GlaubenskriseWenn Lehre Leere wird

Die Kirchen präsentieren sich mit Sozialbotschaften. Sie stilisieren sich in ihren amtlichen Vertretern mehr und mehr als bloße Werteagentur. Im Glauben dagegen verschärft sich die Krise. Wer, was hilft den Fragenden, Suchenden, Zweifelnden?

Amerika ist ein frommes Land, frömmer als das säkularisierte Europa. Meint man. Die Befunde zu Gottesdienstbesuch, Gebetshäufigkeit, Megachurches scheinen das zu bestätigen. Doch der Schein trügt.

Schon seit längerem weist das renommierte Washingtoner Pew Research Center darauf hin, dass sich die Glaubenslosigkeit auch in den USA ausbreitet, vor allem in der Generation unter dreißig - beschleunigt in der weißen Bevölkerungsschicht. Jüngste Studien einer weiteren Forschungseinrichtung, des „Public Religion Research Institute“, legen sogar das „Ende vom weißen christlichen Amerika“ nahe, wie ein Buchtitel ankündigt. Der Anteil der US-Bürger ohne religiöse Bindung sei in den letzten vierzig Jahren von sieben auf 22 Prozent gestiegen, berichtet der Evangelische Pressedienst. Bereits jeder dritte junge Erwachsene verzichtet auf eine religiöse Bindung.

Wie in Europa entwickelt sich auch jenseits des Atlantiks weitaus mehr als nur eine Kirchenkrise: eine echte Glaubenskrise, ja Gotteskrise epochalen Ausmaßes. Die Säkularisierung schreitet fort, nun also in Weltgegenden, die einmal als Ausnahme vom europäischen Sonderfall galten.

Manche Gemeinden versuchen, mit der Nützlichkeit von Religion für sich zu werben, mit ganz irdischen Dingen die Leute anzulocken. So wurde von einer Freikirche im texanischen Houston berichtet, die neuen Mitgliedern Gratis-Benzin verspricht. „Wir wollen etwas, das jeder gebrauchen kann“, verlautbarte der zuständige Pastor. Die Frage ist nur, wie aus Benzin-Christen echte Christen werden können. In Europa werden von Bistümern kostenlose PR-Werbebroschüren an die Haushalte verteilt, die zum Beispiel erklären, wieviel Nützliches, Segensreiches mit der Kirchensteuer bewirkt wird und weshalb es gut sei, wegen dieser und weiterer Serviceleistungen als Mitglied „bei der Stange zu bleiben“, auch wenn man ansonsten mit dem Glaubensleben nichts mehr zu schaffen hat. Mit den sich entleerenden Gottesdiensten, mit dem Schwund bei Gebet und Sakramentenspendung scheinen sich die Kirchengemeinden und Bistümer abgefunden zu haben.

Stattdessen hat die Lehrautorität ein neues „Geschäftsfeld“ entdeckt: Sozialmoral. Man präsentiert sich mit medial anscheinend gern aufgenommenen und verbreiteten quasi-politischen Appellen, Forderungen und Warnungen als außerparlamentarische Werteagentur für den Ruck durch die Gesellschaft. Da die Individualmoral in den Predigten schon lange abgedankt hat, seit man einsehen musste, dass mit Dauermahnungen auf dem Feld des Sexuellen niemand zu gewinnen ist, aber viele zu verlieren sind, abgesehen vom allgemeinen Amüsement über kirchliche „Rückständigkeit“, versuchen die Leitungsverantwortlichen es lieber mit wohlgefälligen Allerweltsratschlägen, neuerdings als „Öffentliche Theologie“ etikettiert.

VW, FIFA, Müllvermeidung

Das heißt: Kirchenführer wie Laien-Repräsentanten treten damit hervor, dass sie belehrend wiederholen, was weltliche Meinungsführer, Unterhaltungs-Prominenz, Talkshow-Gäste oder Politiker so oder so ähnlich längst zigfach gesagt haben. Vorrangige Themen dieser nachbetenden, sich aber originell dünkenden „Öffentlichen Theologie“ sind, wie der Münchener evangelische Theologe Christian Albrecht in der „Frankfurter Allgemeinen“ erwähnte: „soziale Gerechtigkeit, Globalisierung und Migration, ökologische Umorientierung, ethische Probleme der Biotechnologie und Probleme der Anwendung militärischer Gewalt in Krisengebieten“.

Allem Anschein nach ist das Christentum als institutionell verfasstes Kirchentum damit weiterhin gesellschaftlich aktiv und präsent. Zum Beispiel wenn Deutschlands führende Kirchenmänner bekunden, dass sie Abgasmanipulationen bei VW gar nicht nett finden und auch nicht die Korrup­tions­fälle bei der FIFA. Oder wenn ein Ex-Bischof fordert, die Fußball-WM-Vergabe an Katar zurückzunehmen. Caritas und Diakonie mahnen, den Rassismus im Alltag zu bekämpfen und sowieso den Flüchtlingen bei der Integration engagiert beizustehen. Der Papst verlangt eine gerechtere Verteilung des Wassers - und natürlich Klimaschutz. Ein Kardinal fordert mehr Anstrengungen, um Müll zu vermeiden. Ein Ratsvorsitzender verteidigte Waffenlieferungen an die Kurden. Ein Weihbischof verlangte billigere Telefontarife für Häftlinge. Andere hohe Geistliche appellieren, in der Griechenland-Krise zusammenzustehen. Und der Austritt Englands aus der EU wird natürlich als ein besonders schwerer Schlag für den europäischen Zusammenhalt bedauert. Kirchenleitungen fordern ein bundesweit einheitliches Verbot von Genpflanzen. Beklagt wird routiniert die skandalöse Nahrungsungerechtigkeit in der Welt. Evangelische und orthodoxe Kirchen kritisieren die Bilderflut im Internet. Permanent „warnen“ die einen und „fordern“ die anderen bis zum Überdruss dieses und jenes.

Ach, wie nützlich solche Religion doch ist, die sich mit dem schweren Glaubensverlust lieber erst gar nicht beschäftigt! Aber auch wie leicht durchschaubar und berechenbar. Albrecht karikiert das anhand der Stellungnahmen seiner eigenen Kirche so: „So leicht prognostizierbar ist, was der ADAC zur Forderung nach einem Tempolimit sagt, der BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) zu TTIP (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft) und die Grünen zur Erleichterung des Hochschulzugangs für bildungsferne Schichten, so vorhersehbar ist, was der EKD-Protestantismus dazu sagt.“

Diesseits-Botschaften

Vergleichbares gilt für die katholische Kirche, ihre führenden Funktionsträger, ob Kleriker oder Laien. Es scheint fast so, als solle das sozialmoralische Dauerbefeuern der christlichen, nichtchristlichen wie ungläubigen Bürger von der kirchlichen Ratlosigkeit im Wesentlichen, im Glaubenskern ablenken. Je weniger die Leute an die Hölle oder an den Himmel glauben, umso mehr sollen sie anscheinend mit Diesseits-Droh- oder Heils-Botschaften drangsaliert werden. Statt das Erbarmen Gottes für den sündigen Menschen und die Glaubensgnade für das Seelenheil zu verkünden, setzt man Gläubige wie Nichtgläubige mit Werkgerechtigkeit-Aufrufen unter Psycho- und Sozialstress. Hauptsache, die Kirche behauptet eine - zumindest irgendwie gefühlte - fiktive „Oberhoheit“ über die Köpfe der Leute, selbst wenn das Gesagte für deren reales Leben belanglos bleibt.

Das aber ist der große Irrtum der Kirchen: Sie meinen, gesellschaftlich anzukommen, attraktiv zu sein, wenn sie nur mit viel Moralisiererei mit der Zeit gehen. Faktisch bewegen sie sich religiös Richtung Niemandsland, auf ein Abstellgleis. Denn wer braucht schon Kirche bloß als Vervielfacher dessen, worin und worüber jeder und jede Tag für Tag ohnehin schon unendlich belehrt wird?

Epochale Glaubenskrise

Der Verfassungsrechtler und langjährige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio beschreibt in seinem Buch „Schwankender Westen“ (bei Beck) die Konsequenzen einer entchristlichenden Säkularisierung, die in den Kirchen zu einer Art schleichenden Selbstsäkularisierung durch Anpassung führt: „Könnte der Staat … vielleicht schon unmerklich religiöse Funktionen übernommen, die Religion thematisch beerbt haben? Ist das vielleicht der Grund, warum die politische öffentliche Meinung die Kirchen unentwegt in politische Bahnen zu lenken sucht, obwohl sich diese als Religionsgemeinschaften beinah zwangsläufig aufgeben (weil dem politischen System anverwandeln), wenn sie diesen Sirenengesängen folgen?“

Di Fabio befürchtet, dass die Glaubensgemeinschaften, die diesem Trend folgen, „ihre Autonomie als ausdifferenziertes Religionssystem“ riskieren. Das heißt, sie geben das preis, was sie als etwas Besonderes ausmacht; sie setzen ihren Wesenskern aufs Spiel: den Gottesglauben, im Christentum damit auch den Christusglauben. Dahinter stecke „das Dilemma einer säkularisierten Gesellschaft, die beginnt, christliche Inhalte in einer politischen Moral zu kanonisieren“. Doch dürfe die Religion dem politischen System nicht folgen. Sie müsse vielmehr „das Seelenheil gerade jenseits der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Rationalitäten suchen“. In der Einsamkeit, der Verzweiflung und der Ortlosigkeit „eines rein zweckrational zugerichteten Menschen“ sei „ein größeres Feld“ zu finden, „als die üblichen Thematisierungen der öffentlichen Meinung glauben machen“. Die übermäßige Beteiligung der christlichen Gemeinschaften, insbesondere ihrer Leitfiguren, am politischen Prozess gehe regelmäßig und erst recht „zu Lasten des Glaubens“, beobachtet Di Fabio. Vereinfacht gesagt: Schuster, bleib bei deinem Leisten. Kirche, kümmere dich um das, was dich unbedingt angeht: Glauben, Christus, Gott, Reich Gottes, Auferstehung, Erlösung, ewiges Leben in einer Gerechtigkeit, die die Welt nicht geben kann und niemals geben wird.

Das aber meint alles andere als Rückzug aus der Welt ins Sakristeichristentum. Im Gegenteil: „Die Welt“ vermisst vielleicht klammheimlich, woran es ihr mangelt. Statt über Allerweltskrisen zu räsonieren und doch nur Trivialitäten und Prinzipien zu wiederholen, sollten sich die Bischofskonferenzen und Weltbischöfe mit dem Entscheidenden befassen: der epochalen Glaubenskrise, der gut begründeten Unfähigkeit, ja Unmöglichkeit, angesichts heutiger Welterfahrung „einfach“ an Gott zu glauben. Warum gibt es dazu und zu der Frage, welche Innovationen und Weiterentwicklungen das Glaubens-, das Gottesverständnis braucht, immer noch keine Synode, immer noch kein Konzil? Stattdessen hitzige Debatten um Sekundärthemen, gewiss wichtig, aber nicht wichtigst.

Der Philosoph Wilhelm Schmid sieht in der Gottesfrage das Eigentliche jedweder Existenz. In der Zeitschrift „Universitas“ erklärte er über „die mögliche Liebe Gottes und die wirkliche Liebe zu Gott“: „Die Entscheidung für oder gegen die Annahme einer Transzendenz ist eine intime Frage des jeweiligen Ich, … intimer noch als andere Fragen: Kann ich mich mit der mir gegebenen Endlichkeit bescheiden, von der ich glaube, dass sie nicht zu überschreiten ist, oder will ich mich in eine mögliche Unendlichkeit eingebettet glauben, in der auch ein anderes Leben möglich ist? Wenn Letzteres, nehme ich dieses Mögliche in mein Innerstes auf, gebe meinem Glauben also einen Platz in meinem Kern, ‚im Herzen‘, nicht nur in der Peripherie meiner selbst.“

Das aber ist die Kernaufgabe von Kirche, auf sokratische Weise den Individuen Hilfestellung zu geben, selber an dieser Frage zu arbeiten, sie stets neu zu bedenken - und sie vielleicht trotz aller Zweifel positiv zu beantworten, diese Antwort zu leben. Letzten Endes geht es dabei um Sehnsucht, Wahrheit, Redlichkeit und Beziehung: um eine Beziehung der Liebe, „die die Kunst des Liebens noch einmal erweitert“. Der Philosoph nennt dafür drei Weisen: eine anfängliche, fast naive Weise, eine kindliche Liebe, „die auch über die Kindheit hinaus bewahrt werden kann und in der sich Göttliches und Kosmisches“ vermengen; eine Liebe des abrupten Ergriffenwerdens von etwas, das unendlich größer ist als ich, wie es Saulus bei seiner Bekehrung zu Paulus erlebte; schließlich eine allmähliche, reflektierte Weise der Liebe „aufgrund von Überlegungen und Gründen, die plausibel erscheinen und in einer Art von nüchterner Mystik für die Existenz von Transzendenz sprechen, etwa weil Endlichkeit ohne Unendlichkeit nicht denkbar ist und weil die vorgestellte und gefühlte Beziehung zur Transzendenz ganz andere Räume fürs Leben eröffnet“.

Gottesfreundschaft

Schmid versucht, solche Liebeserfahrungen zu umschreiben: „Unentwegt umflutet zu sein von Energie, so dass es nur darauf ankommt, sich ihr zu öffnen. Von Gott geliebt zu sein heißt ins Weltliche übersetzt: Menschen können sich getragen fühlen von der Energie, die ihrem Leben zugrunde liegt und nie versiegt, so dass sie ihnen als göttliches Wesen erscheint.“ Umgekehrt öffnet sich mit der Liebe zu Gott „der endliche Mensch für das Unendliche und erschließt sich damit ein unabsehbares Potenzial des Lebens. Auch die Liebe zu Gott bedarf zu ihrer Pflege allerdings einiger Rituale im Alltag. Ein solches Ritual ist beispielsweise das Gebet, im weltlichen Sinne die Meditation; in jedem Fall geht es um eine Vergegenwärtigung des Unendlichen im Endlichen.“

Die Liebe zu Gott muss - so Schmid - keineswegs leidenschaftlich sein. Im Gegenteil: „Manche Menschen bevorzugen eher eine Beziehung der Freundschaft, die im Unterschied zur intimen Nähe der Liebe mehr Distanz wahren kann, auch skeptische Distanz, so dass ein größerer Freiraum entsteht. Eine Freundschaft könnte der Beziehung zwischen Mensch und Gott sogar angemessener sein als die Liebe, die ihm zu nahe kommt. Der Freund erkennt den anderen in seiner Andersheit an und umklammert ihn nicht, bis sich das wirkliche oder vorgestellte Einssein mit ihm noch zur Auflehnung gegen ihn verkehrt. Den Gedanken, die Beziehung zwischen Mensch und Gott könnte eine ‚göttliche Freundschaft‘ sein, hat bereits Thomas von Aquin gedacht …, schließlich habe der Gottessohn Jesus seine Jünger ‚Freunde‘ genannt … Ohnehin sei es unmöglich, unaufhörlich an Gott zu denken und von der Zuwendung zu ihm bewegt zu werden‘?… Auch ein Gott bedarf der Schonung.“ Unter dem „Blick Gottes“ aber kann die Gottesfreundschaft gedeihen. Dazu braucht es den Blick der Kirche für das Notwendige, Sinnvolle und Gehaltvolle. Sie ist eine Gemeinschaft der aus der Fülle des Wissens Glaubenden, nicht eine Gemeinschaft der mit Leerem Belehrten.

Zum Glauben an Gott gehört der innere Kampf um Gott, der durch die Nacht des Zweifels geht. Warum kämpft da die Kirche nicht mit? Warum steht sie abseits mit Botschaften, die mit dem, was alle angeht, zumindest die vielen guten Willens, wenig bis gar nichts zu tun haben?

Gottesignoranz

Wilhelm Schmid bedauert, dass Gott oft „nicht einmal mehr einer Auseinandersetzung für wert befunden wird“. Neben dem bewussten Atheismus herrsche weitaus mehr Ignoranz vor. Auch im üblichen Kirchen„theater“ routinierter Unterhaltung herrscht viel Gottvergessenheit, ja Gottesignoranz. Vielleicht aber drückt sich darin auch bloß Ratlosigkeit aus, wie man die neue Frage nach Gott in Zweifeln wahrnehmen, begründen und authentisch kultisch inszenieren kann.

„Was ist Wahrheit?“ Im „Echoraum“ dieser Frage leben „Christen, Nichtchristen, Unchristen und Atheisten“, schrieb Uwe Justus Wenzel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ über die berühmte Äußerung des Pontius Pilatus. Mit seiner Frage zog er ins Evangelium ein. Seiner Person wurde sogar die Ehre zuteil, mit dem Namen ins Glaubensbekenntnis der Christen aufgenommen zu werden. An derselben Frage, so Wenzel, „mögen sich die Geister scheiden - sie können sich in deren Nachhall aber auch, nach Antworten suchend, aufeinander beziehen und zubewegen.“ Jedenfalls wenn man sie nicht als eine höhnische Frage versteht im Sinne von: „Wahrheit - was ist das schon!“ Die Wahrheitsfrage sei - gerade auch als religiöse - offen zu halten. „Offen bleibt sie, solange der allerletzte Akt des heilsgeschichtlichen Dramas noch aussteht, in gewisser Weise sogar für die, die an den auferstandenen Christus glauben.“

Was aber glaubt die Kirche samt ihrem Lehramt - noch? Glaubt sie wirklich an die Wahrheits-Frage und an das, was diese in der Evolution nicht zuletzt des menschlichen Geistes unaufhaltsam dynamisiert? Solches Glauben ist noch anderes als Moral, etwas Ganz-Anderes. Wann wird die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden - und vielleicht sogar der Nichtglaubenden? - wieder aufgreifen und begreifen, was so viele bedrängt? Lehrautorität statt Leer-Autorität. Weniger von außen, mehr von innen. Auch Glauben braucht Geisteskraft, Neugier, den Willen, die Lust an Erkenntnis und die Freude an intellektuellem wie emotionalem Reichtum.

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