Martin LutherDie vielen Facetten des Martin Luther

2017 jährt sich die Reformation zum 500. Mal. Evangelische wie katholische Autoren haben Martin Luther und seine Zeit neu gedeutet.

Die Glorifizierung Martin Luthers glich zeitweise einer Fortsetzung der katholischen Heiligenverehrung, gegen die sich der Reformator doch gewandt hatte. Und es gab Zeiten - so auch heute -, in denen Luther mit Skepsis begegnet wurde. Johann Wolfgang von Goethe interessierte sich nur für Luthers Charakter, alles Übrige, sprich seine Theologie, qualifizierte der Dichter als einen „verworrenen Quark“. Schaut man auf die Fülle neuer Bücher, die zum 500. Jubiläum der Reformation 2017 dieser Tage erscheinen, so kann man sagen: Es gibt nicht nur neue, lohnende Biografien zu lesen, sondern etliche spannende Bücher, die verschiedene Aspekte lutherscher Theologie, seines Wirkens und dessen umwälzende geschichtliche Folgen beleuchten. Luther, der Knappgefasste

Von A wie Abendmahl bis Z wie Zwingli: Martin Thull (1) hat ein hilfreiches Vademekum mit 95 Stichworten zur Reformation zusammengestellt. Für Leser, die sich noch nicht ausführlich mit Luther beschäftigt haben und einen schnellen Überblick über Themen, Orte und Personen gewinnen wollen oder die während der Lektüre eines der gewichtigen Luther-Bücher rasch ein Stichwort nachschlagen wollen, ist das Büchlein eine ideale Ergänzung.

Luther, der Mensch

Unter den Biografien sticht die von Lyndal Roper (2) heraus. Der in Oxford lehrenden Australierin gelingt es, den Menschen Luther in seiner ganzen Ambivalenz nahezubringen. Weder glorifiziert noch verunglimpft sie ihn noch zeichnet sie ein reduktionistisches Lutherbild, wie es in der Geschichte oft getan wurde. Sie zeigt seine Widersprüche auf, ohne sie aufzulösen: seine Freimütigkeit und Risikobereitschaft, zugleich seine Zweifel und Depressionen, sein feines Sprachgefühl und seinen Sinn für die Musikalität des Wortes, zugleich seine Vorliebe für Fäkalrhetorik und seinen derben Humor.

Luther wusste, was Glauben heißt, zeigte Mut und Standfestigkeit gegen die Tradition, den Papst, die gesamte Kirche, den Kaiser und das Reich sowie gegen innerreformatorische Abweichler und war von großer Überzeugungskraft. Zugleich war er oft verbohrt, polemisch, emotional sprunghaft und gegen manchen Freund rücksichtslos. Theologisch verkündete er - bei aller Unfreiheit des Willens - die Freiheit des Christen, zugleich hielt er letztlich immer zur Obrigkeit, wenn es darum ging, aus der erlangten Glaubensfreiheit politische Konsequenzen zu ziehen.

Die Religionshistorikerin Roper, die in den siebziger und achtziger Jahren bei Heiko Oberman, dem Leiter des Instituts für Spätmittelalter und Reformation in Tübingen, studiert hat, setzt mit ihrer Biografie die Tradition psychoanalytischer Studien fort, wie sie Erik Erikson („Der junge Mann Luther“) und Erich Fromm (in: „Die Furcht vor der Freiheit“) vorgelegt haben. Ausgehend vom problematischen Verhältnis zu seinem Vater zeichnet sie die innere Entwicklung Luthers nach. „Die Heftigkeit in der Auseinandersetzung mit seinem Vater bereitete Luther zweifellos darauf vor, den Papst mit solch gewaltiger Energie anzugreifen. Der Kampf mit dem Vater versetzte ihn auch in die Lage, so überzeugend von der Freiheit eines Christen zu schreiben?… Das erklärt vielleicht, warum Luther solch widersprüchliche Positionen hinsichtlich seiner Freiheit und Autorität vereinen konnte.“ Selten nur psychologisiert Roper über die Maßen: wenn sie das Ende seiner Verstopfungen, unter denen Luther während seiner Zeit des Versteckens auf der Wartburg litt, auf die „Lösung, die er in der Beziehung zu seinem Vater gefunden hatte“, zurückführt.

Ein ganzes Kapitel widmet die Autorin dem Thema Hochzeit und Sinnesfreuden. Zu einem von Luthers großen Widersprüchen gehöre es, dass er unter allen Denkern einige der frauenfeindlichsten Äußerungen machte und trotzdem ganz fortschrittlich forderte, dass ehelicher Sex für Frauen und Männer gleichermaßen lustvoll sein solle.

Lyndal Roper hat ein besonderes Augenmerk auf Luthers Verhalten gegenüber Freunden wie Gegnern gelegt und gibt wohlbegründete Einblicke in dessen Gefühlswelt. Die historischen, politischen wie wirtschaftlichen Umstände kommen dabei nicht zu kurz. Immer wieder gelingt es ihr, Parallelen zwischen Luthers Theologie und seinem Leben als Privatperson zu ziehen, etwa wenn sie zeigt, wie Luthers Verständnis der Eucharistie als Realpräsenz Christi übereinstimmt mit seinem eindrucksvoll ungezwungenen Verhältnis zur Körperlichkeit. Auch wenn Roper urteilt: „Luther war nicht ‚modern‘“, sein Denken erscheine uns heute fremdartig und sei in für uns unpassenden Begriffen formuliert - ihre Biografie zu lesen lohnt sich.

Luther, der Lehrer

Auf seine Art herausragend ist Reinhard Schwarz’ (3) Buch. Es rückt Luthers Theologie ins Zentrum und sei vor allem theologisch Interessierten oder Geschulten empfohlen. Der emeritierte Münchner Kirchengeschichtler geht strikt an Luthers Texten entlang. Im Vorwort schreibt Schwarz, Luthers Theologie lasse sich nicht in traditionell dogmatischer Art abhandeln. Sein Mitstreiter Philipp Melanchthon orientierte sich zwar in seinen Loci communes an den klassischen Themen der Theologie: Schöpfungslehre, Christologie, Lehre von der Kirche usw. Doch so lasse sich nicht wiedergeben, „was der Theologie Luthers ihre innere Geschlossenheit verleiht“: die Rechtfertigungslehre, die Doppelerkenntnis der Sünde und der Gnade, von Gottesfurcht und Gottvertrauen. Dieses Zentrum bestimme, was Luthers Theologie ausmacht: dass sie fest in der Heiligen Schrift verankert, stets auf religiöse Erfahrung bezogen und immer durch ein Geflecht von Relationen und Unterscheidungen, vor allem zwischen Gesetz und Evangelium, strukturiert ist.

Nach jahrzehntelanger Quellen- und Forschungsarbeit lässt Schwarz Luther umfassend und detailliert zu Wort kommen. Doch kommt er verstehensgeschichtlich nicht über ihn hinaus. Er bietet keine Übersetzung von Luthers Denken für den modernen Leser, wenig setzt er sich mit ihm von einem wie auch immer gearteten heutigen Standpunkt her auseinander. Schwarz bleibt der Sprache Luthers und der daraus hervorgehenden theologischen Fachsprache verhaftet. Wer sich darauf einlassen will, wird auf eine Fundgrube lutherischen Denkens stoßen.

Luther, der Bremser

Weitaus gefälliger kommt das Buch von Sabine Appel (4) daher. Die Sachbuchautorin nimmt sich der Reformation aus der Sicht des englischen Königshauses an. Der Tudor-Spross Heinrich VIII., neun Jahre nach Luther geboren und ein Jahr nach ihm gestorben, griff - zusammen mit Thomas Morus, seinem später geköpften Lordkanzler und Autor des Romans „Utopia“ - in jungen Jahren die Thesen des deutschen Reformators in einer Streitschrift an und verteidigte die römische Kirche. Der Papst verlieh ihm dafür den Titel „Defensor Fidei“ (Verteidiger des Glaubens). Appel zeigt, wie katholisch der Mann, der mit Rom dann wegen seiner sechs Ehen brach und die anglikanische Staatskirche errichtete, bis zum Schluss blieb und wie wenig Sympathie er theologisch und politisch Luther und den ihn unterstützenden Fürsten entgegenbrachte.

Die Themen sind in Appels Buch etwas sprunghaft gesetzt. Im ersten Kapitel bringt sie neben Luthers Tod die Wiedertäufer unter, seinen Hass auf die Juden, seine Haltung zu den Türken, Reformbewegungen des Mittelalters von den Franziskanern bis zu Jan Hus und John Wyclif. Es fehlt bisweilen eine innere Logik. Gleichwohl legt sie einen gut lesbaren Text vor, der ab und an ins Gazettenhafte geht. Im starken Schlusskapitel „Heinrich und Luther zwischen Tradition und Moderne“ stößt sie Luther als „Heros der Neuzeit“ vom Sockel und schildert ihn im Unterschied zu den Humanisten und späteren Aufklärern eher als einen geistesgeschichtlichen Bremser.

Luther, der Missverstandene

Gelungen ist die mit vielen saloppen und amüsanten Formulierungen gespickte Luther-Biografie von Joachim Köhler (5). Das Ausrufezeichen im Titel „Luther!“ ist Programm. Im Vorwort nennt der Autor Gründe, warum man heute über den Reformator die Nase rümpfe (zu derb, zu spießig, zu fanatisch, autoritätsgläubig, politisch unkorrekt usw.), um dann eine Verteidigung zu schreiben, denn das „ablehnende Bild“, das man heute von Luther zeichne, stimme nicht: „Nicht Fakten folgt es, sondern ideologischen Deutungsmustern.“ Luther sei nicht „von gestern“, vor fünfhundert Jahren habe er „Fragen beantwortet, denen wir uns heute wieder stellen müssen“.

Das in drei Teile gegliederte Buch thematisiert die bedrückenden Jahre des jungen Luther, dann die reformatorische Entdeckung und schließlich die Sicherung und den Ausbau der reformatorischen Errungenschaft. Köhler hat eine flotte, journalistische Schreibe. Er schaut auf Luther auch mit einem philosophischen Blick und bietet gewinnbringende Ausflüge zum mittelalterlichen Nominalismus (Wilhelm von Ockham), zur Scholastik und in die Mystik und zieht auch Linien zu Descartes oder zur Psychologie Freuds. Entschieden verteidigt Köhler zwei zentrale und wissenschaftlich umstrittene Auftritte Luthers mit durchaus guten Gründen: Luthers Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an die Schlosskirche von Wittenberg und Luthers Worte vor dem Kaiser und den versammelten Fürsten auf dem Reichstag in Worms 1521: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.“

Luther, der Ketzer

Wer eine andere Lesart des Konflikts zwischen Luther und Rom will, greife zu dem Werk von Volker Reinhardt (6). Er bricht die protestantisch dominierte Forschung auf und beurteilt die Reformation unter Auswertung bisher vernachlässigter Quellen aus der Sicht der italienischen Gegenseite (der Umschlagtext „Geheimakte Luther - Vatikanische Quellen decken auf, was in der Reformation wirklich geschah“ ist dabei überzogen).

Der in Fribourg lehrende Professor scheint geradezu erbost zu sein angesichts gängiger Reformationsdarstellungen, „die der Selbstinszenierung Luthers sehr nahe“ kommen. Der römischen Seite bleibe nur „die undankbare Rolle des arroganten Möchtegern-Lehrmeisters“. Die theologische und kulturelle Position Roms schrumpfe unter diesem Blickwinkel grotesk. Reinhardt bietet ein ausgewogeneres Bild an als Resultat einer „gleichberechtigten Simultanerzählung“, indem er etwa die Berichte über Luthers Auftritt auf dem Wormser Reichstag und dessen Deutungen von evangelischer wie katholischer Seite gegenüberstellt. Zweitens sieht er in dem Konflikt in erster Linie nicht ein theologisches, auch nicht vornehmlich ein politisches Problem, sondern in der Hauptsache ein kulturelles, ein Problem verschiedener Mentalitäten. In den Augen der Römer saßen nördlich der Alpen unzufriedene und ungehobelte Deutsche, aufgewiegelt von Luther, dem hässlichen Deutschen, wohingegen das Renaissance-Papsttum Hort des Humanismus, verfeinerter Sitten und der veredelten Sprache gewesen sei.

Im Epilog zieht Reinhardt das Fazit: Die theologischen Differenzen seien bis heute nicht die entscheidenden kirchentrennenden Faktoren (die Rechtfertigungslehre sei schon damals nicht verstanden worden), es seien nach wie vor Mentalitätsunterschiede zwischen Nord- und Südeuropäern. Nach den „Demokratisierungswellen des 20. und 21. Jahrhunderts“, die alle zu Gleichen gemacht habe, spiele die Prädestinationslehre nicht einmal auf protestantischer Seite mehr eine Rolle, genauso wenig wie Luthers anthropologischer Pessimismus noch geteilt werde angesichts des heutigen „sozialpolitischen Aktionismus“ und eines pädagogisch geforderten und humanistisch geprägten positiven Menschenbildes.

Luther, der Mystiker

Volker Leppin (7) gehört in der Riege aktueller Luther-Autoren zu den Desillusionisten. „Dass Luther als Mensch des Mittelalters aufwuchs, daran zu denken fällt nicht leicht, wenn er immer wieder als Begründer der Neuzeit beschworen wird, erst recht im Vorfeld des Reformationsjubiläums. Es feiert sich leichter, wenn der Glanz eines Jubiläums auf einen verkappten Zeitgenossen fällt, als wenn man sich mühsam mit einem fernen Fremden auseinandersetzen muss“, schreibt der Tübinger Kirchenhistoriker in der Einleitung seines Buches: „Doch es hilft nichts: Luther ist uns Heutigen fremd.“

Leppin zeigt, wie sehr der Reformator dem Mittelalter verhaftet war. Insbesondere der Mystik, einer religiösen Richtung, die mit dem Protestantismus meist überkreuz lag. Luthers Zieh- und Beichtvater Johann von Staupitz war ein Repräsentant der stark von Meister Eckhard und Johannes Tauler beeinflussten Devotio moderna, einer Frömmigkeitsrichtung, die auf Verinnerlichung und eine existenzielle Aneignung von Glaubensinhalten abzielte. Diese Abwendung von der scholastischen, vor allem auf Logik und Abstraktion beruhenden, diskursiven Art, Theologie zu treiben, hin zu einer auf Erfahrung basierenden, ganzheitlicheren Theologie ist für Luther wesentlich.

Luther selbst brachte in jungen Jahren gleich zwei Mal die mystische Erbauungsschrift „Theologia deutsch“ heraus. Während dieser Zeit vollzog Luthers Denken eine „worttheologische Wende“, wie Leppin im zentralen fünften Kapitel schreibt. Die Wende nach innen, zur religiösen Erfahrung hin, wurde ergänzt durch den humanistischen Zug, sich den ursprünglichen Quellen, sprich der Bibel, zuzuwenden. Zur Innerlichkeit kam das äußere Wort dazu, zumal das Heil allein darin, nämlich in Christus, also extra nos, außerhalb unserer selbst, lag: „Die Transformation der Mystik hin zur reformatorischen Theologie“ hatte begonnen. Luther, der Nachhaltige

Wer es weniger theologisch mag, dafür aber mit halboriginellen Thesen für den Kaffeetratsch munitioniert sein will, ist bei der Berliner Publizistin Christine Eichel (8) richtig. Warum sind die Deutschen fleißig, lesebegeistert, sparsam, engagiert, untertänig usw.? Klar, wegen Luther! Ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, unzureichend in der historischen Herleitung ihrer Beobachtung und sehr assoziativ beschreibt die Autorin, welche mentalitätsgeschichtlichen Folgen der Reformation sie für das Deutschsein heute sieht, dabei teils amüsant, teils sogar inspirierend und immer treffsicher auf Klischee-Kurs.

Luther, der Franziskus-Flüsterer

Walter Kasper (9) hat ein Büchlein herausgegeben, in dem der früher für die Förderung der Einheit der Christen zuständige Kurienkardinal versucht, Luther für die Ökumene zu verhaften, obgleich er dem Reformator ausdrücklich bescheinigt, kein „Ökumeniker“ zu sein. Das katholische und das evangelische Kirchen-, Sakraments- und Amtsverständnis sind nach wie vor nicht vereinbar. Kasper beklagt, dass „der Schwung der Ökumene des 20. Jahrhunderts inzwischen erlahmt“ sei, „der Rückzug in den Konfessionalismus wäre jedoch eine Katastrophe“. Daher sei die Ökumene neu herausgefordert angesichts einer „säkularen Ökumene“, der die konfessionellen Unterschiede gleichgültig seien und die das Christentum aus dem öffentlichen Bereich zurückdrängen möchte.

Der Ökumeniker Kasper schöpft Hoffnung bei den obersten Autoritäten beider Kirchen: bei Martin Luther und bei Papst Franziskus. Das neue Kirchenverständnis von Franziskus komme der Ökumene entgegen: eine Volk-Gottes-Ekklesiologie und die synodale Struktur der Kirche. Auch gehe der Papst in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ vom Evangelium aus (und nicht von Glaubenssätzen) und fordere nicht nur eine Bekehrung des einzelnen Christen, sondern auch des Episkopats und des Primats. „Damit steht unausgesprochen das ursprüngliche Grundanliegen Luthers, das Evangelium von der Gnade und Barmherzigkeit und der Ruf zu Umkehr und Erneuerung, im Mittelpunkt.“ Auf protestantischer Seite sei an den „reifen Luther“ zu erinnern und dessen „grundsätzliche Offenheit für den historischen Episkopat“. Auch seien die „mystischen Aspekte Luthers“ ernstzunehmen, die Gesprächsmöglichkeiten eröffnen könnten.

Luther, der Katholik

War Luther katholisch - und die katholische Kirche seiner Zeit war es nicht? Was ist überhaupt katholisch? Die Tübinger Wissenschaftlerin Daniela Blum (10) verfolgt einen interessanten Ansatz, indem sie „den Reichtum, die Verhängnisse und die Bandbreite“ der Beziehung Luthers zu Katholiken aus verschiedenen Epochen aufzeigt.

In der Reihe prägender Köpfe von Luthers Beichtvater Johann von Staupitz über den Mystiker Johannes Tauler, den Ordensgründer Bernhard von Clairvaux, den Kirchenlehrer Thomas von Aquin (in dem Kapitel ein sehr schöner Abschnitt zur Frage: Was meint eigentlich Rechtfertigung?) zurück bis zum Kirchenvater Augustinus vermisst man den Nominalisten Wilhelm von Ockham, den Hauptvertreter der Via moderna, dem auch Luther über Staupitz anfänglich anhing. Als Widersacher Luthers begegnen in Blums Buch der Ablassprediger Johannes Tetzel, der Ablassverfechter Silvester Prierias, der päpstliche Gesandte Thomas von Cajetan, der Luther in Augsburg im Namen des Papstes aufforderte, zu widerrufen, und der Ingolstädter Theologe Johannes Eck, der Luther während der Leipziger Disputation schlecht aussehen ließ.

Im dritten Teil stellt Blum vier katholische Theologen vor, die für die Lutherrezeption auf katholischer Seite prägend waren: Luthers Zeitgenossen und erbitterte Gegner Johannes Cochlaeus, Ignaz Döllinger, den Kirchenrechtler aus dem 18. Jahrhundert, den Vatikanarchivar Heinrich Denifle, der Anfang des 20. Jahrhunderts der auf evangelischer Seite boomenden Lutherforschung Schönfärberei vorwarf, und den 2014 gestorbenen Otto Hermann Pesch, dessen „Hinführung zu Luther“ von 1982 gerade in einer vierten erweiterten Neuauflage mit einem Vorwort von Volker Leppin erschienen ist. In seiner Doktorarbeit verglich Pesch Luther akribisch mit dessen größtem theologischem Opponenten: dem Scholastiker Thomas von Aquin. Die beiden unterscheiden sich laut Pesch zwar grundlegend in ihrer Art, Theologie zu treiben - Luthers existenzieller Ansatz stand der „sapientialen Theologie“ des Aquinaten entgegen -, doch bezüglich des zentralen reformatorischen Anliegens, der Rechtfertigungslehre, unterschieden sie sich in der Sache nicht. Pesch, der später als katholischer Theologe an der Universität Hamburg einen evangelischen Lehrstuhl bekommen sollte, ging so weit zu fordern, die katholische Theologie dürfe Luther nicht „kampflos“ der evangelischen Theologie überlassen.

Wer einen größeren historischen Überblick gewinnen will, sei auf die folgenden zwei lesenswerten Bücher hingewiesen.

Luther, der Geschichtsmächtige

Der Göttinger Kirchengeschichtler Thomas Kaufmann (11) legt eine Geschichte der Reformation vor, in der Luther nur eines von sechs Kapiteln einnimmt. Bei Kaufmann ist viel über die ökonomischen Verhältnisse um 1500 zu erfahren, über die ständische Gesellschaft, die Revolution des Buchdrucks usw. Er wirft dann einen Blick auf die Auswirkungen des lutherschen Kampfes auf Europa: die Entwicklung in der Schweiz unter Johannes Calvin, in Italien, Frankreich und Spanien, im lutherischen Nordeuropa, im anglikanischen England und auf die schottische Reformation unter John Knox. Er untersucht die Transformation des römischen Katholizismus auf dem Konzil von Trient und fragt dann: Welche Bedeutung hat die Reformation für die Aufklärung und die Französische Revolution? Bis hin zu der Frage, wie die Reformation in der DDR und in der BRD bis 1990 rezipiert wurde.

Laut Kaufmann war die Reformation nur durch eine einzigartige historische Konstellation möglich, etwa durch die antirömischen Affekte vieler deutscher Fürsten, einen expansionistischen Kaiser, die Endzeitängste angesichts der Türkengefahr, die Massenmedien und die zunehmende Vernetzung von Kaufleuten und Universitäten. Dies alles erinnert an das überragende Werk des Profanhistorikers Heinz Schilling: „Martin Luther - Rebell in einer Zeit des Umbruchs“ von 2012. Kaufmann und Schilling sehen in Luther nicht den Heros, der nach traditionell protestantisch geprägtem Geschichtsverständnis die Reformation als eigene, revolutionäre Geschichtsepoche begründete, sondern ordnen ihn ein in eine breit angelegte europäische Phase der Reformbemühungen zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert.

Luther, der Spalter

Tillman Bendikowski (12) beschreibt den Dauerkonflikt zwischen Katholiken und Protestanten im religiös tief gespaltenen Deutschland als Resultat der Reformation: vom Dreißigjährigen Krieg über die geteilte Gesellschaft im Kaiserreich (Kulturkampf) bis hin zu säkularen Heilsversprechen in Form von Sozialismus und Nationalsozialismus. Spannend zu lesen sind die Feindseligkeiten zwischen Vertretern beider Konfessionen nach Gründung der Bundesrepublik. Für die Katholiken blieben die Evangelischen bis tief ins 20. Jahrhundert hinein Sektierer, Ungläubige, Ketzer. Umgekehrt waren die Katholiken für die Protestanten abergläubische Papisten und Relikte aus dem Mittelalter.

Bendikowski zeigt, wie dieser Grundkonflikt Alltag und Politik tief geprägt hat und wie es selbst innerhalb der Konfessionen immer wieder zu Fremdheitserfahrungen kam, wenn etwa im katholischen Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg befürchtet wurde, dass der Zuzug von sudetendeutschen Katholiken den Einzug des „religiösen Bolschewismus“ in die konservativ-ländlichen Gemeinden bedeutete. Oder wenn Vertriebene aus den östlichen altpreußischen Provinzialkirchen in reformierte oder unierte Landeskirchen integriert werden mussten.

(1) Martin Thull Luther für Einsteiger Die Reformation in 95 Stichworten (Bonifatius Verlag, Paderborn 2016, 107 S., 9,90 €)

(2) Lyndal Roper Der Mensch Martin Luther Die Biografie (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 729 S., 28 €)

(3) Reinhard Schwarz Martin Luther - Lehrer der christlichen Religion (Mohr Siebeck, Tübingen, 2. Auflage 2016, 544 S., 39 €)

(4) Sabine Appel König Heinz und Junker Jörg Heinrich VIII. gegen Luther gegen Rom (Theiss Verlag, Darmstadt 2016, 316 S. mit 24 s?/w-Abb., Bibliogr. und Reg., 22,95 €)

(5) Joachim Köhler Luther! Biografie eines Befreiten (Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016, 405 S., 22,90 €)

(6) Volker Reinhardt Luther, der Ketzer Rom und die Reformation (Verlag C.?H. Beck, München, 1. und 2. Auflage 2016, 352 S. mit 24 Abb., 24,95 €)

(7) Volker Leppin Die fremde Reformation Luthers mystische Wurzeln (Verlag C.?H. Beck, München 2016, 247 S. mit 13 Abb., 21,95 €)

(8) Christine Eichel Deutschland, Lutherland Warum uns die Reformation bis heute prägt (Karl Blessing Verlag, München 2015, 256 S., 19,99 €)

(9) Walter Kasper Martin Luther Eine ökumenische Perspektive (Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2016, 93 S., 8 €)

(10) Daniela Blum Der katholische Luther Prägungen - Begegnungen - Rezeptionen (Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016, 221 S., 24,90 €)

(11) Thomas Kaufmann Erlöste und Verdammte Eine Geschichte der Reformation (Verlag C.?H. Beck, München 2016, 508 S. mit 103 Abb., davon 58 in Farbe, 26,95 €)

(12) Tillmann Bendikowski Der deutsche Glaubenskrieg Martin Luther, der Papst und die Folgen (Bertelsmann Verlag, München 2016, 380 S., 24,99 €)

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