Wie lebt man mit dieser Schuld?“, fragte die „Bild“-Zeitung. In dem Artikel ging es um den Fahrdienstleiter, der mutmaßlich das Zugunglück von Bad Aibling mit vielen Toten und Schwerverletzten verursacht hat. Abgesehen von der Frage, ob es hier tatsächlich um Schuld geht, also um die bewusste Entscheidung eines Menschen für das Böse: Es ist bemerkenswert, dass genau dieses Wort verwendet wurde. Gewöhnlich wird ja nur von „Fehlern“ oder „menschlichem Versagen“ gesprochen. Das Ausmaß jener Katastrophe ließ aber das Boulevardblatt zu besonderen Worten greifen.
Die Antwort der Zeitung auf die eingangs gestellte Frage war dann allerdings wieder typisch für unsere Zeit. In erster Linie ging es um die strafrechtliche Beurteilung: „bis zu fünf Jahre Haft“. Man bewegte sich also vor allem auf der technischen, rechtspositivistischen Ebene. Um alles, was es sonst noch geben mag zwischen Himmel und Erde, sollen sich die „Experten“ fürs Reparieren kümmern. Die Zeitung „wusste“ nämlich: „Ein Urteil steht schon fest: Lebenslang. Lebenslange Schuldgefühle, lebenslange Albträume. Er wird für den Rest des Lebens auf psychiatrische Hilfe angewiesen sein.“
Vorgänge wie das Unglück von Bad Aibling machen brutal deutlich, dass die glänzende Oberfläche unserer Gesellschaft dünn ist. Sünde? Schuld? Ein Bewusstsein dafür, dass es Dinge gibt, die sich zwischenmenschlich nicht mehr klären, miteinander ausmachen lassen? Gibt es eigentlich nicht mehr. Man liest vielleicht noch manchmal von Steuer-, Verkehrs- oder Umweltsündern, wenn jemand die Allgemeinheit schädigt. Aber gerade im persönlichen Bereich ist scheinbar alles „okay“, solange es „freiwillig“ geschieht. Fröhlich werden beispielsweise in der Regenbogenpresse die Partner-wechsel-dich-Spielchen der Prominenz gefeiert. Sünde ist da fast nur noch, wenn jemand einen Pullover in der falschen Farbe trägt - Modesünde.
So wie Schuld und Sünde zur Karikatur verkommen sind, steht es auch um deren andere Seite, die Vergebung. „Gebeichtet“ wird öffentlich nur noch im Fernsehen. Von der religiösen Sache, vom bekennenden Versagen vor Gott, worum es einst ging, ist nur noch das Wort geblieben. Denn wenn ein Star intime Details verrät, geht es meist nur darum, ein Buch zu verkaufen oder einen Film anzupreisen. So ist auch der traditionelle Vergebungsort, der Beichtstuhl, der breiten Bevölkerung fast nur noch aus dem entsprechenden politischen Verfahren bekannt: Wenn Verhandlungen in großer Runde feststecken und Politiker in Einzelgesprächen weiterkommen wollen. Oder man lässt sich von „exotischen Ritualen“ in Priester- und Nonnenfilmen unterhalten. Wir amüsieren uns darüber - zu Tode?
Nicht nur für fromme Seelen
Dabei täte eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem, was Vergebung, was Erlösung eigentlich meint, dringend not. „Gerade in der heutigen Zeit ist die Verkündigung und Praxis der Barmherzigkeit nicht nur eine fromme Übung für erwählte Seelen; sie ist vielmehr von größter Tragweite für unsere Gesellschaft“. Das schreibt Kardinal Christoph Schönborn im Geleitwort zu einem aktuellen Buch („Beichte neu entdecken. Ein ökumenisches Kompendium für die Praxis“, Göttingen 2016). Der Wiener Erzbischof ist überzeugt: „Erst im Vertrauen, Barmherzigkeit und Vergebung zu erlangen, muss Schuld nicht mehr verdrängt werden. Schuld und Sünde können zur Sprache und somit zur Heilung kommen, der Teufelskreis von Vergeltung und Gewalt wird aufgebrochen.“ Im selben Band erklärt der österreichische Priester Hermann Glettler, die Beichte sei eine „positive Alternative zu einer krampfhaften Selbstentschuldigung oder ebenso sinnlosen Schuldzuweisung an ‚die Anderen‘“, wie sie in unserer Gesellschaft üblich seien. „Beichte - das Sakrament gegen die Oberflächlichkeit“ könnte man sagen.
Von evangelischer Seite kommt ebenfalls der Hinweis, dass nur eine ernsthafte Beschäftigung mit dem, was religiös Sünde und Schuld heißt, dem Menschen entspricht. „In unserer Gesellschaft werden Zeiten des Innehaltens und des persönlichen Reflektierens immer wichtiger“, ist Heinrich Bedford-Strohm, der Vorsitzende des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland, überzeugt. Der bayerische Landesbischof macht deutlich, dass er in der christlichen Lehre von Umkehr, Buße und Versöhnung einen bedeutenden Mehrwert sieht: „Die Beichte gibt uns die Möglichkeit, weit über eine allgemeine Selbstreflexion hinaus, zu nüchterner Selbsterkenntnis zu gelangen und durch das Aussprechen unserer dunklen Seiten und durch die Zusage der Vergebung Befreiung zu erfahren.“ Heinrich Bedford-Strohm bringt diese Überzeugung durch ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer auf den Punkt: „Vor dem Psychologen darf ich nur krank sein, vor dem christlichen Bruder darf ich Sünder sein.“
Die Regensburger Kirchenrechtlerin Sabine Demel arbeitet ebenfalls an einem Buch über die Beichte. „Am Bußsakrament können wir lernen, wer wir wirklich sind“, sagt sie: „Und es ist das Sakrament gegen die Vereinsamung, wenn wir schuldig geworden sind, das Sakrament der Hoffnung auf Vergebung.“
Vielfach verschwunden
Die neue Debatte macht deutlich, dass der fast völlige Niedergang der Beichte hierzulande vielleicht doch als ein allgemeiner kultureller Verlust empfunden wird, auch über das Christlich-Religiöse hinaus. Als prominentester Werber für das Sakrament tritt zurzeit freilich Papst Franziskus auf. Beim Rom-Besuch der deutschen Bischöfe im vergangenen Herbst beklagte er: „Die Beichte ist vielfach verschwunden.“ Dass das anders werden soll, forderte er fast unverblümt: „Ich vertraue darauf, dass im kommenden Heiligen Jahr und darüber hinaus dieses für die geistliche Erneuerung so wichtige Sakrament in den Pastoralplänen der Diözesen und Pfarreien mehr Berücksichtigung findet.“ „Ich vertraue darauf“ - das ist die diplomatische Form, einen Arbeitsauftrag zu geben …
Die Bischöfe folgen dem Papst hier durchaus. Kardinal Reinhard Marx ging als Vorsitzender der Bischofskonferenz voran und widmete dem Thema seinen Fastenhirtenbrief. Es habe bei der Beichte in der Vergangenheit „Probleme, Missverständnisse und Verdunkelungen“ gegeben. In der Folge habe das Sakrament „für viele Christen an Bedeutung verloren“ und spiele insgesamt „im Leben der Kirche offensichtlich eine immer geringere Rolle.“ Wie klein diese Rolle ist, mag man daran ablesen, dass Marx die einzelnen Elemente der Beichte Schritt für Schritt erläutert: Gewissenserforschung - Reue - Bekenntnis - Lossprechung - Vorsätze. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz liefert regelrecht einen Grundkurs in Sakramentenliturgie - so unbekannt ist die Beichte heute.
Reinhard Marx will „dazu ermutigen, … dieses von Christus geschenkte Zeichen der Heilung und Barmherzigkeit neu zu entdecken.“ Das „kostbare Sakrament“ soll nach dem Willen des Kardinals „wieder einen Platz im Leben des Einzelnen und der Gemeinden bekommen.“ Aber warum genau ist das Sakrament so kostbar? Marx sagt zunächst, was es nicht ist. „Die Beichte ist keine Gerichtsveranstaltung, wie es vielleicht in früheren Zeiten gelegentlich den Eindruck machte.“ Und auch „keine peinliche Prüfung, kein Ort der Verurteilung“. Positiv gewendet: Die Beichte helfe, „sich immer wieder neu zu vergewissern, also das Gewissen zu befragen, ob mein Leben bis in die alltäglichen Vollzüge hinein dem entspricht, was die Gemeinschaft mit Jesus Christus erfordert“. Die Beichte sei „Begegnung mit der heilenden Barmherzigkeit Gottes“. Das Besondere liege darin, dass es die Beichte ermögliche, „diese Heilung nicht im Ungefähren zu lassen und nur mit uns selber auszumachen“.
Hypothek der Geschichte
Der Berliner Erzbischof Heiner Koch schrieb in seinem Fastenhirtenbrief: „Christus hat uns diesen Weg geschenkt, und es bedrückt mich, wie viele Katholiken zu diesem Geschenk sagen: ‚Nein danke, brauche ich nicht!‘“ Und der Mainzer Kardinal Karl Lehmann sagte: „Ein ganz besonderes Geschenk ist die recht verstandene Buße und Beichte, ob individuell oder gemeinschaftlich, schließlich die sakramentale Lossprechung. Dies müssen wir im Zusammenhang dieses Jahres der Barmherzigkeit tiefer bedenken. Hier sind freilich die Missverständnisse besonders groß. Umso dringender ist eine wahre Reform.“
Stichwort „Reform“: Von selbst dürfte sich keine Renaissance des Bußsakramentes einstellen. Auch nicht durch Aufrufe oder das Wirken der „Missionare der Barmherzigkeit“, die Papst Franziskus am Aschermittwoch entsandt hat. All das ist aber wichtig, denn die Hypothek aus der Geschichte dieses Sakraments wiegt schwer. Die Kirche hat viel Schuld auf sich geladen, indem sie den Beichtstuhl als Machtinstrument missbraucht hat. Unzählige Menschen haben die Praxis des Bußsakraments ganz und gar nicht als Befreiung erlebt. Sondern im Gegenteil: Das Beichten hat sie regelrecht krank gemacht. Seit den fünfziger Jahren wird das unter dem Begriff der „ekklesiogenen Neurose“ diskutiert. Der Psychoanalytiker Tilmann Moser schrieb 1976 prägnant von der „Gottesvergiftung“. Das alles hat Generationen von Gläubigen geprägt - und es wirkt bis heute nach. Der Theologe und Psychologe Tobias Kläden, stellvertretender Leiter der katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral in Erfurt, stellte im Interview mit „kirchensite.de“ fest: „Ich denke schon, dass viele mit dem Bußsakrament immer noch das ‚Abarbeiten‘ eines Sündenkatalogs verbinden und zudem nicht unbedingt das für Sünde halten, was von der Kirche als Sünde verstanden wird. Das gilt sicherlich vor allem für das sechste Gebot und alles, was mit Sexualität zu tun hat.“
Nur der Priester-Mann?
Es braucht also den Bewusstseinswandel im Umgang mit der Buße. Aber es braucht wohl auch konkrete Reformen. Dazu gehört eine größere Vielfalt an Feierformen, wie sie schon in den Texten der Würzburger Synode vor vierzig Jahren gefordert wurden. „Da ständige Umkehr und Erneuerung … zum Wesen der Kirche gehören, muss sie, um glaubwürdig zu bleiben, auch dem heutigen Menschen helfen, neue Zugänge zur Buße zu entdecken“, hieß es im Beschluss „Sakramentenpastoral“. Diese neuen Zugänge können zunächst einmal in der Tradition der Kirche gefunden werden. „Es gilt, die vielfältigen Möglichkeiten der Sündenvergebung, die es von altersher in der Kirche gab, wieder lebendig zu machen, damit jeder die ihm gemäßen Weisen der Buße findet …“ Diese Forderung gilt nach wie vor. Konkret würde das heute beispielsweise eine weitere Aufwertung der Bußandachten bedeuten. Denn offiziell braucht es nach der Mitfeier einer solchen Andacht immer noch die Lossprechung des Einzelnen. „Ich würde der Kirche den Mut wünschen, diese Andachten selbst als Form des Bußsakramentes zu sehen“, erklärt Sabine Demel.
Gleiches gilt für die Person des Beichtvaters. Aufgrund des sakramentalen Charakters muss dies bis heute ein Priester sein. Doch wie viele Laien haben mindestens genauso die Berufung und das Charisma, hilfreiche, heilsame Gesprächspartner zu sein! Viele Frauen würden beispielsweise - auch bei der Krankensalbung - lieber mit einer Frau sprechen und von einer Frau das Bußsakrament erhalten statt von einem Priester-Mann. Es wirkt tatsächlich seltsam, wenn ein geistlicher Begleiter, eine geistliche Begleiterin im Anschluss an ein (Beicht-?)Gespräch einen Priester rufen muss, der dann das „Ego te absolvo“ spricht. Der Priester solle keine „Absolutionsmaschine“ sein, forderte schon vor mehr als drei Jahrzehnten Karl Rahner.
Zu fragen wäre auch, ob etwas zu lernen ist von den besonderen Orten, an denen das Beichten noch beziehungsweise wieder lebendig ist: in Klöstern, bei Pilgerfahrten, bei Weltjugendtagen oder Taizétreffen. Ist die Zeit der flächendeckenden Beichte wirklich vorbei? Muss man mehr in Richtung Beichtzentren mit auch psychologisch kompetenten Gesprächspartnern denken?
Vielleicht liegt die Antwort ja auch bei diesem Thema in regional unterschiedlichen Lösungen. Der vatikanische Kirchenrechtler Markus Graulich formulierte es so: Papst Franziskus „problematisiert … die Beichte gar nicht: Für ihn ist es ganz selbstverständlich, dass Menschen beichten gehen … Wir würden vielleicht im deutschen Sprachraum etwas tiefer ansetzen.“