Kein Platz ist frei. Sobald 15 Grad erreicht sind, die Wolken sich verziehen und München leuchtet, sitzen alle beisammen: Italiener, Japaner, Amerikaner, Chinesen, Russen, Bayern und Preußen. Die Ökumene im Haus der Welt ist längst verwirklicht unterm weiß-blauen Himmelszelt, in den Biergärten und Cafés von der Leopoldstraße bis zum Hofgarten, vom Viktualienmarkt bis zum Chinesischen Turm. Auf dem Marienplatz strahlt die Madonna auf ihrer Säule in glänzendstem Gold hoch erhaben über Katholiken und Protestanten, Muslime und Buddhisten, Hindus und Gar-nichts-Glaubende. Kirchenleute beschwören routiniert den Schmerz über die gespaltene Christenheit. Doch mitten im Trubel des täglichen Lebens ist davon nichts zu spüren, so einträchtig, fröhlich sind die Gäste am Tisch der Wirte versammelt. Das Paradies ist längst im Diesseits angekommen, zumindest für die Dauer einer Brotzeit mit Hendl oder Schweinswürstl und einer Maß.
Nur in Schwabing, im Gebäude der Katholischen Akademie in Bayern, wollte man sich mit dem eitel Sonnenschein derart babylonischen Friedens nicht zufriedengeben. „Heillos gespalten? Segensreich erneuert?“ Drei Tage lang haben dort in Kooperation mit der Tutzinger evangelischen Akademie Theologen des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses, der örtlichen Fakultäten sowie Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen den Stand der ökumenischen Dinge beraten und den Ertrag der Reformation gesichtet. Was ist 2017 eigentlich zu begehen, wenn der sogenannte Thesenanschlag Martin Luthers an die Wittenberger Schlosskirche vor 500 Jahren von den einen gefeiert, von den anderen betrauert, von wieder anderen als kritische Mahnung bedacht wird? Dabei leidet die - wie sie sich selber gern bezeichnet?- „Kirche der Freiheit“ besonders hart unter Auszehrung, was die geistige wie geistliche Präsenz ihrer Getauften betrifft. Dass nach jüngerer Erkenntnis der wirkmächtigste deutsche Reformator seinerzeit wohl nur ein paar Thesen zur Diskussion an das „Schwarze Brett“ der örtlichen Universität heftete, so wie man heutzutage eine Nachricht auf Facebook postet, trägt zumindest in gelehrten Kreisen dazu bei, den vermeintlich einzigartigen heroischen Akt zu relativieren. Denn ein Ereignis muss historisch gar kein besonderes Ereignis gewesen sein. Es reicht, wenn es nachfolgend zu dem gemacht wird, was es angeblich war.
Wieviel Christsein gehört zu uns?
In dem Maße, in dem die Kirchen politisch, kulturell und gesellschaftlich unter Druck geraten und geistig-intellektuell den Anschluss an die bedeutendsten Zeitentwicklungen verlieren, sollte das, was einmal die Pioniere der Ökumene bewegte, dringlichst wieder auf die religiöse Tagesordnung kommen, um des Glaubens, um Gottes willen: die entschiedene Aufhebung der Lehrverurteilungen, die gegenseitige Anerkennung der Ämter, die eucharistische Gastgemeinschaft, die echte Einigung der Kirchen als reale Möglichkeit. Doch die Pfarrgemeinden und sich aufblähenden Großpfarreien begnügen sich vielfach mit struktureller Nabelschau. Dabei sind es „die Säkularisierungserfolge, die die Kirchen zur Zusammenarbeit zwingen“. Dessen ist sich der evangelische Theologe Reiner Anselm von der Ludwig-Maximilians-Universität sicher. Bei der Schwabinger Versammlung mahnte er mehr ökumenisches Bemühen bereits bei den ethischen Tagesdebatten an, wenn auch die konfessionellen Unterschiede etwa in biomedizinischen Fragen eine große Bandbreite spiegeln. Allerdings sieht Anselm realistisch, dass schlussendlich rein politisch nach Mehrheiten und Opportunitäten entschieden wird. Die Kirchen dürfen ihre Meinung zwar äußern. Am Ende aber spielt das für die parlamentarische Gesetzgebung allenfalls eine untergeordnete Rolle.
Wieviel Christentum gehört überhaupt noch zu Deutschland? Besonders tragisch ist, dass gerade in den Ursprungsgebieten der Reformation der Glaube fast völlig weggebrochen ist. In Wittenberg leben höchstens noch vierzehn Prozent Christen. Dafür sorgt sich die Tourismusindustrie umso intensiver darum, das „Reformationsjubiläum“ 2017 nach ihren Interessen zu inszenieren. Lutherzwerge und Lutherbonbons lassen schon mal grüßen.
Die Reformation war eine „Erfolgsgeschichte“, allerdings mit der Kehrseite, dass sie sich nur dort durchsetzen konnte, wo sie die kirchliche Macht gegen die weltliche Macht eintauschte, wo sie die Landesherren für ihre Anliegen gewinnen konnte. Aus der babylonischen Gefangenschaft der (Papst-)Kirche wurde eine babylonische Gefangenschaft unter landesherrlichem Kirchenregiment.
Dabei hätte die Ausbreitung der Reformation nicht automatisch in eine Kirchenspaltung münden müssen, wie der Kirchenhistoriker Franz Xaver Bischof ausführte. Erst in dem Maße, in dem sich die Konflikte zwischen reformatorischem Anspruch und einer quasi-göttlichen Entscheidungsvollmacht des Papstes verschärften, lief der Erneuerungsprozess auf den Bruch hinaus. Bischof: „Unser Problem heute ist nicht die Reformation, sondern die folgende Traditionsbildung in den Kirchen.“
Das produzierte Verfestigungen, Missverständnisse und Widersprüche - gerade im vermeintlichen Kern, der Frage der Rechtfertigung. Demnach wird der Mensch nicht aus eigenen Werken, nicht durch spirituelle, liturgische oder sakramentale Eigenhandlungen und Eigenleistungen, sondern allein aus Gottes Gnade, durch Glauben, durch Christus gerettet, ins ewige Leben erlöst. Die Rechtfertigungslehre wurde zum Streitobjekt der theologischen Gelehrsamkeit ebenso wie der gegenseitigen konfessionalistischen Verketzerung im Volk. Trotz aller Klärungsversuche halten die Polemiken und Einsprüche an, was 1999 die gemeinsame katholisch-lutherische Rechtfertigungserklärung fast scheitern ließ und deren wirkungsvolle Rezeption bei Theologen und Amtsträgern „oben“ wie beim Volk Gottes „unten“ weiterhin blockiert.
Luther - anders als Paulus
Dabei hatte Luther die Rechtfertigungsfrage bereits in eine Richtung gelenkt, die bei Paulus so nicht angezielt war, wenngleich bei ihm der theoretische Ursprung liegt. Dem Völkerapostel ging es jedoch gar nicht wie Luther um Kritik der „Leistung“ oder der „Leistungsgerechtigkeit“, wie der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding feststellte. Das Thema des Paulus war, wie der Mensch Anteil an Gott nimmt und wie Gott Anteil am Menschen nimmt. Paulus stellte heraus: „Es gibt eine Rettung“. Aber diese geschieht einzig und allein durch Jesus Christus. Durch den Glauben an ihn wird er als Heiland und Erlöser erkannt, bekannt und erfahren. Daraus begründete der Ahnherr der Christus-Befreiungstheologie seine Mission. Darin sah er den universalen Charakter des Evangeliums. Der Glaube hat die Kraft, die Grenzen von Gesellschaft, Kultur und Geschlecht zu überschreiten und den Menschen universal zu ergreifen. Das ist die „Rechtfertigung“, die Paulus meint, ohne deshalb das „Gesetz“, Leistung und gute Werke infrage zu stellen. Das paulinische Rechtfertigungsverständnis will zu einer universalen Sicht motivieren, anregen, aus religiös-provinzieller Selbstgenügsamkeit auszubrechen und so eine größere Einheit im Glauben zu suchen. Nach Söding hat die Rechtfertigungslehre für die Gottsuche des modernen Menschen weiter Bedeutung, wenn man die Engführungen des 16. Jahrhunderts aufdeckt und die Deutungen davon befreit.
Die Freiheit zum Streit
Wie stark sich bereits Paulus gegen Einengung der Christusbotschaft wehrte, belegt seine Verkündigung unter den Heiden, die er im Gegensatz zu den nahezu militanten Forderungen der Judenchristen nicht der Beschneidung unterwerfen wollte. Für die Bibelwissenschaftlerin Petra von Gemünden ist klar erkennbar, wie die Freiheit in Christus Paulus das Rückgrat gibt, sich gegen den massiven Gruppendruck seiner Gegner zu stellen. Für die Freiheit hat uns Christus freigemacht. Paulus wollte diese bewahren, auch wenn ihm bewusst war: „Die Spannung zwischen Anpassung und Widerstand wird immer bleiben.“ So hat er beim Disput über den Verzehr von Götzenopferfleisch die Glaubenden gebeten, ihre Freiheit zu beschränken, wenn der Fleischgenuss Anstoß und Irritation erregt.
Paulus besaß jedenfalls die „Freiheit zum Streit“, wie der Münchener Neutestamentler Gerd Häfner anhand des Galaterbriefs veranschaulichte. Vermutlich musste der „späte“ Apostel derbe Niederlagen einstecken. Aber die Auseinandersetzungen und Verlusterfahrungen begünstigten die Initialzündung zur Heidenmission. Verschiedene theologische und kirchenpolitische Ansichten konnten dabei für gewisse Zeit nebeneinander bestehen. Manchmal war der Preis der Freiheit allerdings „die Trennung“, so Häfner. Schlussendlich siegte Paulus, nicht jedoch weil er seine Gegner - Älteste und Weggefährten - überzeugen konnte, sondern „weil das Judenchristentum schwand“. Das Problem, über das Paulus und Petrus aneinandergerieten, „erledigte sich von selbst“.
Ob die „Kirche der Freiheit“ über die Reformation wirklich zu einer Kirche für Freiheit wurde, das ist in München vor allem von freikirchlicher Seite bezweifelt worden. Denn schon im reformatorischen Anfang beherrschte inner-protestantische Polemik die Szenerie. „Die Freiheitsgeschichte der Reformation kommt nicht ohne ein Feindbild aus“, so die Oldenburger Kirchenhistorikerin Andrea Strübind, Pastorin im Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden. Sie verwies auf die Pilgerväter, die vor dem Zwang eines Landes-Kirchenregiments geflohen waren, um in Amerika das Land der Freien zu suchen und zu begründen. Die dunkle Geschichte gegenseitiger Verketzerung wird in der offiziellen, volkstümlichen Darstellung der reformatorischen Geschichte gern unterschlagen. Dabei stärkte die Reformation nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern die Ordnungsmacht der Obrigkeit, deren Anspruch auf konfessionelle Einheitlichkeit sich die Untertanen beugen mussten. Als „Alternative“ blieb allenfalls die Auswanderung in konfessionell anders orientierte Herrschaftsgebiete. Andrea Strübind wendete sich entsprechend gegen die Ansicht, es gebe eine direkte Linie von der Reformation zur neuzeitlichen Freiheitsgeschichte. „Diese Verbindung ist eine Illusion“, weil sie die Unfreiheit und Intoleranz auch bei Luther ausblendet. Zum anstehenden Reformationsgedenken gehöre, ebenso die negativen Folgen zu beachten: die Verfolgung der Puritaner, Kriege, Gewalt, Zwangsmigration, Hinrichtung von Andersdenkenden. Luther habe der Todesstrafe für die Täufer und Täuferinnen zugestimmt. Der evangelische Augsburger Theologe Bernd Oberdorfer formulierte es bündig: „Was mit der Kritik an den Fürstbischöfen begann, mündete in das landesherrliche Kirchenregiment.“ Die Reformation frisst ihre Kinder? Zumindest das Pathos der Freiheit bedarf des Einspruchs, wünscht sich Andrea Strübind. Notwendig sei eine „Entmythologisierung der Reformationslegenden“.
Katholische Reformatoren
Dazu trug der Historiker Heinz Schilling von der Berliner Humboldt-Universität bei. „Wir können nicht mehr naiv davon ausgehen, dass nur in Europa weltgeschichtliche Umbrüche stattgefunden haben.“ In Europa gab es, anders als es das Selbstbewusstsein des Protestantismus nahelegt, Innovationen und Reformen längst vor Luther und neben Luther. Schilling verwies auf die Devotio moderna, die die Laien als Träger einer sehr persönlichen Frömmigkeitssehnsucht anregte, sich zum Beispiel über die Lektüre der heiligen Schriften selber ein Urteil zu bilden. Erasmus von Rotterdam habe die Einheit des Christentums als Voraussetzung des Friedens in Europa visionär vorausgesetzt und den Papst weitaus schärfer kritisiert als Luther. Erst später habe er seine Kritik zurückgefahren, als er um die Einheit der Kirche fürchtete. Viele Reformentwicklungen gingen?- so Schilling?- von Spanien aus. Gonzalo Jiménez de Cisneros, Erzbischof von Toledo und späterer Kardinal, war ein solcher Mann der Bildungsinitiativen. Er gründete zahlreiche Schulen, 1499 die Universität Alcalá. Er förderte den Buchdruck, ließ Texte zur humanistischen Bildung verbreiten. Die von ihm angeregte Complutensische Bibel war die erste gedruckte griechische und mehrsprachige Ausgabe, zusammengestellt von Gelehrten gemäß den neuesten literarischen Erkenntnissen der damaligen Zeit.
Selbst vermeintlich urreformatorische „Neuerungen“ wie die Priesterehe seien keine Erfindung Luthers gewesen. „Vorreformatorisch war das quasi-eheliche Leben im Pfarrhaus die Norm“, bestätigte Schilling. Die Einschärfung des Zölibats sei eine katholische Reaktion auf die „Zwangsehe im evangelischen Pfarrhaus“ gewesen, um die konfessionelle Differenz und Distanz zu unterstreichen. So sollte sich ein Alleinstellungsmerkmal des katholischen geistlichen Amts herausbilden und in der Öffentlichkeit sichtbar werden. „Kirchlicher Aufbruch findet nicht nur in Wittenberg statt“, so Schillings Resümee. Luthers Reformation war nicht die alleinige Triebkraft Europas.
Europa wurde pluraler
Dennoch hält Schilling fest, dass wir ohne Luther nicht das wären, was wir geworden sind. „Luther wollte die Reform der Gesamtkirche, und er bekam die protestantischen Landeskirchen.“ Das war ein wichtiger Schritt zur Differenzierung und Pluralisierung Europas. Durch Luther sei das Religiöse individuell existenzieller verankert wiederentdeckt worden als ein in die Gesellschaft hineinwirkender Glaube. Das ergänzte die eher philosophische, künstlerisch geprägte Religion, wie sie in der Renaissance die Päpste pflegten. Mit der Reformation sei der Glaube zudem welthaft geworden. Nicht mehr Klöster und sakrale Orte bestimmten maßgeblich über das Christsein. Es musste sich von nun an im Alltag, in der Berufung eines jeden Menschen bewähren. Die moderne bürgerliche Kultur verdankt sich nach Schillings Auffassung diesem Differenzierungsprozess. Die Reformation stand an seinem Anfang, wenn auch Luther viele darauf beruhende Entwicklungen nicht akzeptiert hätte. In der neuzeitlichen Differenziertheit Europas sieht der Historiker „ein Geschenk der Christenheit an die moderne Welt“. Schilling spricht aus, was angesichts des Islam viele nicht mehr zu sagen wagen: „Der Kern Europas liegt im Christentum.“ Diese Erkenntnis sollte die Festlichkeiten und Nachdenklichkeiten des bevorstehenden Gedenkens bestimmen. Schilling wünscht sich, die Bedeutung der Reformation und deren Ertrag für die säkulare Kultur auch den Nichtglaubenden, den Laizisten bewusstzumachen. „Die Idee, 2017 ein Christusfest zu feiern, wäre eine zutiefst lutherische Idee.“
Diese Idee könnte die Ökumene, eine sichtbare Einheit der Kirchen in versöhnter Verschiedenheit vielleicht doch beflügeln. Das erwartet der Magdeburger Bischof Gerhard Feige, Kirchenhistoriker und Vorsitzender der Ökumenekommission der Bischofskonferenz. „Die früheren Jahrhundertfeiern der Reformation waren antikatholisch oder national bestimmt.“ Jetzt gebe es die große Chance, „etwas Neues zu setzen“. Feige wünscht sich, in der getrennten Christenheit die Erinnerungen zu heilen, die gegenseitigen Verletzungen in einem gemeinsamen liturgischen Bußakt zu bekennen, vor Gott um Verzeihung zu bitten. Das Christentum kann in einer multikulturellen Welt nur dann neu gehört werden, wenn man symphonischer zum Ausdruck bringt, was man glaubt, hofft, liebt.
Einheit in versöhnter Verschiedenheit muss nicht bedeuten, dass alles im Grunde getrennt bleibt, wie es ist, nur dass die Kirchen sich wechselseitig in ihren Ämtern anerkennen, Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft vereinbaren, wie es zwischen reformatorischen Kirchen über die Leuenberger Konkordie geschah. Für eine wahrhaft theologische Vertiefung und Weiterentwicklung zu mehr Einheit hin plädierte der lutherische Landesbischof von Schaumburg-Lippe, Karl-Hinrich Manzke, Catholica-Beauftragter der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Allerdings muss nach seiner Auffassung nicht die „volle dogmatische Übereinstimmung“ erreicht sein, „um erste Schritte zur vollen Gemeinschaft zu unternehmen“.
Kann man mehr Ökumene „unten“ erwarten, wenn sie „oben“ nicht so recht vorankommt? Oft wird diese Hoffnung formuliert. Aber auch eine vermeintlich progressive, engagierte „Basis“ ist trügerisch. Sie kann ebenfalls recht blind und lahm sein. So hätte man längst eine starke katholisch-evangelisch-orthodoxe Solidarität für die in islamischen Hoheitsbereichen verfolgten Glaubensgeschwister schmieden können. Doch nichts dergleichen ist bisher geschehen, nicht einmal eine politisch und kulturell machtvolle Laien-Manifestation gemeinsam vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken und dem Evangelischen Kirchentag. Da versagt die Ökumene kläglich noch vor aller Dogmatik. Auch in München war das ökumenische Engagement für die bedrängten Christen des Orients und Afrikas kein Thema. Praktische Ökumene?- nur eine weitere Floskel?
Wer denkt 2017 an die Pioniere?
Dass die orthodoxe Kirche sich in Theorie und Praxis mit Reformen besonders schwertut, wurde ebenfalls bei der Tagung angesprochen. Athanasios Vletsis vom Orthodoxen Institut an der Münchener Universität erläuterte, dass „Reform“ wie ein rebellischer Begriff wirkt, obwohl?- wortwörtlich?- eigentlich eine Formierung durch den Rückgriff („re-“) auf frühere Traditionen gemeint ist. Vletsis zieht es daher vor, von „Verwandlung“ oder „Erneuerung“ zu sprechen, von Umkehr im Hinblick auf das, was ökumenisch ansteht. Allerdings drängt er wie weitere gelehrte orthodoxe Theologen auf Veränderung. Er erhofft sich Anstöße vom seit langem angestrebten, immer wieder verschobenen gesamtorthodoxen Konzil, das für 2016 angekündigt ist. Es geht unter anderem um liturgische Reformen, um neue Texte in der heutigen Sprache, um eine Überprüfung der Verbindungen von Kirche und Staat. Vletsis hat auch einen praktischen Vorschlag für 2017: In der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils sei bei der Begegnung von Papst Paul VI. und dem Ökumenischen Patriarchen Anthenagoras der gegenseitige Kirchenbann aufgehoben worden. Vielleicht wäre etwas Ähnliches ja auch im Ursprungsland der Reformation zwischen Katholiken und Evangelischen denkbar? Der katholische Theologe Peter Neuner hält Zeichen für möglich: „Ich sehe Luther als Repräsentanten der Botschaft Gottes?- und als solchen als Lehrer im Glauben.“
Vielleicht würde es helfen, wieder einmal schlicht auf die Früchte der Ökumene zu schauen, die bereits vor Jahrzehnten gereift waren und geerntet wurden, die inzwischen jedoch selber zu einer vergessenen Tradition gehören. Eine Tagungs-Teilnehmerin mahnte eindringlich: „Es gibt so viele Erntesäcke der Ökumene in den Scheunen. Langsam fangen die Samenkörner schon an zu schimmeln.“ Manchmal ist die bessere Reform jene, die Tradition beherzigt, zum Beispiel die beste Tradition der Ökumene und ihrer Pioniere. 2017 könnte auch daran erinnern.