Gehört der Islam zu Deutschland? Brauchen wir mehr politische Mitbestimmung des Volkes oder weniger? Ist die Freiheit des Einzelnen wichtiger als die Sicherheit der Masse? Diese und ähnliche Fragen beschäftigen die Deutschen gerade. Schlagworte wie „Leitkultur“, „christliches Abendland“ und „Verfassungspatriotismus“ bestimmen die öffentlichen Debatten. Offen ist auch, wer den Wertekanon einer Gesellschaft bestimmt. Die Tradition? Der Staat? Das Volk? Und welche Rolle spielt die Religion bei der Suche nach den Grundorientierungen?
Welche Säulen tragen?
Beinahe jede Gesellschaft hat einen ganz eigenen Umgang mit Religion entwickelt. Bei der Idee der „Zivilreligion“ bilden religiöse Vorstellungen die Klammer, die eine heterogene Gesellschaft zusammenhält. Die USA nutzen die Religion, etwa um die kulturelle Vielfalt unter dem Dach des „In God we trust“ zu einen. Im öffentlichen Raum verschmelzen religiöse und nationale Symbole zu einer Einheit, wie etwa das heute noch bekannte Lied „The Battle Hymn of the Republic“ aus dem amerikanischen Bürgerkrieg mit dem Refrain „Glory, glory, hallelujah“ zeigt. Auch Politiker stellen in ihren Reden häufig einen Bezug zu Gott her: „God bless America“.
In Deutschland gibt es heute nur noch wenige zivilreligiöse Elemente. Zu negativ sind hierzulande noch die Folgen der politischen Religion der Nationalsozialisten in Erinnerung, die die einigende Kraft der Zivilreligion bis zum Totalitarismus missbraucht haben. In letzter Konsequenz führt eine gänzlich religiöse Legitimation des Staates dazu, dass das staatliche Handeln angesichts der Gottgegebenheit aller Zustände einer kritischen Debatte entzogen ist. Die so geschaffene Einheit hat eine zweite Kehrseite: Zwar sind die religiösen Symbole eher allgemein gehalten, so dass etwa konfessionelle Unterschiede kaum noch ins Gewicht fallen - doch Andersgläubige sind durch die religiöse Rhetorik ausgeschlossen.
Eine weitere mögliche Rolle der Religion ist die einer tragenden Säule der Idee des „christlichen Abendlands“. Hier sind es die christlichen Werte, die vor Einflüssen von außen geschützt werden müssen und die Grundlage für Gesetze bilden. Diese Idee stammt weitgehend aus dem Mittelalter und wurde benutzt, um die christlichen Reiche Europas von den muslimisch geprägten Reichen des Orients oder Morgenlands abzugrenzen. Dieses Konzept könne jedoch nicht überzeugen, erklärte der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm neulich beim Jahresempfang für die Bundesjustiz in Karlsruhe. Es spiegele ein Überlegenheitsbewusstsein einer Gesellschaft wider, das die Geschichte nicht deckt. Die kulturelle Homogenität, auf die Vertreter des christlichen Abendlands so viel Wert legen, gab es in der Vergangenheit noch nie und gibt es bis heute nicht. Absurd ist nach Ansicht Bedford-Strohms, dass sich vielfach Rechtspopulisten und Rechtsradikale zu Verteidigern des christlichen Abendlands aufschwingen, ausgerechnet jene Gruppierungen, deren deutlichstes Kennzeichen ihre „menschliche Kälte“ sei. Weiter entfernt von christlichen Grundorientierungen wie die der Nächstenliebe und des Mitgefühls könne man kaum sein.
Beim Konzept der „multikulturellen Gesellschaft“ leben die Religionen im Idealfall friedlich zusammen. Mehrheiten und Minderheiten begegnen sich mit Respekt und tolerieren unterschiedliche Ansichten, auch verschiedene Wertvorstellungen. Diese Idee ist eine lobenswerte Theorie, hält allerdings der Realität nicht stand. Aus der Vielfalt der Werte entspringt keine einigende Grundorientierung. Ohne jegliche Gemeinsamkeit entstehen leicht Parallelgesellschaften. Die Menschen, die nur nebeneinanderher leben, kommen aber trotzdem miteinander in Kontakt. Ohne allgemein geteilte Regeln für das Zusammenleben führt das unweigerlich zu Konflikten.
Unverletzliche Person
In Frankreich lässt sich ein weiterer gesellschaftlicher Umgang mit der Religion beobachten. Dort hat der Laizismus zu einer völligen Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit geführt. Die Privatisierung der Religion fördert letztlich aber nicht die Toleranz zwischen den Religionsgemeinschaften oder zwischen säkularem Staat und Religion, sondern verhindert nur die öffentliche Aushandlung der Konflikte.
Eine heute viel diskutierte Theorie zur Rolle der Religion in der Gesellschaft ist die Idee der „öffentlichen Religion“, die insbesondere vom Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, vertreten wird. Hierbei ist die Religion in der Öffentlichkeit durchaus sichtbar, trägt zu den gesellschaftlichen Debatten aber nur eine Stimme unter vielen bei. Grundlage für dieses Gesellschaftsverständnis ist der „overlapping consensus“, der „übergreifende Konsens“, den der amerikanische Philosoph John Rawls entwickelt hat.
Rawls geht davon aus, dass der Staat keine „Leitkultur“ von oben herab verordnen kann. Die Menschen in einer Gesellschaft haben jedoch unterschiedliche, auch widersprüchliche Gerechtigkeitsvorstellungen und Werte. Die jeweiligen Vertreter setzen sich für ihre Ansichten öffentlich ein. Bei bestimmten Grundorientierungen überschneiden sich diese verschiedenen Ansichten und bilden so ein Minimum an Werten, das von allen Menschen geteilt wird. Ein Beispiel dafür wäre etwa die Unverletzlichkeit der Person oder allgemeiner die Menschenrechte. Mit unterschiedlichen Begründungen, ob aus Bibel und Tora abgeleitet, aus dem Naturrecht gefolgert oder aus rein egoistischen Erwägungen heraus, stimmen alle Menschen überein, dass diese Idee die Gesellschaft prägen sollte.
An diesem gesellschaftlichen Konsens richtet der Staat sein Handeln und die Gesetzgebung aus. Dazu leisteten auch die religiösen Gemeinschaften einen wichtigen Beitrag, erklärte Bedford-Strohm vor der Bundesjustiz. Sie brächten eine religiöse Stimme in die Debatte mit ein, die den säkularen Gruppierungen fehle.
Diese „öffentliche Religion“, das Eintreten für die eigenen, christlichen Werte, braucht eine Entsprechung in den Kirchen, gleichsam eine „öffentliche Kirche“. „Weil der Gott, an den Christenmenschen glauben, sich von der Welt nicht ab-, sondern ihr zuwendet, hat das Evangelium stets politische Bedeutung. Daraus erklären sich sowohl der Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums als auch der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche“, schrieb die evangelische Kirche 2008 in ihrer Denkschrift „Das rechte Wort zur rechten Zeit“.
Kirche für die Welt
In seiner Bamberger Abschiedsvorlesung legte Bedford-Strohm 2011 das Konzept der öffentlichen Kirche wie folgt dar. Es „verbindet, ein klares theologisches Profil, nämlich die Orientierung an Jesus Christus, wie er in den biblischen Texten bezeugt wird, mit dem Bemühen und der Fähigkeit, die damit verbundenen ethischen Orientierungen im Diskurs der pluralistischen Gesellschaft zu plausibilisieren“. Die Kirche solle aus ihren Traditionen heraus eine „inspirierende Kraft“ für die ganze Gesellschaft entfalten. Sie müsse eine Kirche für die Welt sein. „Der Raum der Öffentlichkeit ist also schon allein deswegen theologisch relevant, weil er für die Weltgestaltung von zentraler Bedeutung ist, weil sich in ihm entscheidet, ob Armut beseitigt, Gewalt überwunden und die Zerstörung der Natur gestoppt wird.“
Was also kann die Religion zu einer demokratischen Kultur beitragen? Ihre Liebe zu dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ hätten die Kirchen erst relativ spät entdeckt, obwohl er weitgehend der christlich-jüdischen Tradition entstamme und in der Bibel mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen „einen kraftvollen Nährboden“ finde. „Das Christentum sagt sogar, dass Gott selbst in Jesus Christus Mensch geworden ist. Stärker kann man das humanitäre Erbe, dem wir verpflichtet sind, nicht begründen: Gott selbst begegnet uns in einem Menschen. Genauer: in einem Gekreuzigten“, so Bedford-Strohm. Zwischen der Menschenwürde und der reformatorischen Rechtfertigungslehre zeigten sich ebenfalls Parallelen. Der Mensch werde aus Glauben gerecht und nicht aus Werken. Für den Staat bedeute das, dass die Würde des Menschen nicht an Leistung gekoppelt werden kann.
Die Parteinahme für die Opfer von Machtmissbrauch und Ausgrenzung gründe sich auf der biblischen Option für die Armen. Die Kirche habe die Aufgabe, auf Missstände hinzuweisen. Das dürfe sie aber nicht vom „moralischen Hochpodest“ aus tun, sondern inspiriert von ihrer biblischen Tradition und im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit, sagte Bedford-Strohm.
Im luftleeren Raum bewegen sich die Kirchen bei ihrer öffentlichen Meinungsäußerung aber nicht. Sie haben als Korrektiv und Kontrollgewalt die Theologie an ihrer Seite. Bei seiner Abschiedsvorlesung erklärte Bedford-Strohm: „Kirchen, die sich auf diese Perspektive einlassen, müssen ‚öffentliche Kirchen‘ in der Zivilgesellschaft sein und brauchen als Basis und kritisches Gegenüber eine ‚öffentliche Theologie‘, die sie immer wieder herausfordert und ihnen dadurch theologische Orientierung gibt.“
Die Wissenschaftlichkeit der Theologie dürfe dadurch aber nicht gefährdet werden. Theologie sei nicht dazu da, Verkündigungsaufgaben wahrzunehmen oder missionarische Ziele zu verfolgen. Ihre Aufgabe liege vielmehr in der „an wissenschaftlichen Standards orientierten kritischen Reflexion religiöser Ideen“. Die öffentliche Theologie etwa, so Bedford-Strohm, entfalte ihre Wirksamkeit nicht in den damit verbundenen akademischen Diskursen, sondern mithilfe der Kirche. Diese verankere das, was die Theologie erarbeitet, „nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den Herzen der Menschen, ja durch die Praxis der Frömmigkeit in den Tiefen der Seele“. Zugleich brauche es dann aber auch einen Bezug zu Staat und Gesellschaft. „Wer öffentliche Theologie im Herzen hat, der wird auf den Kanzeln und in den Gemeindehäusern davon sprechen, der wird aber auch mit Leidenschaftlichkeit und Sachlichkeit in die Rathäuser und Regierungsbüros gehen, er wird in die Mikrofone der Journalisten hinein sprechen, und er wird davon sprechen, welche Kraft in der reichen Tradition des Christentums steckt und welch lebensfreundliche Orientierung davon für die Welt von heute ausgeht.“
Dass der moderne Staat aus der Beteiligung seiner Bürger lebt, ist eindeutig. Umstritten dagegen ist, wie aktiv sich die Kirche an den gesellschaftlichen Debatten beteiligen soll. In der Zeitschrift „zeitzeichen“ gab Johannes Fischer, emeritierter Professor für Theologische Ethik in Zürich, zu bedenken, dass die „öffentliche Theologie“ zu einer Politisierung des Kirchenverständnisses führe. Er warne daher vor der Vorstellung, auf ethische Fragen könnten nur Theologie und Kirchen eine eindeutige Antwort geben. Es scheine, als kompensiere die evangelische Kirche ihren Bedeutungsverlust und den Mitgliederschwund durch „Präsenz in den politischen und ethischen Debatten“, so Fischer.
Die politische Kirche
Bedford-Strohm begreife die Kirche als eine Art „Multiplikator der öffentlichen Theologie“. Bezugspunkt für Kirche und Theologie müsse aber die „Wirklichkeit des menschgewordenen Gottes, in welche die Welt hineingenommen ist“, sein, schreibt Fischer. Diese Wirklichkeit müsse die Theologie durchdringen. Das entzünde sich eben nicht daran, dass die Welt eine ethische Orientierung brauche, sondern dass Glaube und Kirche eine geistliche Orientierung brauchten. Theologie hat ihren Platz also durchaus in der Welt, indem sie dem Glauben der Menschen eine Richtschnur gibt, nicht aber indem sie ethische Richtlinien für die Welt entwickelt.
Die Begründung der öffentlichen Kirche und Theologie nach Bedford-Strohm folge dem Muster: Der christliche Glaube und die christliche Liebe sind dem Schwachen zugewandt, also orientiert sich daran auch die Kirche. Aber ist dieser christliche Glaube wirklich fraglos vorauszusetzen, fragt Fischer. „Anders als moralische Normen schreibt das Liebesgebot ja nicht nur ein Handeln vor. Vielmehr geht es auch um dessen Grund und Motiv.“ Dass ein Mensch durch die Not anderer so berührt werde, dass er sein Handeln danach ausrichtet, bewirke er nicht selbst, es widerfahre ihm. „Die Bibel schreibt die Liebe daher dem Wirken von Gottes Geist zu.“ Wie aber kann diese geistliche Dimension sich im Leben eines Menschen gegenwärtigen? Das seien doch die Fragen, denen sich die Theologie widmen sollte. Sie lägen jedoch nicht mehr im Fokus der öffentlichen Theologie. Diese befasse sich vor allem mit der ethischen Orientierung für die ganze Gesellschaft, so die Kritik Fischers. Zudem setze sich die Kirche Zwängen aus, wenn sie zu allen gesellschaftlichen Fragen, auch in kontroversen ethischen Debatten, immer eine Meinung, „den“ christlichen Standpunkt, haben wolle.
Wie politisch soll und darf nun Kirche sein? Darauf wird es wohl keine eindeutige Antwort geben. Ebenso wenig wird zu klären sein, wie politisch Kirche sein muss, damit ihre Mitglieder als christlich geprägte Bürger eine aktive Rolle in der Gesellschaft einnehmen können. In den öffentlichen Debatten wird sich Kirche immer auf einem schmalen Grat bewegen.
Laut Bedford-Strohm kann Kirche mit ihrer ganzen Autorität, auch mit ihrer Sachkompetenz, auf Missstände hinweisen. Wie bei den biblischen Propheten gehe es dabei nicht in erster Linie um eine verlässliche wissenschaftliche Expertise, sondern um leidenschaftliche moralische Empörung, wo offensichtliches Unrecht geschieht und Menschen den Geboten Gottes zuwiderhandeln. Das dürfe jedoch nicht inflationär geschehen. „Für die Hörenden muss spürbar bleiben, dass hier nicht nur bestimmte politische Präferenzen moralisch laut intoniert werden, um die mediale Durchschlagskraft zu erhöhen, sondern dass es hier um etwas geistlich Bedrängendes geht.“ In der Fülle der Bischofsäußerungen beider Konfessionen gehe dieser Aspekt heute zuweilen unter.
In ihrer Denkschrift spricht die evangelische Kirche nicht nur vom rechten Wort zur rechten Zeit, sondern auch von einem Schweigen zur rechten Zeit: „Denn Gott hat sich dieser Welt zugewandt - im Geist des Dienens, der liebevollen Zuwendung. Christenmenschen sollen ihm darin mit Hirn und Herz nachfolgen - gleichermaßen wachsam, nüchtern und leidenschaftlich, passioniert, und manchmal auch mit Schweigen.“