Die Kirchen in Europa sind in der Krise und wie gelähmt. Die um die Zukunft des Evangeliums Besorgten suchen zwar nach Wegen heraus aus Starre und dem ewig gleichen Trott. Doch trotz notwendiger Reformanstrengungen, trotz intelligenter theologischer Aufrufe, trotz der einen oder anderen Strukturveränderung im seelsorglichen Bereich blieb der große Umschwung bisher aus. Frère Roger Schutz, der vor hundert Jahren - am 12. Mai 1915 - geboren wurde, hatte in diesem Zusammenhang eine ganz andere Frage gestellt: „Brauchen wir nicht zuallererst lebende Ikonen, Zeugen des Vertrauens aus dem Glauben, damit wir die Mutlosigkeit abstreifen und neue Hoffnung schöpfen können?“
Als ich 1980 das Abitur machte und anschließend mit dem Zivildienst begann, war ich auf der Suche nach solchen „lebenden Ikonen“. Von „Vorbildern“ sprach man seinerzeit lieber. Ich wollte meinen Beitrag zum Aufbau des Reiches Gottes leisten - oder einfacher ausgedrückt - etwas Gutes aus meinem Leben machen.
Meine Mutter hatte in der Familie gelegentlich voller Bewunderung vom Arzt, Theologen und Philosophen Albert Schweitzer (1875-1965) erzählt, jedenfalls so viel, dass mein Interesse und meine Faszination geweckt waren. Nicht nur vom Evangelium reden, sondern auch praktisch anpacken als Arzt, das schien mir überzeugend. Aber Albert Schweitzer war unerreichbar für mich. Mein Abitur reichte nicht für ein Medizinstudium. Und meine Lerndisziplin ließ keine großen theologischen Entdeckungen erwarten. Auch Orgelspielen war jenseits meiner Möglichkeiten.
Im Studium las ich etliche Bücher von Karl Rahner, bewunderte seine Kunst, den Leser vor das Geheimnis Gottes zu führen, und staunte über seine nicht immer leicht zugängliche Sprachmächtigkeit. Aber so viel ich ihm auch verdanke, so klar war mir von Anfang an, dass auch dieser Berg zu hoch für mich war.
Langsames Kennenlernen
1982 nahm ich erstmals an einem der von der Gemeinschaft von Taizé veranstalteten europäischen Jugendtreffen teil. Der sogenannte Pilgerweg des Vertrauens findet seit 1978 stets um die Tage des Jahreswechsels in einer Großstadt des Kontinents statt. Dabei sah ich Frère Roger aus größerer Entfernung zum ersten Mal.
Offen gestanden, machte er damals keinen besonderen Eindruck auf mich. Mir gefiel das Zusammensein mit den vielen jungen Leuten. Und ich konnte nicht genug bekommen von den schönen Gesängen. Die Einfachheit und die Wahrhaftigkeit des gesamten Umfelds sprachen mich an. Die Ausdrucksweise des Priors hingegen fand ich etwas seltsam. Er stellte viele Fragen im Stil von „Könnte man nicht vielleicht?“ Es war für mich, als ob er selbst nicht recht wusste, was er jetzt will. Wenn ich dennoch in den folgenden Jahren immer wieder zu den europäischen Treffen oder schließlich auch direkt nach Taizé fuhr, dann zunächst nicht wegen Frère Roger. Es waren jüngere Brüder, die mich beeindruckten, die einen wegen ihrer Vielsprachigkeit, andere wegen ihrer erfrischenden Weise, die Bibel zu erklären, und wieder andere wegen ihrer Musikalität.
Ich brauchte lange, um Frère Roger besser zu verstehen. Er hatte nichts auf den ersten Blick Beeindruckendes an sich. Niemanden schlug er unmittelbar in seinen Bann, drängte sich auch nicht durch irgendetwas Überragendes auf. Er war weder ein bestechender Theologe noch ein flammender Redner. Er war auch kein großer Organisator, und Orgel spielen konnte er auch nicht. Zugespitzt gesagt: Er konnte nichts, was Eindruck gemacht hätte, aber er hatte grenzenloses Vertrauen in Gott, Vertrauen in die Fähigkeiten seiner Brüder und Vertrauen zu den Jugendlichen. Er war eine lebende Ikone der Güte und des Vertrauens, der mir und vielen anderen half, die in Kirche und Gesellschaft verbreitete Mutlosigkeit abzustreifen und neue Hoffnung zu schöpfen. In ihm fand ich das verwirklicht, wozu der russische orthodoxe Einsiedler und Mystiker Serafim von Sarow (1754-1833) aufruft: „Erwirb den inneren Frieden, und Tausende um dich herum werden das Heil finden!“
Der Mut der Großmutter
Wer auf das bewegte Leben Frère Rogers schaut, bemerkt schnell, wie viele entscheidende Ereignisse seines Lebens in Variationen diese eine wesentliche Haltung des Vertrauens widerspiegeln: dass Gottes Kraft in der Schwachheit wirkt, bei allen, die grenzenlos auf ihn vertrauen.
So hatte sich zum Beispiel die erste Begegnung mit seiner Großmutter mütterlicherseits 1919 unauslöschlich ins Herz des damals Vierjährigen eingegraben. Immer wieder kam er darauf zurück, wie die bereits betagte Dame bei der Ankunft vor dem Haus, in dem Roger mit seinen acht Geschwistern und den Eltern lebte, vor Erschöpfung ohnmächtig wurde. Bis ins hohe Alter erinnerte er sich an diese Szene, „als wäre sie heute geschehen“. Die evangelisch getaufte Großmutter hatte während des Ersten Weltkriegs monatelang Flüchtlinge in ihrem Haus im Norden Frankreichs beherbergt. Als sie jetzt selbst fliehen musste, besuchte sie an ihrem neuen Wohnort im Süden Frankreichs die dortige katholische Kirche. „Damit tat sie ohne Aufschub einen Schritt der Versöhnung… Niemand sollte mehr mit ansehen, was sie gesehen hatte. Sie sagte, dass sich wenigstens die Christen in Europa miteinander versöhnen sollten, um einen weiteren Krieg zu verhindern.“
Nie wieder Krieg! Diese Motivation der Großmutter, verbunden mit ihrem konkreten Schritt der Versöhnung als Christin, hatte Frère Roger so tief geprägt, dass er im Anschluss an ihr Lebenszeugnis später von sich sagen konnte: „Ich habe meine Identität als Christ darin gefunden, in mir den Glauben meiner Herkunft mit dem Geheimnis des katholischen Glaubens zu versöhnen, ohne mit irgendjemandem die Gemeinschaft zu brechen.“
Das großmütterliche Samenkorn im Herzen des Enkels wuchs im Verborgenen heran und zeigte seine Kraft erstmals deutlicher, als der jugendliche Roger an Lungentuberkulose erkrankte und viele Monate die Schule nicht mehr besuchen konnte. In dieser Zeit war er viel allein und unternahm lange Wanderungen. Damals, es war Anfang der dreißiger Jahre, traf er eine wesentliche Entscheidung, die für sein ganzes Leben gültig blieb und die nochmals wie ein Echo auf das Beispiel seiner Großmutter klingt: „Warum dieses gegenseitige Sichbekämpfen unter den Menschen und selbst unter den Christen? Warum diese Verurteilungen, ohne Einspruch zuzulassen? Ich fragte mich: Gibt es einen Weg, der so weit führt, alles vom anderen zu verstehen? Ich sagte mir: Wenn es diesen Weg gibt, beginne bei dir selbst und engagiere dich selbst; du selbst, um alles von jedem Menschen zu verstehen.“
Dieses Engagement nahm 1940 erste Formen an, als Roger in dem kleinen Dorf Taizé im Burgund, gar nicht weit entfernt von den für die monastische Tradition so wichtigen Orten Cluny und Citeaux, ein Haus erwarb, das sich für ein Leben in Gemeinschaft eignet. Dort war er zunächst allein. Er beherbergte Menschen, die aus dem von Hitler besetzten Teil Frankreichs in die Schweiz zu fliehen versuchten.
1942 wurde die Situation für ihn lebensgefährlich. In sein Tagebuch notierte er: „An jenem Abend, als die Angst mein Herz zusammenschnürte, war in mir ein vertrauensvolles Gebet, das ich zu Gott sprach: Selbst wenn man mir das Leben nimmt, weiß ich, dass du, lebendiger Gott, weiterführen wirst, was hier begonnen hat, die Grundlegung einer Communauté.“ Darunter verstand er eine geistlich-religiöse Gemeinschaft. Die Bedeutung des französischen Worts umfasst Gemeinschaft genauso wie Gemeinsamkeit, Gemeinwesen, gemeinsamen Besitz sowie Kloster.
Wer sind wir eigentlich?
Was für ein Vertrauen! Die Ohnmacht der Großmutter, die lange und gefährliche Lungenerkrankung und die Todesangst in Taizé lassen Frère Roger durch alle Zweifel, Anfechtungen und Widerstände hindurch zur Gewissheit gelangen, dass bei Gott nichts unmöglich ist, dass nicht menschliche Macht, Kraft und Planung ausschlaggebend sind, sondern dass „das Vertrauen des Herzens aller Dinge Anfang ist“. Dieses Vertrauen wird in den Krisen des Lebens stets neu geläutert und vertieft. „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich“, verkündete Jesus in der Bergpredigt.
Auf diesem Vertrauen gründet das Abenteuer eines gemeinschaftlichen Lebens, das nach dem Krieg mit zunächst vier, später mit sieben Brüdern begann, die 1949 ihre Ordensgelübde ablegten. Heute führen mehr als hundert Brüder dieses Zeugnis weiter. Frère Roger hatte für jenes Leben den Namen „Gleichnis der Gemeinschaft“ gefunden. Nie würde er vergessen, dass es nicht auf eigene Größe, Stärke oder Sicherheit ankommt. Die Communauté, die sich aus Brüdern aus den Kirchen der Reformation, Anglikanern und Katholiken zusammensetzt, weiß, wer sie ist und woraus sie lebt: „Wer sind wir eigentlich? Eine Begegnung von Menschen, die einander nicht ausgesucht haben und nun den Versuch unternehmen, etwas vom Leben der christlichen Urgemeinde neu zu leben. Wer sind wir? Eine kleine, zerbrechliche Gemeinschaft, die an einer kühnen Hoffnung festhält: der Hoffnung auf Aussöhnung aller Getauften und darüber hinaus aller Menschen untereinander… Wir sind eine Ansammlung von Schwachheiten in Person, dabei aber eine Gemeinschaft, getragen von einem anderen als wir selbst.“
Frère Roger wollte Diener der Versöhnung sein, in der Gemeinschaft seiner Brüder und mit ihnen zusammen, zugleich aber auch durch sie, als Gleichnis der Gemeinschaft, für die ganze Kirche. Taizé sollte ein Ort sein, „wo man sich jeden Tag unter den Brüdern versöhnt und einen Sauerteig der Versöhnung unter den Teig der gespaltenen Kirchen mengt“. Deshalb versuchen die Brüder ein Leben zu führen, das geprägt ist von Vertrauen und Güte und erfüllt vom „Geist der Seligpreisungen: Freude, Einfachheit und Barmherzigkeit“.
Eine lebende Ikone des Vertrauens zu sein, verträgt sich nicht mit imponierender Größe, die allzu leicht andere einschüchtert oder unter Druck setzt. Wie schnell gerät man in einen Konkurrenzkampf, um mehr Einfluss zu nehmen oder durchsetzungsfähiger zu sein als andere. Deshalb hielt Frère Roger immer daran fest, klein zu bleiben, dem gütigen und demütigen Jesus zu folgen, der sich keinem Menschen aufdrängt oder gar Zwang auf ihn ausübt. Papst Johannes Paul II. drückte es bei seinem Besuch in Taizé 1986 so aus: „Es ist mein Wunsch, dass der Herr euch als einen anbrechenden Frühling, dass er euch klein, dass er euch in der evangelischen Freude und der Lauterkeit der brüderlichen Liebe bewahre.“ Ähnlich spricht auch Frère Alois, der 2005 Roger Schutz als Prior nachfolgte, von „unserer kleinen Kommunität“. In diesem Jahr fand Frère Roger den Tod, nachdem eine psychisch kranke Frau ihn während des gemeinsamen Gebets in der Versöhnungskirche mit dem Messer angegriffen hatte.
Vertrauen ist ein Schlüssel, um das Leben von Frère Roger und das der Gemeinschaft von Taizé zu verstehen. Vertrauen ist auch ein Schlüssel, auf den Frère Roger immer wieder aufmerksam gemacht hat, wenn es darum ging auszudrücken, was das Leben schön macht. Vertrauen ist etwas, was jedem Menschen möglich ist. Dieses einfache und unerschütterliche Vertrauen in die Güte Gottes ist es, was mich bis heute an Frère Roger am meisten berührt. Vor diesem Hintergrund konnte ich dann auch manches besser verstehen, was Frère Roger gelegentlich erzählte.
Die Worte der Kinder
Zugleich entdeckte ich mehr und mehr doch eine einmalige Gabe, die nur ihm zu eigen war. Er konnte die Wirklichkeiten des Evangeliums auf neue, ungewohnte, aber zugleich ganz einfache und einleuchtende Weise ausdrücken. Es war eine Sprache, die der Gleichnissprache Jesu verwandt ist. So erzählte er beispielsweise gern von dem, was er von Kindern gehört hatte.
Als er einmal eines der Kinder, die während des täglichen Gebets in seiner Nähe waren, lobte, weil es so brav war, antwortete ihm das Kind: Das sagen auch meine Eltern, aber sie meinen, dass ich nur bei fremden Leuten brav, zu Hause aber manchmal böse bin. Frère Roger hatte ein feines Gehör für solche Äußerungen. Er fragte sich, anknüpfend an diese Kinderantwort, warum es für uns so schwer ist, sich nicht immer wieder selbst zu verurteilen; warum es so schwerfällt, sich ohne Einschränkung loben zu lassen; warum selbst ein Kind schon Widerspruch einlegt. Warum ist unser Vertrauen so angefochten? So wurde die so leicht zu überhörende Antwort des Kindes für Frère Roger zu einem Gleichnis für die Verfasstheit des Menschen, der um Vertrauen ringt.
Von einem anderen Kind erzählte er, es habe ihm mitgeteilt, wie weh es tat, als der Vater vor längerer Zeit die Familie verlassen hat. Dann fügte das Kind hinzu: Aber ich liebe ihn immer noch! Für Frère Roger war das ein Gleichnis dafür, dass das Vertrauen in die Gemeinschaft stärker ist als die Realität der Trennung.
Durch solche und ähnliche Gleichnisse, vor allem aber durch das Beispiel seines ganzen Lebens, ist Frère Roger für mich zu einer „lebenden Ikone des Vertrauens“ geworden. Sie hilft mir, in der Krise der Kirche „die Mutlosigkeit abzustreifen und neue Hoffnung zu schöpfen“.