UnglückSelig die Unglücklichen

Ein neues Jahr verspricht neues Glück. Die Glückspropheten umschwirren uns. Das Leben aber geht seine eigenen Wege.

Kurze Tage und lange Nächte, noch sehen wir die Lichterketten und atmen Plätzchenduft. Doch Weihnachten liegt hinter uns, die Zukunft eines neuen Jahres vor uns. Und damit erneut die Sehnsucht nach Nähe, Zugehörigkeit und Frieden. Viele gute Wünsche erhalten wir in diesen Tagen - und richten wir an Bekannte und Freunde. Viel Glück! Viel Glück?

Ich plädiere aber einmal für das Recht, auch unglücklich sein zu dürfen! Und zwar gerade angesichts der zahlreichen Glücksversprechen.

Laut verschiedener Umfragen zum Lebenssinn geht es der Mehrheit unserer Gesellschaft um möglichst viel Spaß und Genuss. Glück wird gleichgesetzt mit ununterbrochen „positiven“ Emotionen, mit angenehmen Erfahrungen und einem Leben voller Höhepunkte. Und man meint, dies bewerkstelligen zu können.

Dies ist eine Märchenerzählung ersten Ranges. Sie versucht erfolglos, den schwindenden Sinn zu ersetzen. Vor allem aber übt die unreflektierte Annahme, dass Glück herstellbar sei, einen ungemeinen Druck aus. Denn wo es die Freiheit gibt, das eigene Glück zu suchen, da entsteht der Zwang, es gefälligst auch zu finden. Die Erwartung, dass jeder als Unternehmer seiner selbst sein Leben manage, manövriert in Überforderung und Erschöpfung hinein. Es verwundert nicht: Bei diesen unrealistischen Vorstellungen haben es dunkle Empfindungen schwer, zu ihrem Recht zu kommen.

Selbst schuld?

Die Annahme, dass Gut-drauf-Sein der Normalzustand des Lebens sei, illustriert die Rede von der „traurigen Verstimmung“. Diese Redewendung setzt nämlich indirekt die Freude als den eigentlichen Grundton menschlichen Lebens voraus. Als ob die Lebensmelodie von Natur aus nur in Dur komponiert wäre. Wenn sich andere Töne ins Leben mischen, wenn jemand unglücklich, bedrückt oder melancholisch ist, dann fühlt er sich verstimmt. Er fragt sich möglicherweise, was mit ihm nicht stimmt, und versucht schnellstmöglich, sich wieder in Stimmung zu bringen - so wie man ein schräg klingendes Instrument stimmt.

Macht ein Mensch jedoch den Fehler, von den Widrigkeiten seiner Existenz zu erzählen - von der miesen Stimmung im Betrieb, von einer schmerzlichen Liebesbeziehung oder von der anhaltenden Trauer über die verstorbene Großmutter -, dann sucht das Gegenüber oft den Fehler beim Unglücklichen selbst. Und schnell wird eine breite Palette an Lösungstipps angeboten: „Verabrede dich mal mit jemandem!“ „Such dir eine neue Stelle!“ „Gönn dir mal was Gutes, vielleicht einen Wellnesstag?!“ Jeder dieser Vorschläge enthält die subtile Botschaft: „Du hast es in der Hand, gut drauf zu sein. Selbst schuld, dass du unglücklich bist.“

Die Erwartung, dass das Leben aus Spaß besteht, lässt alle, die sich unglücklich fühlen, gleich dreifach leiden: Erstens fühlen sie sich unglücklich. Zweitens müssen sie sich Vorwürfe anhören, dass sie nicht genügend für ihr Glück investieren. Und drittens tendieren viele dazu, sich selbstkritisch zu beäugen, denn: „Alle anderen sind glücklich, bloß ich nicht! Was mache ich nur falsch?“ Zu diesem Leiden gesellt sich noch der kräftezehrende Druck, anderen vorgaukeln zu müssen, gute Laune zu haben. Denn wer unzufrieden ist, steht im Verdacht, ein Versager oder eine Versagerin zu sein. Und wer will schon als Loser gelten? Es klingt paradox, trifft aber zu: Viele wären glücklicher, wenn sie auch mal unglücklich sein dürften!

Gute Gründe, traurig zu sein

Es gibt gute Gründe, traurig zu sein! Ein realistischer Blick zeigt die Unausweichlichkeit des Leidens. Vieles, was unglücklich macht, bricht ungefragt herein: der Verlust des Arbeitsplatzes, ein schwerer Unfall, gesellschaftliche Konflikte … Traurigsein kann aber auch damit zusammenhängen, eine Situation verfehlt zu haben. Etwa wenn jemand die Gelegenheit verpasst hat, einer anderen Person seine Liebe zu gestehen. Vor allem aber meldet sich Trauer zu Wort, wenn der Abschied von einem vertrauten Menschen ansteht: wenn die Kinder das Haus verlassen; wenn der Partner oder die Partnerin beruflich mehrere Monate ins Ausland reisen muss. In all diesen kleinen Abschieden klopft der ultimative Abschied an die Tür: der Tod. Und wenn ein geliebter Mensch stirbt, dann weicht die Trauer darüber oft viele Jahre nicht.

Auch ohne konkrete Anlässe kann eine melancholische Traurigkeit über einen kommen: etwa wenn einem aufgeht, dass alles vom Menschen Geschaffene keinen Bestand hat. Dass der Sinn des Lebens fragwürdig ist und es keine sichere Antwort gibt. All dies zeigt: Nur vorsätzlich Blinde oder schlecht Informierte haben nichts zu leiden! Traurig sein zu können ist hingegen ein Zeichen seelischer Gesundheit und spricht für einen realistischen Blick auf die Wirklichkeit.

Ist der Glaube eine Hilfe? Kann er einen aus Trauer und Angst entheben? Die Antwort heißt oft: Das Gegenteil ist der Fall. Der Glaube an Gott macht unglücklich. Gott selbst macht unglücklich!

Gott hat uns aufgefordert, groß vom Menschen zu denken. Er hat uns ermöglicht, uns als Töchter und Söhne Gottes zu verstehen und zu achten. Doch je mehr wir Gott Glauben schenken und je größer wir vom Menschen denken, umso skandalöser wird, was dem Menschen angetan wird. Und umso stärker verwundet das Schweigen Gottes. Die Leiden der Hiob heute - die Ausgegrenzten in ihrem Hunger und ihrer Würdelosigkeit, die vergeblich Hoffenden und Kämpfenden - irritieren den Glauben zutiefst. Manchmal denke ich: Wie viel einfacher wäre das Leben, wenn es Gott nicht gäbe! Dann könnte ich in der Rolle der neutralen Zuschauerin verharren und mich des Urteils über Sinn oder Unsinn eines Geschehens enthalten. Vieles wäre leichter zu ertragen und zu verstehen. Im Unterschied dazu macht der Glaube leidend und unglücklich. Er lehrt den Schrei: „Wo bist du, Gott? Sei endlich Gott!“

Es gibt eine Würde der Untröstlichkeit. Das Leben geht nicht auf. Zahlreiche Gründe lassen einen an der Güte des Lebens zweifeln. Und je größer wir - kraft des Glaubens - vom Menschen denken, desto ­weniger lässt sich erklären und wiedergutmachen, was Menschen einander antun.

Diese Untröstlichkeit gehört unaufhebbar zu einem christlichen Leben. Natürlich feierten wir soeben an Weihnachten, dass Gott uns in Jesus wahrhaft vor Augen tritt und alles Menschliche zu einem Ort werden kann, wo Heiliges aufleuchtet. Doch zugleich bleibt dieses Kommen Gottes schmerzhaft verborgen, gerade weil es so menschlich ist.

Die Hoffnung auf das Kommen Gottes - nicht nur einst, sondern auch in Zukunft - ist ein Weckruf: Es geht immer wieder um die radikale und erschreckende Grenzüberschreitung Gottes hinein in Hilflosigkeit und blanke Körperlichkeit. Hinein in ein ohnmächtiges und verwundbares Leben. Doch anstatt sich durch diese verstörende Erzählung vom Kommen Gottes aufschrecken zu lassen, wird in Liturgie und Verkündigung, wird im persönlichen Gebet und im Gespräch oft die Schlummertaste gedrückt. Werden lebensfeindliche Paradoxien harmonisch eingeebnet.

Hoffnung ist keine Feigheit

Es klingt vielleicht überraschend: Einen solchen Nachgeschmack hinterlassen auch manche kirchliche Appelle und besorgte Wortmeldungen von Christen, wenn sie die fürchterliche Not von Flüchtlingen vor Augen führen und zu sozialem Engagement auffordern. Nämlich dann, wenn Lösungsansätze zu einfach daherkommen. Wenn nichts von der Spannung spürbar wird zwischen Mitgefühl und der Unsicherheit, was unsere Gesellschaft verkraften kann. Wenn Paradoxien und handgreifliche Gefahren verschwiegen werden. Auf diese Weise erscheint die christliche Hoffnung als ein Mangel an Information oder als Feigheit, sich an das Tatsächliche zu halten. Doch Hoffen meint nicht zuletzt, Illusionen abzulegen - auch Illusionen über Gott.

Das Leben des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer gibt von einer solchen Hoffnung Zeugnis. Angesichts von Bombenhagel und der drohenden Gefahr seiner eigenen Hinrichtung durch die Nazis dichtet er in der Haft: „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Dies ist keine spirituelle Überhöhung seiner eigenen Lage, sondern vor allem wohl eine Bitte um Gott selbst: „Gott, erweise dich als jener, der du zu sein versprochen hast. Zeige dich als jener Gott, der uns wunderbar geborgen sein lässt.“

Weihnachten selber ist ein ent-täuschendes Fest. Es deckt Täuschungen und Illusionen auf und konfrontiert mit der Wirklichkeit mit ihrem Schönen und ihrem Schrecken, mit ihrem Großen und ihrem Erbärmlichen. Ein feines Gespür dafür legt der Kult um die Windeln Jesu an den Tag. Seit vielen Jahrhunderten werden in Aachen die Windeln Jesu gezeigt und als Erinnerungsstücke an dessen Leben verehrt. Unabhängig davon, ob es sich hier um die wahren Windeln Jesu oder um Plagiate beziehungsweise Imitationen handelt, so steht außer Frage: Die Leute haben sich eine feine Nase für das Konkrete und Verstörende der Menschwerdung Gottes bewahrt, wenn sie zu dieser kuriosen Windel-Wallfahrt aufbrechen. Die Windeln stehen für Gestank und Kot, für Tränen und Bedürftigkeit, für Ohnmacht und Fäulnis, die dem menschlichen Leib und Leben anhaften. Nicht erst das Kreuz Jesu, sondern schon seine Geburt ist eine Ungeheuerlichkeit.

Unser menschliches Dasein ist ausgespannt zwischen einer blutigen Geburt und den letzten Atemzügen. Vertrauen und Verzweiflung, Einsamkeit und Geborgenheit, Erbärmlichkeit und Größe prägen es. In Jesus Christus umarmt Gott dieses Dasein und ermutigt uns, dass wir anderen und uns selbst wertschätzend und loyal begegnen. Dass wir wachsen in der Freundschaft mit uns selbst.

Kann Unglücklichsein glücken?

Die Lebenskunst, mit sich selbst befreundet zu sein, zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit dunklen Empfindungen und Gedanken. Natürlich tut es weh, unglücklich zu sein. Trauern schmerzt. Doch was hilft, dass das Traurigsein „glückt“? Ein Erstes kann darin liegen, die eigene Traurigkeit zu entdramatisieren und damit auch zu normalisieren. Dass wir nicht pausenlos auf Wolke sieben schweben, sondern uns auch mal unglücklich fühlen oder einen tiefen Kummer spüren, ist durch und durch menschlich und gehört zur Polarität des Lebens. Erst das Gesamtpaket - inklusive grauer Alltag - macht die Fülle des Lebens aus.

Zur Kunst des Unglücklichseins könnte des Weiteren gehören, dass ich einem tristen Tag sein Daseinsrecht zugestehe. Dass ich mir den Schmerz wehtun lasse, der in einem Verlust oder in der himmelschreienden Not von Menschen steckt. Und dass ich der eigenen Trauer Zeit und Raum gebe. Eine solch wohlwollend-freundschaftliche Haltung der eigenen Seele gegenüber bedarf einer bewussten Lebenskultur in einer auf Selbstoptimierung getrimmten Gesellschaft. In einer Gesellschaft, die einfordert: „Sorge dafür, dass du in für dich schweren Zeiten möglichst schnell wieder funktionierst und dich in gute Stimmung bringst“, und die den Optimierungskampf gegen das Unglücklichsein mit Stimmungsaufhellern zunehmend chemisch führt.

Und schließlich gibt Bonhoeffer einen zweifachen Hinweis, wenn er 1944 in der Nazi-Haft schreibt: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.“

Das Gerechte tun: sich weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht lähmen lassen, sondern im Hier und Jetzt das Leben in die Hand nehmen. Gott selber ist es, der seine neue Welt aufbaut und am Ende der Zeit vollendet. Doch er baut sie aus den Steinen unseres Lebens, unserer Entscheidungen, unserer Tränen und unserer Liebe. Und deswegen haben die Weltgeschichte und die konkrete Lebensgeschichte eines jeden Menschen einen echten und absoluten Ernst.

Beten: Christliches Beten schützt nicht vor Kummer und Verzweiflung, wohl aber bewahrt es vor Gleichgültigkeit. Es fordert heraus, sich der eigenen Not zu stellen und Augen und Herz für das Elend anderer zu öffnen. Gegen die eigene Trauer und Ohnmacht anbeten zu wollen, ist zwar nachvollziehbar, doch im Grunde eine infantile Versuchung. Im Glauben eröffnet sich ein Horizont, in dem ganz im Gegenteil alles Platz hat - auch die Not und das Nichtverstehen. Ich muss sie nicht besiegen oder bewältigen, nicht verdrängen oder ausblenden. Vielmehr kann ich sie nah an mich heranlassen, weil ich darauf hoffe, dass alles eingebettet ist in ein À-Dieu, in ein „Zu Gott“. In einen unbegrenzten göttlichen Zusammenhang, der Leben und Liebe verspricht.

Bonhoeffer drückt den Schmerz und den Trost, der in der christlicher Hoffnung liegt, mit den Worten aus: „Wir leben im Vorletzten und glauben an das Letzte.“

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