Wirklich geschwiegen hat er nie. Auch wenn sich Papst Franziskus bei den römischen Bischofssynoden in den vergangenen beiden Jahren nicht aktiv zu Wort gemeldet hat, konnte doch jeder wissen, wohin er will. Immer wieder ließ er durchblicken, dass er zwar keine grundsätzliche Änderung der kirchlichen Lehre zu Ehe und Familie anstrebt - dass er aber mehr Spielraum für den konkreten Einzelfall möchte. Zusätzlich setzte Franziskus das große Thema „Barmherzigkeit“, gewissermaßen als Wink mit dem Zaunpfahl …
Nun gibt es dieses päpstliche Reformprogramm auch schwarz auf weiß. Unter dem Titel „Amoris laetitia“, die „Freude der Liebe“, hat Franziskus sein apostolisches Schreiben veröffentlicht. Auf 300 Seiten fasst er darin die Beratungen der beiden Weltbischofssynoden zusammen. Vor allem ordnet er die teilweise extrem gegensätzlichen Meinungen der beteiligten Bischöfe ein, bewertet sie - und setzt eigene Akzente. Neun Kapitel umfasst das Dokument. Sie sind aus einem Guss, bauen - zumindest im Prinzip - klar und logisch aufeinander auf.
In den einleitenden Worten beschreibt Papst Franziskus die ganze Bandbreite an Meinungen, die er in der hitzigen Diskussion wahrgenommen hat. „Die Debatten … reichen von einem ungezügelten Verlangen, ohne ausreichende Reflexion oder Begründung alles zu verändern, bis zu der Einstellung, alles durch die Anwendung genereller Regelungen … lösen zu wollen“ (2). Franziskus macht sogleich klar, dass beide Haltungen für ihn keine wirklichen Alternativen sind. Eine gewisse „Einheit der Lehre und der Praxis“ müsse es in der Kirche „selbstverständlich“ geben. Das bedeute aber nicht, dass „alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen“. Außerdem könnten „in jedem Land oder jeder Region besser inkulturierte Lösungen gesucht werden, welche die örtlichen Traditionen und Herausforderungen berücksichtigen“ (3).
Und noch eine weitere Leseanweisung gibt der Papst gleich zu Beginn, indem er auf das Heilige Jahr der Barmherzigkeit verweist. Diese Haltung soll gewissermaßen das Vorzeichen sein, um all jene Situationen zu beurteilen, „wo das Familienleben sich nicht vollkommen verwirklicht oder sich nicht in Frieden und Freude entfaltet“ (5).
Woran Familien leiden
Das Schreiben startet biblisch, Franziskus bezeichnet das als „angemessene Einstimmung“ (6). Er beginnt mit einer Auslegung von Psalm 128, liefert in der Folge eine schöne Deutung der Schöpfungserzählungen und endet bei der Betrachtung Jesu und seiner Familie. Der Papst sagt, er wolle damit zeigen, „dass das Wort Gottes sich nicht als eine Folge abstrakter Thesen erweist, sondern als ein Reisegefährte auch für die Familien, die sich in einer Krise oder inmitten irgendeines Leides befinden“ (22).
In der Folge geht es dem Papst um, wie er selbst sagt, „Bodenhaftung“ (6): Er will die aktuelle Situation der Familien darlegen. Damit fängt er schon am Ende des ersten Kapitels an, wenn er etwa thematisiert, wie „Arbeitslosigkeit und unsichere Arbeitsbedingungen zu Leiden werden“ (25). Der Mangel an Arbeitsplätzen schädige die Ausgeglichenheit von Familien.
Vor allem ist das zweite Kapitel der Analyse gewidmet. Es ist wohltuend, dass Franziskus I. freundlicher über die moderne Welt denkt als die Synodalen in ihrem Abschlussbericht aus dem vergangenen Herbst (vgl. CIG Nr. 49 / 2015, S. 535). Natürlich sieht auch er „Licht- und Schattenseiten“ (32), Gefährdungen (33) und Herausforderungen (50) für Ehe und Familie. Ja, einmal spricht er sogar vom „kulturellen Niedergang“ (39). Doch grundsätzlich ist für ihn die Welt nicht einfach schlecht. Franziskus denkt differenzierter. Verständnisvoll, geradezu zärtlich nimmt der Papst die Zerrissenheit des modernen Menschen wahr: „Man fürchtet die Einsamkeit, man wünscht sich einen Raum des Schutzes und der Treue, doch zugleich wächst die Furcht, gefangen zu sein durch eine Beziehung, die das Erreichen der persönlichen Bestrebungen zurückstellen könnte“ (34).
Für den Papst ist klar, dass man den Menschen heute nicht einfach etwas „verordnen“ kann. „Lange Zeit glaubten wir, dass wir allein mit dem Beharren auf doktrinellen, bioethischen und moralischen Fragen … die Familien bereits ausreichend unterstützten“ (37). Franziskus wünscht sich vielmehr eine „missionarische Kreativität“ (57). Er betont, dass heute das Werben für das, von dem man selbst überzeugt ist, zählt: „Als Christen dürfen wir nicht darauf verzichten, uns zugunsten der Ehe zu äußern, nur um dem heutigen Empfinden nicht zu widersprechen, um in Mode zu sein oder aus Minderwertigkeitsgefühlen angesichts des moralischen und menschlichen Niedergangs. Wir würden der Welt Werte vorenthalten, die wir beisteuern können und müssen“ (35).
Und hier scheint bereits ebenfalls ein Grundzug der päpstlichen Herangehensweise auf: Franziskus traut den Menschen selbst etwas zu. Die Kirche müsse „dem Gewissen der Gläubigen Raum … geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle Schemata auseinanderbrechen“ (37).
In der „Kultur des Provisorischen“
Der Papst benennt in diesem Kapitel konkrete Herausforderungen, die es dem Menschen von heute schwermachen, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen. Die sogenannten sozialen Netzwerke würden eine „Kultur des Provisorischen“ vermitteln. Gerade junge Leute kämen so auf die Idee, „dass man die Liebe … nach Belieben des Konsumenten ein- und ausschalten“ (39) könne. Auch die mangelnden Zukunftsaussichten, die Konsumgesellschaft, „das Fehlen einer würdigen oder angemessenen Wohnung“, eine schlechte Förderung durch die Politik (44) können Menschen Probleme bereiten. Sehr viel zählt der Papst in diesem Kapitel auf: von Drogenkonsum über Polygamie bis zum Zusammenleben vor der Ehe. Auch „Formen des Feminismus …, die wir nicht als angemessen betrachten können“ (45). Die Gender-Ideologie „höhlt“ nach Ansicht des Papstes „die anthropologische Grundlage der Familie aus“ (56).
Im dritten Kapitel erinnert Franziskus I. an „einige Grundfragen der Lehre der Kirche über Ehe und Familie“ (6). Er erläutert etwa, was es heißt, dass die Ehe in der Kirche ein Sakrament ist. „Niemals werden“ die Eheleute „nur auf ihre eigenen Kräfte gestellt sein, um sich den Herausforderungen zu stellen, die ihnen begegnen“ (74). Auch auf die kirchliche Haltung zur Geburtenregelung geht der Papst ein: Die Vereinigung der Eheleute sei „auf die Zeugung ausgerichtet“ (80). Es sei ein „schmerzlicher Widerspruch“, wenn die Familie „sich in einen Ort verwandelt, wo das Leben abgelehnt und zerstört wird“ (83). An anderer Stelle, später, fügt er aber hinzu, dass die „erotische Dimension“ ein „Geschenk Gottes“ ist, „das die Begegnung der Eheleute verschönert“ (152).
Das Wesen der Liebe
Kapitel vier und fünf bezeichnet der Papst selber als „zentral“. Sie sind dem Wesen der Liebe gewidmet. Das Dokument beginnt in diesem Teil mit der Erschließung des Bibeltextes, der wohl am häufigsten bei Trauungen zu hören ist: dem Hohenlied der Liebe aus dem ersten Korinther-Brief. Wer diese dreißig Abschnitte (89 bis 119) liest, sieht Franziskus buchstäblich als einfühlsamen Prediger vor sich stehen. Zur Langmut etwa schreibt er: „Das Problem besteht, wenn wir verlangen, dass die Beziehungen himmlisch oder die Menschen vollkommen sind“ (92). Zur nötigen Versöhnungsbereitschaft von Ehepaaren zitiert der Papst den amerikanischen Prediger und Bürgerrechtler Martin Luther King: „Wenn ich dich schlage und du mich schlägst und ich dir den Schlag zurückgebe und du mir den Schlag zurückgibst und so weiter, dann ist klar, das geht ewig so weiter … Irgendwo muss irgendjemand ein bisschen Verstand haben, und das ist der starke Mensch“ (118).
Besonders eindringlich wird der Papst, wenn er junge Menschen in den Blick nimmt. Er liefert zwar keine ausgefeilte theologische Argumentation ab. Aber er spricht die Sprache vieler Menschen, das Gesagte ist für viele nachvollziehbar, etwa wenn es heißt: „Wer verliebt ist, fasst nicht ins Auge, dass diese Beziehung nur für eine bestimmte Zeit bestehen könnte; wer die Freude, zu heiraten, intensiv erlebt, denkt nicht an etwas Vorübergehendes; … die Kinder möchten nicht nur, dass ihre Eltern einander lieben, sondern auch, dass sie treu sind und immer zusammenbleiben. Diese und andere Zeichen zeigen, dass im Wesen der ehelichen Liebe selbst die Öffnung auf die Endgültigkeit hin vorhanden ist“ (123). Wenig später rät der Autor zu gesundem Realismus und warnt vor „Fantasien von einer idyllischen und vollkommenen Liebe“, wie sie in Medien vorgeführt werde. Zitiert wird die chilenische Bischofskonferenz: „Die Konsum-Propaganda zeigt ein Traumbild, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, mit der sich die Familienoberhäupter Tag für Tag auseinandersetzen müssen“ (135).
Im Zusammenhang mit der „erotischen Dimension“ setzt sich Franziskus I. dann ausdrücklich von „einigen geistlichen Strömungen“ ab, die erklären, man müsse „das Begehren besiegen“ (149). Klar allerdings weist der Papst „Verirrungen von Sexualität und Erotik“ (157) zurück, etwa Gewalt oder die „giftige Mentalität des Gebrauchens und Wegwerfens“ (153).
Im zweiten zentralen Kapitel, dem fünften, geht es um „die Liebe, die fruchtbar wird“. Franziskus I. betrachtet hier - sehr lebensnah - im Grunde alle Konstellationen von Familie. Vor allem erweist er sich als Anwalt der Schwächsten: der Kinder. Wenn etwa Eltern ungewollt schwanger werden und meinen, „dass ihr Kind nicht gerade im besten Moment kommt“, betont der Papst: „Sie müssen den Herrn bitten, dass er sie heile und sie stärke, um dieses Kind völlig zu akzeptieren, damit sie es von Herzen erwarten können. Es ist wichtig, dass dieses Kind spürt, dass es erwartet wird … Es ist ein Menschenwesen mit einem unermesslichen Wert und darf nicht für den eigenen Vorteil gebraucht werden. Es ist also nicht wichtig, ob dieses neue Leben dir nützlich ist oder nicht, ob es Eigenschaften hat, die dir gefallen oder nicht, ob es deinen Plänen und Träumen entspricht oder nicht. Denn Kinder sind ein Geschenk. Jedes ist einzigartig und unwiederholbar“ (170).
Franziskus I. beschreibt in diesem Kapitel sehr viel rund um Elternschaft. So sagt er etwa auch, dass es „sehr rechtmäßig und sogar wünschenswert“ sei, „dass die Frauen studieren, arbeiten, ihre Fähigkeiten entfalten und persönliche Ziele haben möchten“. Zugleich kritisiert Franziskus I. die „Schwächung der mütterlichen Gegenwart mit ihren weiblichen Eigenschaften“ als „ernste Gefahr für unsere Erde“ (173). Der Papst denkt über die „vaterlose Gesellschaft“ nach (175), über Kinderlosigkeit und Adoption. Er ruft die Eheleute auf, über sich hinauszugehen, „für die Gerechtigkeit zu kämpfen“, „den Armen Raum zu geben“ (183).
Zum Schluss dieses Kapitels blickt Franziskus I. auf jede und jeden im großen System einer Familie. Er meditiert etwa, wie es sein soll, Schwester und Bruder zu sein (194), wie man mit den alten Großeltern umgehen soll. Ja, selbst die Haltung zu den Schwiegerleuten thematisiert der Papst. Man dürfe sie nicht „als Nebenbuhler, als gefährliche Wesen, als Eindringlinge“ betrachten, sondern müsse „ihre Traditionen und Bräuche … respektieren“ (198).
Scheidungskinder
Das folgende Kapitel befasst sich mit der Seelsorge für Familien. Die Pfarrgemeinden müssten Männer und Frauen schon vor der Ehe begleiten, als Verlobte. Priesterkandidaten sollen sich „über Verlobungszeit und Ehe“ kundig machen, und zwar „nicht nur in Bezug auf die Doktrin“ (203). Alle sollten offen sein „für Beiträge aus Psychologie, Soziologie, Sexualforschung“ (204). Bei der Vorbereitung der Hochzeitsfeier dürfe man sich nicht nur darauf konzentrieren, ein schönes - und aufwendiges - Fest zu feiern. Hier spricht der Bischof von Rom die jungen Leute wieder direkt an: „Liebe Verlobte, habt den Mut, anders zu sein, lasst euch nicht von der Gesellschaft des Konsums und des Scheins verschlingen. Das, worauf es ankommt, ist die Liebe, die euch eint und die durch die Gnade gestärkt und geheiligt wird“ (212).
Des Weiteren denkt der Papst darüber nach, warum Ehen scheitern, etwa durch „übertrieben hohe Erwartungen an das Eheleben“ (221). In diesem Abschnitt erteilt der Papst sogar ganz praktische Ratschläge, zum Beispiel: „Es ist gut, den Morgen immer mit einem Kuss zu beginnen“ (226).
Mit dem Scheitern von Ehen befasst sich der Papst dann zunächst als spirituelle Herausforderung. Hier wiederholt er, dass wiederverheiratete Geschiedene „keineswegs exkommuniziert sind und nicht so behandelt werden“ sollen (243). Auch in dieser Situation denkt Franziskus I. besonders an die Kinder. Den getrennten Eheleuten schreibt er ins Stammbuch: „Ihr dürft das Kind nie, nie, nie als Geisel nehmen! Aufgrund vieler Schwierigkeiten und aus vielerlei Gründen habt ihr euch getrennt. Das Leben hat euch diese Prüfung auferlegt, aber die Kinder dürfen nicht die Last dieser Trennung tragen“ (245).
Unter dem Stichwort „Einige komplexe Situationen“ beschäftigt sich das Schreiben unter anderem mit der Ökumene (247). Konfessionsverschiedene Ehen hätten besondere Probleme, wiesen jedoch auch „zahlreiche Elemente auf, die es zu schätzen und zu entfalten gilt“, heißt es da. Die gemeinsame Teilnahme an der Eucharistie könne aber „nur im Ausnahmefall“ erfolgen. Von der gemeinsamen Teilnahme am evangelischen Abendmahl handelt das Dokument nicht.
Gegen eine Schreibtisch-Moral
Kurz geht dieser Abschnitt auch auf Homosexualität ein, zitiert allerdings fast nur das Abschlussdokument der Bischofssynode aus dem vergangenen Jahr. Dies wandte sich scharf dagegen, „zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen“. Dafür gebe es „keinerlei Fundament“. Es sei „unannehmbar“, wenn politischer Druck ausgeübt werde, eine „Ehe für alle“ durchzusetzen (251).
Das siebte Kapitel widmet sich der Erziehung der Kinder, auch hier oft konkret: „Es geht nicht darum, den Kindern zu verbieten, mit den elektronischen Geräten zu spielen, sondern darum, die Form zu finden, um in ihnen die Fähigkeit zu erzeugen, die verschiedenen Denkweisen zu unterscheiden und nicht die digitale Geschwindigkeit auf sämtliche Lebensbereiche zu übertragen“ (275). Sexualerziehung dürfe nicht nur vermitteln, „sich zu ‚hüten‘ und für einen ‚sicheren Sex‘ zu sorgen“. Sondern es sei wichtig, jungen Menschen „einen Weg aufzuzeigen zu verschiedenen Ausdrucksformen der Liebe, zur gegenseitigen Fürsorge, zur respektvollen Zärtlichkeit, zu einer Kommunikation mit reichem Sinngehalt (284).
Das, worauf sich viele Blicke richten - der konkrete Umgang etwa mit wiederverheirateten Geschiedenen -, spricht genauer erst das achte Kapitel an. Es geht darum „zur Barmherzigkeit und zur pastoralen Unterscheidung einzuladen“ (6). Man müsse verstehen, dass er keine „neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art“ (300) geben könne, erklärt der Papst. Entscheidend sei die Beurteilung des Einzelfalls. Franziskus I. will „das Gewissen der Menschen besser in den Umgang der Kirche mit manchen Situationen“ einbeziehen (303). Es soll eine „verantwortungsvolle persönliche und pastorale Unterscheidung“ jeder einzelnen Situation getroffen werden (300). Maßstab müsse - natürlich - die Liebe Gottes, die Barmherzigkeit sein. Auch hier wieder starke Bilder in der Sprache des Papstes: In der Kirche dürfe es keine „kalte Schreibtisch-Moral“ geben (312). Bei der Beurteilung der schwierigen Situationen genüge es nicht, „nur moralische Gesetze anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft“ (305).
Das Schreiben endet mit spirituellen Gedanken zu Ehe und Familie und ganz am Ende mit einem Gebet.
Kein fauler Kompromiss
Mit dem Schreiben bekräftigt Franziskus I. im Großen und Ganzen die katholische Sicht der biblisch-jesuanischen Aussagen zu Ehe und Familie. Wer eine grundlegende Änderung der Lehre gerade bei den Konfliktthemen erwartet, wird nicht bestätigt. Aber die behutsame Öffnung zur Beurteilung der Einzelfälle lässt eine neue Zielrichtung erkennen. Die beiden Bischofssynoden haben ja die Konfliktlinien und Blockaden in der Kirche offenkundig gemacht. Nur mit Mühe hatten sich im vergangenen Herbst die Synodalen überhaupt auf ein Abschlusspapier einigen können. Gerade bei den besonders umstrittenen Themen wurde um die erforderliche Zweidrittelmehrheit hart gerungen. Der Papst sucht den Kompromiss, aber keinen faulen Kompromiss.
Die anglikanische Gemeinschaft hat gerade „vorgemacht“, wie heftige Spannungen tatsächlich zu einer Kirchenspaltung führen können. Sie schloss im Januar kurzerhand ihren amerikanischen Zweig aus, weil er der Mehrheit ihrer Mitglieder in Sachen Homosexualität zu liberal ist. Dieses Negativbeispiel zeigt: Franziskus I. musste sich mit seinem Schreiben wahrlich als „Pontifex“, als „Brückenbauer“, zwischen gegensätzlichen Auffassungen erweisen. Das ist ihm gelungen - auch weil er sehr klug argumentiert. Er zitiert öfter zunächst die verschiedenen Sichtweisen in den Abschlussberichten der beiden Synoden, um sie zu würdigen und „mit ins Boot zu nehmen“. Worum es ihm dann aber eigentlich geht, das steht hintendran: „Ich möchte hinzufügen …“
Zu würdigen ist auch die einfühlsame, einfache Sprache, die man so von kirchlichen Dokumenten nicht kennt. „Amoris laetitia“ ist Papst Franziskus im Originalton, ein „echter Franziskus“. Er schreibt weniger als Theologe, sondern mehr als Seelsorger. Richtig lebendig wird es, wenn Franziskus I. Schriftsteller aus seiner lateinamerikanischen Heimat sowie Sprichwörter zitiert oder von seinem Lieblingsfilm „Babettes Fest“ erzählt. Das kann man ausufernd und abschweifend finden, vielleicht da und dort sogar „schwammig“, wie die „New York Times“ schrieb. Manchmal geht die Logik innerhalb eines Satzes verloren, es gibt teilweise wortgleiche Wiederholungen. Die Mehrheit der Väter und Mütter dieser Welt dürften sich jedoch in vielem von diesem Papst verstanden fühlen und für seine Lebensnähe dankbar sein.