaubnis entzogen, sich Götter nach seinen Bedürfnissen und Wünschen zu machen. Seine Zuständigkeit hat Grenzen. In diesem Entzug liegt der Keim der Gewaltenteilung.
Auch bei den Pythagoräern und in der vorsokratischen Aufklärung des antiken Griechenlands findet sich eine vergleichbare Religionskritik. Sie blieb auf geistige Eliten beschränkt, beschädigte aber kaum die öffentlichen Götterkulte der alten Welt. Es fragt sich, warum die biblische Aufklärung nicht ebenso folgenlos blieb.
Die Antwort gibt der Scriptural turn, die Hinwendung zur Schrift. Sie wird zum Gottesmedium, das an die Stelle von Kultbildern treten kann. Kultobjekt ist nun die Schrift: als Heilige Schrift. In der Geschichte der Religionen ist es noch nie vorgekommen, dass Kulte ersatzlos verschwinden. Erst der Schriftkult macht es möglich, die Kultbilder zu ersetzen.
Dass die Götterbilder keine Götter sind, sondern diese nur bedeuten, werden klügere Polytheisten immer schon gewusst haben. Sie waren ja nicht wirklich dumm. Aber dass das Bildnis eine magische Aufladung bekam und dann mit der Gottheit selbst verwechselt werden konnte, war einfach nicht zu verhindern. Erst der Wechsel zur Schrift als neuem „Ort Gottes“ schloss medientechnisch die Verwechslung aus. Denn Schrift ist ihrem Wesen nach niemals das, was sie bedeutet. Präsent ist einzig sie selbst. Was sie bedeutet, bleibt meistens entzogen. Das gleichzeitige Nebeneinander von Präsenz und Entzug hat das neue Gottesmedium mit Gott selbst gemein. Das ist mehr als eine Pointe. Gott ist anwesend abwesend.
Im Gottesnamen, dem sogenannten Tetragramm, den vier Buchstaben JHWH, ist der neue Monotheismus „Gestalt“ geworden. Es lohnt sich, ihn unter eine sprachlogische Lupe zu legen. JHWH, dieses „Ich bin da“, ist die allgemeinste denkbare Bestimmung. Als „Name“ kann es sie nur einmal geben. Jedes Unterscheidungsmerkmal aus der Welt unserer Erfahrung fehlt diesem „Namen“. Darin unterscheidet sich JHWH von allem, was sonst existiert. Er ist kein Ding in der Welt, sondern ihr Gegenüber und - wie im Buch Genesis eindrucksvoll ausgesungen - ihr Schöpfer, der Hintergrund aller Erfahrung. Eine einmalige Form des Seins. Das ist schon genial. Die Einzigkeit des Einen ist sprachlogisch abgebildet. Dass der neue Gott des alten Israel kein Teil des Kosmos ist, dass er auch der Schöpfer von Sonne, Mond und Sternen ist, unterscheidet ihn radikal von der Sonnenreligion Echnatons.
JHWH wird zum Gegenüber und Widerlager der Welt. Diese bekommt ein Vorzeichen. Plötzlich hat der König von Israel noch einen Herrn über sich, mit dem er Macht und Gewalt teilen muss. Undenkbar, dass im alten Orient ein Priester seinen obersten Herrn und Herrscher in die Schranken weisen und zur Rede stellen könnte. Genau das aber tut der Prophet Natan. Er stellt sich vor König David und spricht: „Warum hast du das Wort des Herrn verachtet und etwas getan, was ihm missfällt? Du hast den Hetiter Urija mit dem Schwert erschlagen und hast dir seine Frau zur Frau genommen“(2 Sam 12,9).
Entmächtigte Mächte
In Israel herrscht erstmals eine eschatologische Gewaltenteilung. Gottes Gesetz und Propheten entmächtigen die Mächtigen. Mit einem überweltlichen Herrscher zu wetteifern, ist sinnlos. Gott wird zum unangreifbaren Konkurrenten der Herrscher. Ist seine unsichtbare Wirklichkeit einmal anerkannt, kann er, anders als Menschen von Fleisch und Blut, durch keinen Krieg beseitigt werden.
Es folgt eine bewegte Geschichte. Propheten wie Hosea legen sich mit den Königen an: „Ein König - was könnte er für uns tun? Sprüche machen, Meineide schwören, Bündnisse schließen; und die Rechtsprechung wuchert, wie in den Ackerfurchen das giftige Unkraut“ (10,3f). Sie lesen den Machthabern die Leviten, fordern Gerechtigkeit und machen sich zu Anwälten der Witwen und Waisen. Im Neuen Testament macht Jesus die Gewaltenteilung stark: „Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist“ (Lk 20,25). Am Ende stellt Pilatus die Königsfrage. Darauf Jesus: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen“ (Joh 18,36). Von Hinrichtung bedroht, führt er dann Pilatus, dem Herrn über Leben und Tod, dessen Zweitrangigkeit vor Augen: „Du hättest keine Gewalt über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre“ (Joh 19,11).
Als zur Zeit der frühen Kirche der Kaiser göttliche Ehren beanspruchte, ließen sich Christen lieber umbringen, als dem Kaiser zu geben, was Gottes ist. Sie verweigerten das gebotene Kaiseropfer. Im Machtkalkül des römischen Kaisertums war die Christenverfolgung eine instinktsichere Antwort auf eine echte Bedrohung. Denn so staatstreu und sanftmütig sich die neue jüdische Sekte auch gab, sie bestritt dem Kaiser seine machtverstärkende Göttlichkeit. Während das Römische Reich zerfiel, entwickelte Augustinus die Lehre von den „zwei Reichen“, der Civitas Dei („Staat Gottes“) und der Civitas terrena („irdischer Staat“).
Staat und Religion
Es ist nun nicht so, dass sich in 2000 Jahren Christentumsgeschichte nie das Modell der gottgelenkten Machtausübung durchgesetzt hätte. Bis heute hat in den Ländern christlich-orthodoxer Prägung das Staatskirchentum Tradition. Auch im Westen gab es Ausreißer: steile, wie das Genfer Regiment des Reformators Johannes Calvin oder die Gottesherrschaft der Täufer um Jan Bockelson in Münster, und auch weniger steile. Kaiser Otto der Große zum Beispiel gab Bischöfen weltliche Macht. Auch Luthers Reformation verhalf den Landesfürsten zu einer Art Bischofswürde. In Canossa spielte der gebannte Kaiser Heinrich IV. die Karte kalkulierter Demütigung vor dem Papst. Die Verbindung zwischen höchster weltlicher und höchster geistlicher Macht (Caesaropapismus) oder das sogenannte Gottesgnadentum sind absolutistische Ideologien der Machtausübung. Napoleon demütigte dann den Papst und machte ihn zum Notar seiner Selbstkrönung. Laizistisch schroffe Trennung in Frankreich, freundliche in den USA - kaum eine Variante wurde ausgelassen. Im Westen regierte ein unruhiges Hin und Her.
Seit einem Jahrhundert etwa hat das westliche Christentum sich mehr und mehr aus der politischen Machtausübung zurückgezogen und die eschatologische Gewaltenteilung so ziemlich anerkannt. Erst der nicht ganz freiwillige Verzicht auf den Kirchenstaat 1929 hat die römische Kirche zu jener moralischen Instanz gemacht, die sie in der Folge werden konnte. Inzwischen untersagt das Kirchenrecht den Geistlichen, politische Ämter anzunehmen. Der schwache Kirchenbegriff des Protestantismus hat dagegen die Folge, dass ein Pfarrer Bundespräsident sein kann, ohne dass auch nur der Verdacht aufkommt, die Republik werde schleichend in eine Gottesherrschaft, also eine Theokratie, verwandelt.
Der Kerngedanke der Entmächtigung, der auch ordentliche staatliche Institutionen unter einen grundsätzlichen Vorbehalt stellt, tritt im Grundgesetz der Bundesrepublik besonders klar zutage. Hier ist der Staat gerade nicht die oberste Instanz. 1949 steckte den Autoren der Verfassung die Erfahrung des NS-Totalitarismus noch in den Knochen. Den Stalinismus hatten sie direkt vor Augen. Indem sie allen Gesetzesartikeln in der Präambel ein göttliches Vorzeichen voranstellten, sicherten sie die Republik vor jeder Art Totalitarismus.
Hier tritt die entmächtigende Tradition des Monotheismus rein zutage, ohne eine bestimmte Religion oder Konfession zu bevorzugen. Der wilde Widerstreit von Herrschaft und Heil ist in dieser Verfassung erstmals konstruktiv beruhigt worden. Diese Errungenschaft ist eine Kostbarkeit. Der vom Politikwissenschaftler Dolf Sternberger einst erhoffte Verfassungspatriotismus hätte hier seinen Kern.
Die laizistischen Kämpfer, die in der europäischen Verfassungsdebatte dieses Modell ablehnten, verkannten den rein negativen Sinn des Gottesbezugs: Der Staat entmächtigt sich selbst. Genau diesen Punkt hat Voltaire (1694-1778), Held der Aufklärung, scharf ins Auge gefasst in dem berühmten Satz: Si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer - „Wenn Gott nicht existierte, müsste man ihn erfinden.“ Wer Gott als negativen Bezugspunkt der Entmächtigung tatsächlich erfinden würde, dürfte aber um den Preis eines Selbstwiderspruchs nicht preisgeben, dass er ihn erfunden hat. Daher stellte Voltaire seinen Satz in die Verbform des Konditionalis, der Bedingungsform.
Artikel 7, Absatz 3 Grundgesetz
Voltaire war Theist. Wir wissen nicht, ob er wirklich an Gott glaubte oder ob er diesen Glauben nur für funktional nützlich hielt. Der Satz stammt aus einem Brief von 1768 gegen die atheistischen Verfasser des anonym veröffentlichten Werks „Die drei Betrüger“, in dem Voltaire sich gegen den Atheismus wendet. Trotzdem bietet er auch für einen Atheisten das Argument: Du musst gar nicht an die Existenz Gottes glauben, um die Berufungsinstanz, mit der kein Mächtiger um den Vorrang kämpfen kann, für eine Größe zu halten, auf die man nicht verzichten kann.
Weil er sich in positiven Religionsdingen keinerlei Zuständigkeit anmaßt, braucht der Staat, etwa beim Religionsunterricht, die Religionsgemeinschaften als Partner. Vorbildlich befolgt die Verfassung im Artikel 7, Absatz 3, den Grundsatz der eschatologischen Gewaltenteilung und wird den Religionsgemeinschaften gegenüber nicht übergriffig. Nur ihnen kommt es zu, Inhalt und Ausübung ihrer Konfession auszugestalten. Artikel 4, der die Religionsfreiheit für Gläubige wie Ungläubige garantiert, macht die Konstruktion komplett. Sie hat sich glänzend bewährt.
Die Ankunft des Islam in Deutschland wirft die Frage auf, wem die Anstrengung der Anpassung aufzubürden ist. Das Grundgesetz den theokratischen Traditionen des Islam anzupassen, wäre absurd. Ist andererseits den angekommenen Migranten eine Anpassung zuzumuten?
Wenn kluge Muslime ihre Religion modernitätsverträglich machen wollen, fänden sie im Gedanken der eschatologischen Gewaltenteilung eine interessante Spur, denn ohne Zweifel ist der Islam eine monotheistische Religion.