GottesfrageWort und Feuer statt Schall und Rauch

Warum ein abstrakter "Gott" nicht zu glauben ist. Zur Diskussion.

Der britische Orientalist Solomon Caesar Malan (1812-1894) hat einen Traktat verfasst, den er mit der Frage überschrieb: „Wer ist Gott in China, Shén oder Shàngdì?“. Dahinter stand eine heftige Debatte unter evangelischen Missionaren und Orientalisten im 19. Jahrhundert, als es darum ging, die Bibel ins Chinesische zu übersetzen. Da man sich nicht einigen konnte, entstand die entsprechende Standardausgabe der Bibel sowohl in einer Shàngdì- als auch in einer Shén-Fassung. „Heidengott“ oder „Pantheismus“: Die gegenseitigen Vorwürfe greifen Unzulänglichkeiten beider chinesischer Zuschreibungen auf. Shàngdì („Überherr“) ist ein Name, dem die Kaiser im Reich der Mitte alljährlich Opfer darbrachten, um sich der Zustimmung des Himmels je neu zu versichern. Der Einwand ist aus christlicher Sicht naheliegend: Wird mit Shàngdì nicht ein heidnischer Gott angerufen? Der Gattungsname Shén („Geistwesen“) hingegen entkommt dieser Verfänglichkeit. Allerdings ist Shén nicht genauer theologisch einzuordnen. Auch eine verehrte Ahnenseele kann sich als Shén segensreich für Nachgeborene auswirken. Somit besteht zwischen „Gott“ und „Mensch“ kein physischer Unterschied, was wiederum den Vorwurf eines Pantheismus zur Folge hat, also jener Auffassung, wonach Gott in der Welt aufgeht.

Der Name: JHWH...

Chinesische Namen - neben Shàngdì und Shén kommt auch noch katholischerseits Tianzhu („Himmelsherr“) hinzu - können nicht das zur Sprache bringen, was europäisch unter „Gott“ verstanden wird. Der Ein-Gott-Glaube bringt drei metaphysische Aussagen auf den Begriff des absoluten Einen: Einer ist der unbedingte Ursprung von allem; er ist zugleich das zeitenthobene Sein-selbst; und er ist die selbst gedachte Idee des Guten. Eine solche „Dreieinigkeit“ verdankt sich nicht etwa dem biblischen Zeugnis, sondern ist dem Christentum durch die griechische Philosophie zugedacht worden. Da im Kontext chinesischer Weltanschauung einwertige Festlegungen auf Ursprung und Sein undenkbar sind, kann der westliche metaphysische Gottesbegriff nicht ins Chinesische übersetzt werden. Kein Wunder, dass jesuitische Versuche, den Monotheismus in China geltend zu machen - so Matteo Ricci mit seiner Schrift „Die wahre Lehre vom Himmelsherrn“ -, von konfuzianischen und buddhistischen Gelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts als widersinnig erklärt worden sind.

Während im Chinesischen ein eindeutiger Gottesbegriff fehlt, scheint man im europäischen Denken davon unberührt zu sein. So entgegnet ja Johann Wolfgang von Goethes Faust in der Tragödie erster Teil der verfänglichen Gretchenfrage nach der Religion mit der Verkündigung einer gottwesentlichen Namenlosigkeit: „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch“.

Der christliche Gottesdienst wiederum beginnt mit Segensworten: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Aber wer ist damit namentlich gemeint - etwa „Gott“? Hat der überhaupt einen Namen? Es war der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929), der in seinem Werk „Stern der Erlösung“ solcher Anonymität entschieden widersprochen hat: „Name ist nicht, wie der Unglaube immer wieder in stolz-verstockter Leere wahrhaben möchte, Schall und Rauch, sondern Wort und Feuer. Den Namen gilt es zu nennen und zu bekennen: Ich glaub’ ihn.“

Wort und Feuer statt Schall und Rauch: Franz Rosenzweig hatte mit seinem Widerspruch das biblische Zeugnis hinter sich. „Name“ ist ein biblisches Schlüsselwort, allerdings nicht im Zusammenhang von „Gottesnamen“. In den deutschsprachigen Bibelübersetzungen ist zunächst vom „Namen des Herrn“ die Rede. Damit sind die vier hebräischen Buchstaben angesprochen, die mangels Vokale nicht auszusprechen sind - das sogenannte Tetragramm JHWH.

Auf barocken Hochaltären ist dieser hebräische Namenszug auch in unseren Kirchen sichtbar, aus gutem Grund: Dem biblischen Zeugnis zufolge vernimmt Mose am Sinai den Namensaufruf JHWHs: „JHWH ist JHWH, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue“ (Ex 34,6). Er stellt sich namentlich als „JHWH“ vor. „Gott“ gilt ihm lediglich als Prädikatsnomen. Biblisch kommt der Eigenname JHWH dem Gattungsnamen „Gott“ zuvor. „JHWH ist Gott“ heißt es in der Bibel, und nicht umgekehrt.

Nun scheint gleich der erste Satz der Bibel dem bislang Gesagten zu widersprechen: „Im Anfang schuf Gott (elohim) Himmel und Erde“ (Gen 1,1). Hier wird „Gott“ als Subjekt geführt, allerdings stellvertretend für JHWH. Es handelt sich dabei um eine sogenannte Antonomasie („anstelle des Namens“), eine rhetorische Wendung, bei der ein Gattungsname an die Stelle des Eigennamens tritt. Der Gattungsname elohim ist so sehr mit JHWH verbunden, dass er auch an dessen Stelle treten kann, ohne diesen jedoch zu ersetzen. So ist dies in christlicher Tradition bei „Jesus Christus“ der Fall, wenn der Titel „Christus“ („Gesalbter“) anstelle des Eigennamens „Jesus“ geführt wird.

Weshalb im Alten Testament der Gattungsname „Gott“ - selbst in der direkten Anrede - immer wieder anstelle des Eigennamens JHWH verwendet wird, erschließt sich nicht zuletzt aus dem zweiten der Zehn Gebote: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht“ (Ex 20,7). Im Gebrauch des Eigennamens JHWH lässt sich dessen Träger eigenmächtig für einen selbst beanspruchen oder - viel schlimmer?- kann man diesen Namen mit Dingen und Wertungen behaften, die ihn entheiligen.

Die Gefahr einer Namensbemächtigung beziehungsweise einer Namensentheiligung ist ebenfalls der Grund dafür, warum in unserer Kultur im Regelfall die eigenen Eltern nicht mit Vornamen angesprochen werden, sondern mit „Mutter“ oder „Vater“. Der eigene Respekt vor dem Namen zeigt sich in dessen Vermeidung.

Dass „Gott“ nicht als Name, sondern nur als Namensvertretung - also im Sinne einer Antonomasie?- gelten kann, ist im Christentum, im Unterschied zum Judentum, weitgehend in Vergessenheit geraten. Ursache hierfür ist eine übersetzerische Verkehrung des Namensverhältnisses. Bei der Übertragung der hebräischen Bibel ins Griechische konnte das Tetragramm JHWH weder übersetzt noch in die griechische Schrift übertragen werden. An seine Stelle trat der Titel Kyrios („Herr“), während man elohim mit ho theós („der Gott“) wiedergab.

Nun war aber der griechische Gottesbegriff bereits seit dem antiken Philosophen Xenophanes (um 570-um 470 v. Chr.) monotheistisch durchdacht worden. Im Zuge einer Hellenisierung der biblischen Botschaft wurde „Gott“ als Ursprung allen Seins oder als „erster unbewegter Beweger“ verstanden. Jedenfalls konnte im Griechischen?- wie auch später im Lateinischen?- „Gott“ nicht länger auf den Eigennamen JHWH bezogen werden. „Gott“ trat an die Stelle des eigentlichen Namens JHWH. Dass dieser Gott einen eigenen Namen hat, wurde „vergessen“ und verdrängt. Der Selbstanspruch des ersten Gebots „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Ex 20,2) ließ sich nicht mehr vernehmen. Es heißt nur noch: „Ich bin der ‚Herr‘, dein Gott…“ Aus jüdischer Namensverschwiegenheit entstand eine christliche Namensvergessenheit. War JHWH theologisch entleert, wurde stattdessen darüber nachgedacht, ob und mit welchen Namen „Gott“ benannt werden könne.

... der Geschichte bewegt

Warum aber hat das Tetragramm JHWH als Schibboleth, als Kenn- oder Codewort des christlichen Glaubens zu gelten? Warum ist ein ganz bestimmter Name und kein allgemeiner Gottesbegriff notwendig? Um der Namensbindung des Glaubens zu folgen, gilt es zu verstehen, was Namen besagen - und nicht nur bezeichnen. Im Unterschied zum Gattungsnamen spricht der Eigenname Identität an, ohne diese jedoch näher zu erläutern. Dem Namen eignet keine abstrakte, allgemeine, zeitenthobene Eigenschaft an, sondern er nimmt sich selber des Geschehens an. Was jemand erlebt und im Besonderen getan hat, hängt dessen Namen an. Im Eigennamen verdichtet und erhält sich das Geschehen über die Zeit hinweg.

Ohne namhafte Besonderheit entschwinden Ereignisse entweder in das Vergessen oder aber in die Wiederholbarkeit eines naturgesetzlichen Ursa­che­-Wirkung-Zusammenhangs. Was keinem Namen zugeschrieben ist, geht in der namenlosen Vergangenheit verloren. Ist hingegen Geschehen namentlich gefasst, kann es erinnert werden. Die Wirklichkeit des Namens macht Leben mit seinen Erfahrungen ansprechbar. Mit gutem Grund wird in Israel jedes Jahr am „Tag des Gedenkens an Schoa und Heldentum“ Zeldas Gedicht „Jeder Mensch hat einen Namen (Lechol isch jesch schem)“ feierlich rezitiert. Darin heißt es: „Jeder Mensch hat einen Namen, / den seine Gestalt und sein Lächeln ihm geben.?/ Jeder Mensch hat einen Namen, / den das Gebirge ihm gibt / und die Wände, in denen er lebt. / Jeder Mensch hat einen Namen, / den seine Sünde ihm gibt / und die Sehnsucht, die sein Leben prägt. / Jeder Mensch hat einen Namen, / den seine Feinde ihm geben / und den seine Liebe ihm gibt. / Jeder Mensch hat einen Namen, / den seine Feste ihm geben / den seine Arbeit ihm gibt.“

Nun lassen sich auch namenlose Geschichten erzählen - jemand irgendwo und irgendwann erlebt irgendetwas mit irgendwem… Allerdings zerfällt die Identität des solchermaßen Benannten mit dem Erzähl-Ende. Anonyme Identifikationen sind über den jeweiligen Zusammenhang hinaus nicht mitteilbar. Ohne Eigennamen können Geschehen nicht in einem zeitlichen Ablauf dauerhaft verbunden werden. Damit wäre Geschichtsschreibung unmöglich. Während Naturwissenschaften wie auch Metaphysik auf Gattungsnamen beruhen, ist die Geschichte bewegt durch Eigennamen, und Eigennamen bewegen Geschichte.

Was Menschen Zukunft verheißt, ist weder etwas allgemein Gedachtes noch die Natur, sondern der Name, den die glaubwürdige Geschichte trägt. So wird JHWH im Psalmgebet vertrauensvoll angegangen: „Du bist mein Fels und meine Burg; um deines Namens willen wirst du mich führen und leiten“ (31,4). Dem biblischen Zeugnis zufolge umfasst der Name all das, was JHWH an seinem Volk Israel und durch seinen Sohn Jesus Christus zum Heil der Völker getan hat. Die Taufe „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ nimmt den eigenen Namen in das dreifaltig-dreieine Heilsgeschehen mit hinein und lässt an JHWHs Handlungstreue glauben.

Wie hoffnungslos hingegen wird der Glaube, wenn er sich anstelle des Namens auf einen metaphysischen Gottesbegriff ausrichtet. Dieser anonyme Gottesbegriff kann keine zeitlichen Handlungen in sich aufnehmen. Andernfalls wäre er um seine Unbedingtheit gebracht. Man mag zwar von göttlichen Worten und Taten sprechen, aber wenn das „Gott“-Wesentliche bedacht sein will, muss von diesen lebendigen Worten und Taten abgesehen werden. Ein „Gott“, der taten- und tadellos durchdacht ist, entbehrt jedoch jeglicher Geschichte. Was ihm an zeitlosen Wesenseigenschaften zugedacht ist, kann nicht wirklich vertrauenswürdig und menschennah werden. Wer vermag schon einem bloß selbst gedachten „Gott“ wirklich zu glauben?

Mit gutem Grund hat der Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz sein Plädoyer für ein biblisch beheimatetes Leidensgedächtnis (memoria passionis) mit der Absage an einen metaphysischen Gottesbegriff verbunden. Sollte es für Menschen schlussendlich um die gedankliche Einung mit dem unbedingt Einen gehen, müssten unzählige Leidensgeschichten in namenloser Gleichgültigkeit entsorgt werden. Unsere Hoffnung findet sich nicht in einem Gottesbegriff, der Namen vergessen lässt, sondern in dem Namen, „der größer ist als alle Namen“, wie es im Philipperhymnus heißt (2,9).

So führt unser Leidensgedächtnis in das liturgische Namensgedächtnis. Wo das Pascha-Mysterium Jesu Christi vor JHWH ins Gebet genommen wird, gilt uns der Zuspruch: Namen zu Name statt Staub zu Staub. Im Namen JHWH ist Hoffnung.

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