„Wer nach Taizé kommt, ist eingeladen, Gemeinschaft mit Gott zu suchen: im gemeinsamen Gebet, im Singen, in der Stille, im persönlichen Nachdenken und in Gesprächen.“ So steht es, leicht pädagogisch angehaucht, auf einem Zettel, den jeder Besucher bei der Ankunft erhält. Der Empfang ist ungezwungen, freundlich und ansprechend. Das Gewusel auf dem Hügel im Burgund macht zu Beginn zwar etwas Mühe. Aber das gehört an einem solchen Ort wohl dazu. Das babylonische Gefühl einer gewissen (Sprach-)Verwirrung, das einen beschleicht, während man mit einem Helfer auf Englisch und in gebrochenem Französisch die Unterkunft und die Bedingungen für die Essenszeiten klärt, weicht spätestens beim Abendgebet in der Versöhnungskirche. Wenn das „Halleluja“ angestimmt wird und die Stimmen der auf dem Boden sitzenden Jugendlichen sich hundertfach mit denen der Brüder vereinen, schwindet fast jedes Gefühl der Unruhe und des Durcheinanders. Alle singen „Surrexit Dominus vere“ („Der Herr ist wahrhaft auferstanden“), minutenlang. Darin liegt eine tiefe Kraft der Gelassenheit.
Taizé findet auch anders statt. Zum Beispiel in der ersten Woche des herbstlich leuchtenden Septembers, als die Sonne das Areal um die Versöhnungskirche tagelang mit einem warmen Licht erfüllt. Die ökumenische Brüdergemeinschaft, die Communauté, lud zu einem sechstägigen internationalen Symposium ein, um den Beitrag des Gründers Frère Roger (1915-2005) zu Theologie und Ökumene zu würdigen. Das Besondere daran: Die Einladung erging an junge Theologinnen und Theologen. Nicht nur zur Überraschung der Brüder kamen mehr als 250 junge Leute unter vierzig Jahren, viele schon hauptberuflich im seelsorglichen Einsatz ihrer jeweiligen Kirche tätig, andere noch studierend. So trafen sich etwa die Orthodoxen Nikos und Maria aus Thessaloniki mit dem reformierten Christen Raf aus Brüssel, der Katholik Tan aus Sambia begegnete Agata aus Polen, und der Orthodoxe Dimitri aus Russland saß mit Sergej aus Weißrussland auf einer Bank.
Viele kannten den Ökumene-Ort von früheren Aufenthalten. Andere wiederum waren zum ersten Mal auf dem Hügel. Ganz gleich, aus welchem Land und in welcher Konfession sie beheimatet sind - die jungen Christen zeigten großes Interesse an Ökumene und religiöser Gemeinschaft - und an Theologie, die das Leben in den Blick nimmt. Hinzu kam, dass mehr als zwanzig Referenten der Idee eines theologischen Symposiums ihren je eigenen Stempel aufdrückten, indem sie aus ihrer - teils akademischen - Perspektive Einblicke gaben und bisweilen auch sehr persönlich erzählten, wie ihr Zugang zu Taizé, zu Frère Roger beziehungsweise zu dessen Geschichte aussieht.
Gleich am ersten Vormittag, noch bevor der erste Vortrag stattfand, hatte Frère Richard die Teilnehmer des Symposiums aufgerufen, sich in Gruppen zu zehn über das Jesus-Wort aus dem Matthäusevangelium auszutauschen: „Nehmt mein Joch auf euch, und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig“ (11,29). Die Theologen machten das, was vormittags unter den Jugendlichen ohnehin üblich ist: Arbeiten mit einer Bibelstelle. „Welche Orientierung gibt mir dieses Wort für meine Arbeit als Theologe?“, lautete der Auftrag Frère Richards.
In einer deutschsprachigen Runde unter Bäumen ging es zunächst um die Identität des Christseins als Hauptamtliche, als Studenten. Was haben wir als Theologen den Menschen zu sagen? Wovon leben wir spirituell? Frère Philipp, ein junger Bruder der Communauté, berichtete von seinen Erfahrungen aus Brasilien, wo er bis vor kurzem gelebt hatte. Um die Solidarität mit den Ärmsten spürbar zu machen, um ganz nah bei ihnen zu sein.
Zu Beginn seines Aufenthalts, so Frère Philipp, sei er von der Gewalt, die in den Armenvierteln einer Großstadt Brasiliens herrscht, tief erschüttert gewesen. Mehrere Kinder und Jugendliche seien bei Bandenkämpfen zu Tode gekommen. „Wir konnten sie nur beerdigen und bei den Angehörigen mittrauernd ausharren.“ Ein schweres Joch. Der Täter, ein junger Mann, blieb unbehelligt. Er verschwand für kurze Zeit aus der Favela, bis Gras über die Sache gewachsen war. Kein Staat, keine Polizei, kein Gericht. Ein weiteres Joch. Und der junge Bruder, der vor kurzem erst seinen endgültigen Eintritt in die Communauté gefeiert hatte - in Taizé spricht man von „Lebensengagement“ -, blickte nachdenklich in die Runde. Nach seiner Rückkehr sei ihm Taizé, das stark von Einfachheit geprägt ist, viel freier, angenehmer, „luxuriöser“ vorgekommen. Weltweit gibt es derzeit außerhalb von Taizé fünf Fraternitäten. In ihnen lebt ein Viertel aller Brüder der Gesamtgemeinschaft.
Was ist das Leben, inspiriert von Taizé? Es ist womöglich das, was die französische Philosophin und Ordensfrau Marguerite Léna, eine Schülerin Paul Ricœurs, in ihrem Vortrag die „Hoffnung der Tat“ genannt hat. „Die Hoffnung, die das gesamte Leben und Werk von Frère Roger getragen hat, ist nicht einfach eine virtuelle Einstellung, eine Haltung, sondern eine konkrete Art und Weise, zu leben und zu handeln.“ Es sei eine „Logik“, die mit Gott als Grund allen Lebens umgeht, die ihn als Geheimnis einbezieht und so „das Unverhoffte lebt“. 1965 schrieb Frère Roger über diese Perspektive: In den schwierigsten Perioden der Menschheit gab es oft kleine Gruppen von Frauen und Männern, „die es vermochten, den Lauf der Geschichte zu ändern, weil sie hofften gegen alle Hoffnung“. In Christus, dessen Joch nicht drückt und dessen Last leicht ist, wie es bei Matthäus weiter heißt.
75 Jahre Brüdergemeinschaft
Es ist ein sichtbarer Ausdruck dieser unsichtbaren Antriebskraft, dass die rund hundert Brüder von Taizé in diesem Jahr zu besonderen Veranstaltungen geladen hatten. Frère Benoît, der in seiner Gemeinschaft für die Medienkontakte sowie für die sozialen Netzwerke zuständig ist, erklärte, dass ein solches Symposium für die meisten Brüder jetzt genau richtig kommt. Drei „runde“ Jahrestage lieferten den äußeren Anlass: Roger Schutz wurde am 12. Mai vor hundert Jahren geboren. Am 16. August jährte sich zum zehnten Mal sein tragischer Tod, als eine geistig verwirrte Frau ihn beim Abendgebet erstach. Am 20. August vor 75 Jahren kam der junge Roger Schutz in den Wirren des Zweiten Weltkriegs erstmals in die hügelige Landschaft des Burgund, um, wie er schrieb, „dort und nirgendwo anders“ eine christliche Gemeinschaft von Brüdern zu gründen. Er kaufte das erste Haus für die Communauté.
Bereits im Juli hatte Taizé eine Woche lang 350 junge Frauen und Männer aus 52 verschiedenen Ländern zu Gast, aus evangelischen, katholischen oder orthodoxen geistlichen Gemeinschaften und Klöstern. Sie befassten sich mit der „Berufung zum monastischen Leben und Ordensleben heute“. Eine Woche der „neuen Solidarität“ folgte im August. Bis zu 6000 Jugendliche pro Woche waren in diesem Sommer anwesend, berichteten die Brüder. Hinzu kamen die vielen Gäste der Jubiläumsfeiern. Teil der Solidaritätswoche war auch ein Fest mit Angehörigen anderer Religionen sowie mit Flüchtlingen, die in der Nähe von Taizé Obdach gefunden haben. Die Communauté selbst hatte zuletzt zwei junge Familien aus dem Irak im Fünfzig-Seelen-Dorf Taizé untergebracht. Deren Kinder gingen nun zu Schuljahresbeginn erstmals in Frankreich zum Unterricht.
„Mit fast nichts“ am Anfang
Den Abschluss der Solidaritätswoche bildete ein Gebet auf der großen Wiese in Taizé, an der viele Bischöfe, Priester, Ordensleute und Pfarrer teilnahmen, darunter Kardinal Kurt Koch, Präsident des päpstlichen Einheitsrates, Olaf Fykse-Tveit, Generalsekretär des Weltkirchenrats, Metropolit Emmanuel von der griechisch-orthodoxen Kirche Frankreichs und der evangelische Bischof Gothart Maagard von Schleswig und Holstein.
Ebenfalls im Gedenkjahr haben die Brüder eine Fraternität in Kuba gegründet. Ermuntert wurden sie dazu durch einen katholischen Bischof und ein evangelisches Studienseminar des Inselstaats. Darüber hinaus hat die französische Ordensfrau Sabine Laplane, die Frère Roger persönlich gut kannte, eine spirituelle Biografie veröffentlicht („Frère Roger de Taizé. Avec presque rien …“, Édition du Cerf; „Ein Weg des Vertrauens“, Verlag Neue Stadt). Ihren inspirierenden Rückblick, der den Gründer von Taizé in vielfältigen Farben, auch dunkleren, schildert, beginnt sie mit einem „unvergesslichen Eindruck“ von 1970: „Frère Roger war 55 Jahre geworden. In Weiß gekleidet, auf seinem Gebetshocker inmitten eines Meeres von jungen Leuten sitzend, die eher einer Vorlesung an einer Universität glichen als der Versammlung in einer Kirche. Er war widerstandsfähig und verletzlich zugleich, bemühte sich, ein Mikrofon in der Hand, zu uns zu sprechen, leise, fast mit einem Hauchen. Und er lud uns ein zu Entscheidungen ohne Rückkehr. Zur Nachfolge Christi in der Kirche. Zur Hingabe unseres Lebens, damit der Mensch nicht mehr zum Opfer des Menschen‘ werde.“ Sabine Laplane, die daraufhin ein Jahr lang in Taizé als Freiwillige arbeitete, kehrte dorthin erst zurück, „nachdem ich bei den Schwestern des heiligen Franz-Xaver eingetreten war“.
Beim Symposium der jungen Theologen war zu spüren, dass die Geschichte Frère Rogers Spuren hinterlassen hat. Von vielen anderen unvergesslichen Augenblicken war die Rede. Die Brüder selbst erzählten davon, dass sie bisweilen staunen, dass nach dem Tod des Gründers der Strom der jungen Leute nicht nachlässt. Insbesondere aus dem orthodoxen Kulturkreis seien vermehrt Besuche zu verzeichnen. Im letzten Jahr waren aber auch Jugendliche aus dem lutherisch geprägten Schweden nach Deutschen und Franzosen die dritthäufigsten Besucher, viele ohne kirchliche Bindung. Während bis zur letzten Jahrtausendwende nicht wenige junge Leute spontan auf den Hügel im Burgund „trampten“, ist nun zu beobachten, dass viele Pfarrer mit Konfirmanden oder Firmlingen, Religionslehrer mit ihren Schülern organisiert nach Taizé fahren. Selbst die siebenminütige Schweigepause beim Abendgebet, die so manchem Erwachsenen schwerfallen dürfte, stößt sie nicht ab.
Taizé trifft also weiterhin einen existenziellen Nerv des Religiösen. Die Communauté stellt sich auf den Wandel ein, etwa indem sie eine Fotoausstellung rund um die Versöhnungskirche eingerichtet hat. Viele Jugendlichen haben den Gründer nur vom Hörensagen im Kopf. Die Fotos zeigen entscheidende Wegstationen Frère Rogers und historisch wichtige Begegnungen. Der Pilgerweg des Vertrauens, wie der Gründer die Initiative mit den und für die Jugendlichen nannte, geht also weiter.
Die Münsteraner Theologin Dorothea Sattler, die, wie sie sagte, selbst seit ihrer Jugendzeit mit der Spiritualität und dem Ökumenegedanken von Taizé verbunden ist, richtete beim theologischen Symposium den Blick in die Zukunft. Sie erinnerte an eine Rede Karl Rahners. Dieser skizzierte vier Tage nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils Fragen für eine ökumenische Theologie der Zukunft, in der sich die Getauften aller Bekenntnisse den Grundfragen der menschlichen Existenz zuwenden. Sinngemäß habe er folgende Leitfragen gestellt, so Sattler: „Warum leiden die Geschöpfe? Warum werden wir aneinander schuldig? Was geschieht im Tod? Ist das christliche Bekenntnis zur Erlösung in Jesus Christus durch seinen Tod am Kreuz heute noch zu vermitteln? Wie kann der ewige Gott ein irdischer Mensch werden wie wir? Wer ist dieser Gott, von dem wir in der Theologie manchmal so leichtfertig sprechen? Ja: Gibt es Gott denn wirklich? Oder ist Gott ein Gedanke, den wir erfinden, weil wir unsere Vergänglichkeit nicht ertragen können?“ Dorothea Sattler, die in Münster den Lehrstuhl für ökumenische Theologie innehat, richtete sich direkt an den anwesenden internationalen Theologennachwuchs: „Lassen Sie uns auch in der Ökumene diese Fragen bedenken - sie sind weit entfernt von jeder Ämtertheologie. An das christliche Evangelium zu glauben, das ist heute eine große Herausforderung … Die Suche nach Gott - nicht das Wissen von Gott - ist Theologie.“
„Theologie der Agape“
Und welche Theologie vertrat Roger Schutz? Der frühere anglikanische Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, der nicht persönlich, sondern mittels einer Videobotschaft sprach, brachte die Frage auf den Punkt: „Frère Roger, eine der wahrhaft großen Gestalten des modernen Christentums, … war natürlich kein Theologe, wenn man einen akademischen Maßstab anlegt. Er war auch nicht jemand, der eine Arbeit mit einer Fülle von Fußnoten vorlegt, oder jemand, der viele andere zitiert.“
Der französische evangelische Kirchenhistoriker Gottfried Hammann aus Neuchâtel, dem Studienort des im reformierten Protestantismus aufgewachsenen Frère Roger, sprach von einer „Theologie der Agape“ (der Liebe; d. Red.), die vor allem eine „praktische Theologie“ gewesen sei. Das Drama der Kirchen, so Hammann, bestehe darin, dass sich die Kirchen in der Trennung zu sehr eingerichtet haben. Das wahre Problem westlicher Theologie sei ein ekklesiologisches Problem, eines, welches das Kirchenbild betrifft - und kein dogmatisches, also lehramtliches.
Die katholische Theologin Silvia Scatena, die im belgischen Leuven lehrt und ebenfalls eine Biografie über Frère Roger vorgelegt hat, sieht in der Suche nach christlicher Einheit eine „Sache auf Leben und Tod“: Dieser Ausdruck unaufschiebbarer Dringlichkeit, wie sie zum Beispiel auch Karl Rahner und Heinrich Fries in ihrem 1983 veröffentlichen Aufruf „Einigung der Kirchen - reale Möglichkeit“ verdeutlicht haben, war wesentlich verbunden mit zwei Überzeugungen, die Frère Roger energisch vertrat: „Zunächst: Sofern die Einheit der Christen von Christus gewollt ist, sollte man sie ohne Verzögerung leben. Darüber hinaus: Die Einheit der Kirchen ist eine unaufgebbare Vorbedingung dafür, dass alle (Menschen; d. Red.) nach einer universaleren Einheit suchen.“ Scatena verwies auf die „Regel von Taizé“, die Roger Schutz „Quellen von Taizé“ genannt hat. Dort heißt es: Gib dich niemals zufrieden mit dem Skandal der Trennung der Christen … Mach die Einheit des Leibes Christi zu deiner eigenen leidenschaftlich angestrebten Überzeugung.“
In der anschließenden Diskussion brachte Peter aus Deutschland seine Zweifel darüber zum Ausdruck, dass die Frage der Einheit überhaupt noch ein Thema der Kirchen sei. Müssen Christen nicht ohne die theologischen Streitgespräche einheitlich auftreten im Einsatz für die Schöpfung, für Frieden und Gerechtigkeit, für die Gleichberechtigung der Geschlechter und Völker? Eine junge Frau wies darauf hin, dass die Trennung der Glaubenden nun einmal Tatsache sei. Man dürfe sie nicht „verteufeln“.
Was ist mit den Wunden?
Aber was ist mit den Wunden und den Verletzungen, die sich Christen gegenseitig zugefügt haben? Was ist mit der Einheit, die biblisch betrachtet von Jesus gewollt, von den Kirchenleitungen aber eher zögerlich oder gar abschlägig behandelt wird? Die evangelische Theologin Amélé Adamavi-Aho Ekué, geboren in Togo, jetzt tätig beim Institut des Weltkirchenrats im Schweizerischen Bossey, verwies auf die Verletzlichkeit als eine Grundeigenschaft christlicher Existenz. „Kein menschliches Leben, nichts in der Schöpfung kann gesehen werden ohne diese existenzielle Verletzlichkeit, die tief verbunden ist mit der Liebe des dreifaltig-dreieinigen Gottes … Gemeinsam mit vielen Philosophen und Theologen, etwa mit Emmanuel Lévinas, Jean Vanier oder Judith Butler, geht Frère Roger davon aus, dass der Hauptimpuls, sich anderen zuzuwenden, die in Not sind, aus der Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit folgt.“ Für ihn gebe es eine wesentlich im Inneren des Menschen angelegte Beziehung zwischen dem Entdecken des Einzelnen, eine Situation meistern zu können, und der Fähigkeit, dem anderen zu dienen und zu helfen. Aus dieser Erfahrung heraus entstehe eine Praxis der Frömmigkeit, die mit Gemeinschaft, Freundschaft und Verständigung zu tun hat. Weil Christus im Herzen jedes Menschen anwesend ist, kann er auch im Dialog dort angetroffen werden.
Aus Südafrika war der anglikanische Pfarrer Edwin Arrison gekommen. Selbst ein ehemaliger Freiwilliger in Taizé sowie Mitarbeiter von Erzbischof Desmond Tutu, bezeugte er, wie sehr die gesellschaftliche Praxis in seinem Land Vorstellungen eines „kontemplativen Aktiven“, wie Frère Roger einer war, nötiger denn je hat.
Der indische katholische Erzbischof Thomas Menamparampil hatte die schwierige Aufgabe übernommen, die Wirkung des Taizé-Gründers für Ostasien darzulegen. Frère Roger hatte Indien, Bangladesch, Thailand, Hongkong und die Philippinen besucht. Allen Völkern gemeinsam, so der Erzbischof, sei ihre religiöse Sehnsucht. Gerade mit seiner christuszentrierten Spiritualität findet Taizé dort offene Ohren. Denn die Menschen spüren, dass die Botschaft nicht nur an den Einzelnen geht, sondern auch „an die Seele der Gemeinschaft“.
Die deutsche evangelische Theologin Beate Bengard, Fachfrau für den Philosophen Paul Ricœur, erläuterte die Sichtweise des französischen Denkers, der mit Frère Roger eng befreundet und in vielem eines Sinnes war. Ricœur teilte die Gedanken der spirituellen Verbundenheit aller Glaubenden über ihre konfessionellen Grenzen hinweg und hatte sich zu diesem Thema auch religionsphilosophisch geäußert. Doch hielt er daran fest, dass der Geist Gottes die Menschen nicht nur eint, sondern auch zerstreut. Denn er bringe ja eine Vielfalt von Glaubensweisen hervor, die sich notwendigerweise voneinander unterscheiden. Der Philosoph ging aber dennoch davon aus, dass in der Entwicklung der Geschichte die Unterschiede eines Tages gänzlich verschwinden. Beate Bengard: „Er plädierte dafür, die geistlichen Unterschiede in die geistliche Einheit zu integrieren. Taizé war für ihn ein Ort, der den kirchlichen Institutionen auf dem Gebiet der Ökumene voraus ist, weil hier die Integration der Unterschiede bereits gelebt wird … Ricœur ging so weit, zu sagen, dass der Kontakt mit einem anderen Menschen zu einem Augenblick der Offenbarung werden kann.“ Der andere wird als Bereicherung des eigenen „bisher unterbelichteten“ Glaubens angesehen.
Bemerkenswert beim Symposium war auch, dass sowohl unter den jungen Theologen als auch unter den Referenten etliche orthodoxe Christen waren. Dass die orthodoxe Spiritualität und die Hochschätzung der frühen Kirchenväter in Taizé immer schon eine wichtige Rolle spielten, ist auch äußerlich zu sehen: an den vielen ostkirchlichen Ikonen, an der Einrichtung einer orthodoxen Kapelle im unteren Teil der Versöhnungskirche und an den vermehrt slawischen Gesänge in den drei Gebetszeiten. Der serbisch-orthodoxe Bischof Andrej Cilerdžic von Wien würdigte die vielen Gesten und Begegnungen des ersten Taizé-Priors im Hinblick auf die orthodoxen Kirchen. So habe dieser 1963 an der Tausendjahrfeier des „heiligen Berges Athos“ teilgenommen. Die Mystik der orthodoxen Liturgie, ihre Liebe zur Auferstehung Christi habe den Gründer von Taizé inspiriert, ihn „die Freude des Himmels auf der Erde erahnen lassen“, wie er selber einmal schrieb. Den ökumenischen Patriarchen Athenagoras I. hatte die Begegnung mit Frère Roger und Taizé so berührt, dass er vorschlug, auf der Insel Patmos, wo nach biblischem Zeugnis die Offenbarung des Johannes geschrieben wurde, eine Art orthodoxes Taizé zu gründen. Ob die heutigen orthodoxen Bischöfe, die sich 2016 zum sogenannten Panorthodoxen Konzil in Istanbul treffen wollen, diesem Vorschlag heute noch zustimmen könnten?
Eucharistie und Ökumene
Kardinal Walter Kasper, der in Taizé vor zehn Jahren das Requiem für Frère Roger gefeiert hatte und langjährig Präsident des päpstlichen Einheitsrates war, wurde als Hauptredner beim Symposium mit herzlichem Beifall empfangen. Er sprach sich dafür aus, dass das „Gleichnis der Gemeinschaft“, welches Taizé seit Jahrzehnten darstellt, zu einem „Paradigma des ökumenischen Wegs der Kirche und der Kirchen“ werden soll. Er sehe im persönlichen Weg des ersten Priors einen „diskreten Hinweis des Heiligen Geistes“. Frère Roger sei seinem Gewissen gefolgt und in das Geheimnis der katholischen Kirche eingetreten, ohne die Kirche zu wechseln. Es war eine „ökumenische Berufung“. Er habe gezeigt, dass eine persönliche Entscheidung nötig ist. Man kann diese treffen, ohne die Existenz der anderen zu verneinen oder zu verurteilen. „Wie auch immer eine Glaubensentscheidung ausfällt, wir bleiben Freunde, Brüder und Schwestern, wo jeder die Entscheidung des anderen respektiert.“ Aus diesem Grund habe die Communauté zu Recht Gerüchte zurückgewiesen, Frère Roger sei konvertiert. Als er 2005 im Rollstuhl beim Requiem für Papst Johannes Paul II. aus den Händen von Kardinal Joseph Ratzinger die Kommunion empfing, sei das keineswegs, wie häufig behauptet wird, neu gewesen. Es entsprach einer seit langem persönlich gepflegten liturgischen Praxis. Auch die Brüder heute empfangen in einer katholischen Eucharistie täglich den Leib und das Blut Christi.
Mika, evangelischer Christ aus Finnland, fragte, ob der Vatikan angesichts des bevorstehenden Reformationsjubiläums 2017 einen deutlichen Schritt auf die protestantischen Kirchen zu wagen werde. Elfi, reformierte Pastorin aus Deutschland, wollte wissen, wann die evangelische Abendmahlsfeier katholischerseits endlich anerkannt wird. „Ich bin kein Prophet“, antwortete Kasper. Zwar sei „die kanonische Disziplin“, also das Einhalten des Rechts, wichtig. „Aber sie darf auch keine Fessel sein.“ Der Kardinal verwies auf „die Medizin“ der Barmherzigkeit und des Verzeihens. Geduld, Gespräch und Gebet seien nötig. „Wir sind eingeladen, den ökumenischen Weg Frère Rogers fortzusetzen.“ Papst Franziskus jedenfalls wolle keine Kirche, die ausgrenzt, sagte Kasper und öffnete damit auch den Blick auf die außerordentliche Bischofssynode über Ehe und Familie. Er erinnerte an die Regel der Communauté, in der es heißt: „Die Sünde eines Mitglieds trifft den ganzen Leib, aber das Verzeihen Gottes führt es wieder in die Gemeinschaft zurück.“ Diesen Satz über Barmherzigkeit unter den Brüdern könne man leicht auch entsprechend auf die getrennten Schwesterkirchen anwenden.
Die Früchte der Seele
Die Internationalität der Teilnehmer, das wache Zuhören wie das intensive Gespräch zwischen den Vorträgen begünstigten auch, dass Themen angesprochen wurden, die heute unter jüngeren Theologen aktuell sind: etwa die strukturelle Sünde im Nord-Süd-Gefälle, die Gleichheit der Geschlechter in den Kirchen, weibliche oder männliche Gottesbilder, das christliche Zeugnis angesichts der Säkularisierung im Westen.
Prior Frère Alois, der an der gesamten Veranstaltung teilnahm und der sich sichtlich über das gelungene Treffen freute, merkte an, dass sich zumindest in diesen Tagen alle verschiedenen Kirchen unter einem Dach - dem der Versöhnungskirche, wo auch das Symposium stattfand - befanden: ein sichtbares Zeichen ökumenischer Gemeinschaft und Gastfreundschaft. Er erinnerte darüber hinaus an ein frühes Büchlein Frère Rogers mit ausgewählten Sprüchen der Kirchenväter, das den Titel trug: „Lasst uns die Seele der Welt sein“. In dieser Septemberwoche, so kurz vor der Traubenlese, ließ sich erahnen, dass diese Seelenarbeit Früchte trägt - in Taizé und anderswo.