Das sogenannte Nachtragskapitel des Johannesevangeliums (Joh 21) wurde dem ursprünglich mit Kapitel 20 abschließenden Text erst später hinzugefügt und stammt wohl aus dem Schülerkreis des Autors.
Erzählt wird, wie die Jünger am See Gennesaret Jesus zum ersten Mal nach seiner Auferweckung begegnen. Hinter ihnen liegen die einschneidenden Ereignisse in Jerusalem. Sie sind wieder in den Alltag entlassen, so scheint es. Die mühsame Arbeit, die oft so erfolglos und entmutigend ist, hat sie wieder. Der kurze Austausch zwischen den Jüngern hat fast etwas Banales an sich. „Ich gehe fischen … Ich gehe auch mit …“ (Joh 19,3) - das klingt nicht nach einer Offenbarung großer Wahrheiten. Es ist gewöhnlich und wenig dramatisch. Die Erzählung holt die Zuhörer und Leser da ab, wo sie gewöhnlich ebenfalls sind: damit beschäftigt, das gewöhnliche Dasein zu bewältigen. Die Menschen sind da ohne große, edle und ideale Gedanken, einfach um ihre Arbeit zu tun.
Pascal, Augustinus, wir
In dieser Verfassung und noch mit einem Schuss Ärger über den Misserfolg der Nacht stehen die Jünger wohl am Ufer, als sie Jesus sehen. Sie erkennen ihn nicht, wahrscheinlich weil sie innerlich noch ganz woanders sind. Was uns anschließend geschildert wird, ist eine Geschichte des Erkennens. Es ist ein Weg nach innen zu einer Dimension der Wahrnehmung, die erst erschlossen werden muss. Hier sind wir Heutigen den Aposteln damals ziemlich ähnlich. Es ist, als ob wir eingeladen würden, aus dem ganz gewöhnlichen Alltag mit den Aposteln in die Tiefe des Erlebens zu steigen und zu einer Begegnung mit dem unbekannten Andern zu gelangen.
Viele tun sich schwer, die existenzielle Bedeutung, das Bewegende, Ergreifende und Erschütternde einer biblischen Erzählung zu erspüren und nachzuempfinden. Doch nicht die biblischen Geschichten sind langweilig, sondern unser Wahrnehmungsvermögen ist unzureichend geschärft, verschlossen, wie zugeklebt. Die Schwierigkeit, die Ereignisse um die Auferstehung Jesu anzunehmen, sind hauptsächlich darin begründet, dass wir meinen, wir müssten etwas Unsinniges und Unverständliches glauben und unseren Verstand dabei ausschalten. Das Missverständnis liegt darin, dass wir das Ereignis von Ostern wie ein äußeres Faktum, etwa wie einen Zeitungsbericht, betrachten und behandeln.
In Wirklichkeit ist es so, dass bei allen Erscheinungen des Auferstandenen eine totale Wandlung der Jünger stattfindet. Es wird nicht nur ein neues Wahrnehmungsorgan geweckt, der ganze Mensch wird neu. Es ist das Auge des Herzens (Eph 1,18), die Erkenntnisweise der großen Heiligen und Mystiker. Weil sie eine höchst existenzielle Form des Erkennens ist, kann sie auch einem jeden von uns zugänglich werden. Solches Erkennen ist nicht Ergebnis der äußeren Beobachtung. Hier kann das „Mémorial“, in dem der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal eine mystische Erfahrung beschrieb, weiterhelfen. Es wurde nach seinem Tod in seinen Rock eingenäht gefunden und lautet: „Feuer ‚Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs‘, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Gott Jesu Christi … Freude, Freude, Freude und Tränen der Freude“.
„Nicht der Gott der Philosophen“ bedeutet: Gott ist nicht Ergebnis von Argumenten. Es geht um Empfindungen, das, was uns anrührt. Pascal ist von der Unmittelbarkeit der Erfahrung überwältigt. Er hat sich das nicht ausgedacht oder eingebildet. Es ist ihm widerfahren und hat ihn aus seinen philosophischen Zweifeln, Überlegungen und Schlüssen herausgeholt und zu einer endgültigen, unumstößlichen Gewissheit geführt. Es hat ihn verwandelt. Wir dürfen seinen Erkenntnisprozess in Parallele setzen zu dem der ersten Jünger, auch zu dem des Augustinus. In seinen Bekenntnissen stellt er diese Erfahrung so dar: „Da kam ein gewaltiger Gewittersturm, der Regengüsse von Tränen brachte“ („Bekenntnisse“ 8,12,4).
Es hat ihn geschüttelt und gebeutelt. Nach all dem kehrte Friede, das heißt Gewissheit, ein. Hier darf auch die Gewissheit all derer stehen, die für ihren Glauben und ihre Überzeugung in den Tod gegangen sind: die frühchristlichen Märtyrer, die Männer und Frauen des Widerstands im Dritten Reich, die Christen im Nahen Osten. Mit dieser Art von Gewissheit ist nicht die wissenschaftliche Erkenntnis der äußerlich wahrnehmbaren Objekte als Ergebnis der Forschung gemeint. Diese vollzieht sich außerhalb des Menschen, zielt auf objektive Tatsachen. Sie handelt nicht von dem, was einen persönlich betrifft. Hier geht es um die Wirklichkeit der Bedeutsamkeiten, der Beziehungen.
In Beziehung leben
Beim Erkennen können wir zwei verschiedene Ebenen unterscheiden. Mystische Erfahrung, ebenso menschliche Verbundenheit bestehen im Ergriffensein des Ich; es geschieht mit ihm etwas. Es ist etwas Passives. Naturwissenschaftliche Denkweise meint das aktive Ergreifen. Man kann die erste vertikal, die andere horizontal nennen. Um den Anderen zu erkennen, ist die Ebene der Bedeutsamkeit entscheidend, sowohl im Zusammenleben wie in der Psychotherapie, noch mehr im Religiösen. Es ist die alte Weisheit, die in dem Satz „Adam erkannte Eva, seine Frau“ (Gen 4,1) enthalten ist. Im Tiefsten und Letzten gilt dies für die Beziehung zu Gott. Denn Gott ist mit den Worten von Paul Tillich „das, was mich unbedingt angeht“.
Die moderne naturwissenschaftliche Sicht der Dinge gibt nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wieder und kann zu dem, was unser ganz persönliches Glück ausmacht, nur sehr Begrenztes sagen. Sie kann einen blind und taub machen für das, was in einem, und noch mehr für das, was um einen vorgeht, für die Pflege menschlicher Beziehungen. Sie kann den Blick völlig verengen.
Ich habe als therapeutischer Seelsorger seit vierzig Jahren mit Ehe- und Beziehungsproblemen zu tun. Die Problematik besteht meistens darin, dass bei den Betroffenen die emotionale Seite, das Gespür für das existenziell Bedeutsame für sich und den andern, nicht gebildet, eher noch verkümmert ist. Es hat den Anschein, als ob die Menschen hilflos ihren Impulsen, Stimmungen, Gefühlslagen ausgeliefert seien, und dies gerade bei wissenschaftlich hochqualifizierten Personen. Um Beispiele zu nennen: Der Vater ist Ingenieur bei einer weltbekannten Firma, der Sohn will mit 16 das Haus anzünden. Dazu kommt es, weil keine Beziehung zwischen den beiden stattfand. Die Ehe der Eltern war ohnehin schon längst geschieden. Anderes Beispiel: Der Vater ist Professor am Max Plank-Institut, der Sohn ist schizophren - es herrscht die totale Beziehungslosigkeit. Die Schwierigkeit der Menschen heute, dauerhafte Beziehungen wie die einer Ehe zu leben (fast die Hälfte wird geschieden), ist mit guten Gründen auf die Einseitigkeit des rationalen Bewusstseins zurückzuführen.
Auf dem Weg nach innen
Das Gespür und das Geschick für den rechten Umgang mit Gefühlen, für spirituelle Tiefe und deren Anforderungen müssen erst erschlossen werden. Dass Menschen unserer Zeit Erfahrungen zuteilwerden, die sie total erschüttern und wandeln, ist dem wissenschaftlich Denkenden unbekannt. Man hat dafür sofort das Etikett „Einbildung“ bereit, als ob sich jemand das selbst gesucht hätte. In einer tiefenpsychologisch und spirituell fundierten Psychotherapie und in den neu entdeckten Wegen der Meditation steht immer die Frage vor dem Einzelnen: Wer bin ich? Es beginnt ein Prozess der tieferen Selbsterkenntnis, des Wachstums der Persönlichkeit zur Versöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte, zum besseren Umgang mit Menschen und zu intensiveren religiösen Erfahrungen. Man darf das Ganze auch „dichtere Gewissheit“ nennen. Dass es auf dem Weg nach innen Verirrungen (vielleicht Umwege) gibt, spricht nicht dafür, dass man ihn nicht gehen soll. Vor ihm zu warnen, wäre dasselbe, als ob man wegen der Scheidungen von der Ehe abraten würde. Besser ist es, sich am gelungenen Erkenntnisprozess Pascals, des Augustinus, der Jünger nach dem Tod Jesu und vieler anderer zu orientieren.
Die Erzählung vom See Gennesaret ist eine Geschichte des fortschreitenden Erkennens. Sie beginnt mit dem ganz Gewöhnlichen, mit der Sorge um das tägliche Essen, mit Misserfolg und Unsicherheit, und endet dann mit der Erkenntnis, die alle überwältigt. Am Schluss dieses Prozesses steht die Überzeugung, dass es Jesus ist, der den Auftrag gibt, der in der Tiefe des Sees und des gemeinsamen Mahles anwesend ist.
Die einzelnen Szenen sollten wir als Bilder auf uns wirken lassen. Da wird der Morgen erwähnt. Es ist die Grenze zwischen Nacht und Tag, zwischen Dunkelheit und Licht. Der Morgen bringt das Ergebnis der Nacht, wir sind erfrischt und gestärkt, wir sehen manches anders, wir erwachen aus Unbewusstheit und Dämmerzustand zum klaren Denken. „Da dämmert mir etwas“, sagt man, wenn uns über eine Sache allmählich ein Licht aufgeht.
Genau um ein inneres Erwachen geht es, wenn wir etwas von der Auferstehung begreifen wollen. Ein altes christliches Tauflied, das im Epheserbrief überliefert ist, lautet: „Wach auf, du Schläfer, und Christus wird dich erleuchten!“ (Eph 4,14). Die Wandlung, die in den ersten Christen vorging, ist wie der anbrechende Morgen. Es ist, wie wenn man aus einer traumhaften Welt, aus dem Dämmerzustand in die eigentliche Wirklichkeit vordringt: aus Dunkelheit und Unbewusstheit zu Licht und Klarheit des Denkens. Es ist genau das Gegenteil von dem, was in öffentlichen Diskursen und Kommentaren zu hören ist: Die Auferstehung Jesu sei der erregten Fantasie seiner Jünger entsprungen und habe mit der normalen Realität nichts zu tun. Es ist ein Erwachen zur unverstellten Sicht der Wirklichkeit, während unser sogenanntes kritisches Sehen, das nur Beweise kennt, für unser Innerstes und Eigentliches, für Heil und Unheil blind macht.
Der Reichtum der Fische
Unter dem Blick des Erkenntnisweges sind auch die weiteren Begebenheiten zu sehen. Als vorläufiger Höhepunkt wird vom reichen Fischfang berichtet, als die Jünger noch einmal in die Boote steigen und gegen alle Berufserfahrung die große Überraschung erleben. Mit den Fischen ernten sie den Reichtum der Tiefe. Übertragen auf den Fortschritt der Erkenntnis heißt das: Sie haben Kontakt mit der Tiefe ihrer Seele. Sie sind angeschlossen an den Punkt der Seele, aus dem heraus man sich selbst und die ganze Situation anders sieht. Es hat schon damit begonnen, als sie dem Fremden - der Jesus ist - Vertrauen schenkten und den Fischfang noch einmal versuchten. Mit dem Reichtum der Tiefe öffnet sich ihnen die Erkenntnis, dass Jesus Christus der Herr ist, im Urgrund aller Sehnsucht. Sie sind ergriffen und erschüttert über das Unerwartete einer neuen Hoffnung nach Jesu Tod. „Es ist der Herr“, ruft gerade der Jünger, den Jesus liebt (Joh 19,7). Es ist die inwendige Beziehung, die ihn das erkennen lässt.
Die Szene, wie die Fischer an Land gehen, wird ausführlich geschildert und hat deshalb ebenfalls einen Aussagewert. Sie ist ein Bild für den Erkenntnisweg. In einem Boot zu sitzen oder an Land zu sein, erzeugt ein sehr unterschiedliches Gefühl. Es ist jeweils eine andere Unterlage, auf der man sich niederlässt. Man spricht ja auch vom schwankenden Boden oder vom sicheren Grund, um innere Unsicherheit oder Gewissheit auszudrücken. Auf die Jünger angewandt kann das heißen: Indem sie an Land gehen, gewinnen sie immer mehr an Sicherheit: „Ja, es ist der Herr!“ Die Geschichte endet mit dem Mahl, zu dem Jesus sie einlädt. Er ist der, der das Zusammensein ermöglicht und die Speisen austeilt. Die Jünger sind endgültig angekommen. Jetzt sind sie wirklich daheim; jetzt ist er wieder in ihrer Mitte wie damals und doch ganz anders. Der Weg des Erkennens hat sein Ziel erreicht.