ÖkumeneDem Willen fehlt die Tat

Ökumene 2017: Christen sind nicht gleich Christen. Noch immer trennt sie ihre Kirchenzugehörigkeit. Fünfhundert Jahre nach Martin Luther versuchen sich Protestanten und Katholiken in einem gemeinsamen Buß- und Versöhnungsgottesdienst anzunähern.

Die beiden höchsten Repräsentanten der zwei großen Konfessionen in Deutschland treten an diesem Samstag in Hildesheim gemeinsam vor den Altar. Der Bundespräsident spricht. Die ARD überträgt live in jeden Winkel des Landes. 500 Jahre nach der Reformation soll in einem ökumenischen Gottesdienst das christlich gespaltene Land versöhnt werden. Ökumene! Das ist eines der großen Anliegen des Reformationsjubiläums, das Protestanten feiern - oder des Reformationsgedenkens, wie viele Katholiken wortwählerisch maximal zugestehen können.

Bei allem guten Willen, trotz aller großer Bemühungen und phasenweiser Euphorie, die das Lutherjahr und die ökumenischen Annäherungsversuche bestimmen, müssen doch Missverständnisse benannt werden. Das erste: Ökumene ist nicht die zentrale und brennendste Aufgabe der Kirche(n), was Theologieprofessoren und Kirchenführer auf Universitäts- und Akademiepodien allerdings immer wieder behaupten.

Die meisten Menschen finden es gut, dass es sie gibt, aber nicht wesensnotwendig. Entweder haben sie der Kirche längst den Rücken gekehrt oder praktikable Lösungen für ihre private Einheit der Christen gefunden, etwa wenn gemischtkonfessionell Verheiratete an Abendmahlsfeier oder Eucharistie in der Kirche des Partners teilnehmen. Moderne Menschen interessieren sich mehrheitlich schlichtweg nicht mehr für binnenkirchliche Pro­bleme. Wenn sie religiös noch etwas bewegt, dann ist es die Gottesfrage: Existiert Gott? Wer ist Jesus Christus? Was ist der Heilige Geist? Welchen Sinn hat mein Leben, und welche Rolle kann da der Glaube spielen?

Die Zeiten, in denen die kirchlichen Prägungen tief in die Gesellschaft hineinreichten, sind vorbei. In siebzig Jahren Bundesrepublik ist der einst massive Einfluss der Kirchen ähnlich abgeschmolzen wie das Eis der Gletscher. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte vielfach noch klirrend kalter Konfessionalismus. Männer wie Martin Niemöller, führender Vertreter der Bekennenden Kirche und später Präsident im Ökumenischen Rat der Kirchen, verdächtigten die vom rheinischen Katholizismus geprägte Bonner Republik noch als „im Vatikan gezeugt“. Die Westorientierung Konrad Adenauers galt ihnen als eine katholisch motivierte Preisgabe Ostdeutschlands. Der Katholizismus wurde verdächtigt, „mit einer Neuauflage des ‚christlichen Abendlandes‘ nicht nur die Protestanten hinter dem Eisernen Vorhang preiszugeben, sondern zugleich mit der Ausrichtung auf mittelalterliche Vorbilder auch eine vorreformatorische Zukunft anzustreben, in der ein evangelisches Deutschland keinen Platz mehr habe“, wie der Historiker Tillmann Bendikowski in seinem Buch „Der deutsche Glaubenskrieg“ ausführt. Der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann verantwortete Anfang der fünfziger Jahre ein Flugblatt, auf dem zu lesen war, ein überzeugter evangelischer Christ könne nicht Mitglied der CDU sein.

Sektierer und Papisten

Auch im Alltag beäugten sich die Glaubenden beider Konfessionen scharf. Immerhin zogen sie nicht mehr in den Krieg gegeneinander. Doch die Evangelischen blieben für die Katholiken Sektierer, Ungläubige oder eben abgefallene Brüder, diese wurden dafür von jenen als abergläubische Papisten und Relikte des Mittelalters denunziert.

Gleichzeitig zeigte sich mancherorts, dass verschiedene Lebensgefühle, Traditionen, theologische Divergenzen und Identitäten nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Konfessionen zu Konflikten führen können. Selbst unter Katholiken wogen in bestimmten Situationen die Vorlieben für gewisse Frömmigkeitsriten und liturgische Bräuche schwerer als Katechismus und Dogma. Im katholischen Bayern etwa, so Bendikowski, „befürchtete der Klerus, die sudetendeutschen Katholiken könnten durch ihre Armut und Hoffnungslosigkeit eine Art ‚religiösen Bolschewismus‘ in die konservativ-ländlichen Gemeinden Bayerns tragen“. In den evangelischen Kirchen kam es zu internen Konflikten, als „die Mitglieder aus denjenigen Regionen des ehemaligen Deutschen Reiches, die nicht zur Bundesrepublik gehörten, sich nicht nur durch ihre landsmännische Mentalität unterschieden, sondern auch durch Bekenntnisstand, Katechismus, Liturgie und Frömmigkeitskultur. Vertrieben aus den östlichen altpreußischen Provinzialkirchen, trafen sie jetzt in der neuen Heimat auf reformierte und konsens­unierte Landeskirchen“.

Doch derartige Abgrenzungskämpfe innerhalb und zwischen den Konfessionen wurden zunehmend obsolet, seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Bindekräfte zu den Kirchen zu schwinden begannen. Die ökumenische Frage verlor an gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Und was die Sexualmoral angeht, überwiegt eine Ökumene der Nichtbeachtung kirchlicher Vorschriften.

Durch die forcierte Entkirchlichung und den unaufhaltsamen Mitgliederschwund waren die verfassten Kirchen laut Bendikowski „erschöpft von den alten Streitereien“. Sie selbst waren die eigentlichen Verlierer dieses „Glaubenskrieges“.

Nun also der Versuch, sich im Gedenkjahr zu berappeln. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Vorsitzende des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, treten seit geraumer Zeit auffällig oft als Duo auf, sei es bei einer Reise nach Jerusalem, sei es nun beim großen Buß- und Versöhnungsgottesdienst in Hildesheim oder im kommenden September bei einem „Ökumenischen Fest“ in Bochum. Die Duzfreunde erscheinen als Dream-Team der Ökumene.

Diese Wunde sollte heilen

Die ökumenische Pendeldiplomatie hat sogar Rom erfasst: Der Papst fuhr zum ökumenischen Gebet nach Lund, der EKD-Vorsitzende zusammen mit dem Bischofskonferenzvorsitzenden zur Audienz nach Rom. Die Gemeinsame Erklärung von Lund blieb allerdings vage. Auf das Priester- und Papstamt wurde nicht eingegangen. Zum Thema Abendmahl blieb es beim Wunsch, „diese Wunde im Leib Christi“ zu heilen und „unseren Einsatz im theologischen Dialog“ zu erneuern.

Und man macht sich Hoffnung: In weiteren fünfhundert Jahren werde man nicht mehr getrennt sein, prophezeien Bischöfe. Ein Anfang in der Verschmelzung dessen, was seit langem getrennt ist und doch zusammengehört (und zuvor drei Mal so lang zusammen war), könnte der Hildesheimer Gottesdienst „Erinnerungen heilen“ werden. Erinnerung, Schuldbewusstsein, Buße und die daraus folgende Heilung sind in gut christlicher Manier Voraussetzungen für einen Neubeginn. Ökumenisch geschlossen wird es leichter sein, den eigentlichen Herausforderungen der Zeit zu begegnen: dem Säkularismus und der Auseinandersetzung und dem Dialog mit anderen Religionen.

Angesichts des weltweiten Atheismus und eines relativistischen Skeptizismus könne es sich das Christentum nicht mehr leisten, gespalten und zerrissen den Völkern und Kulturen zu begegnen. Die Einheit der Kirche sei „eine Frage auf Leben und Tod für die Christenheit“. Das schrieben die Theologen Karl Rahner und Heinrich Fries bereits vor 35 Jahren in ihrem Buch „Einigung der Kirchen - reale Möglichkeit“. Die Kirchen haben bisher nicht viel zu ihrem Überleben beigetragen.

Kirchenspaltung ohne Grundlage

Das zweite große Missverständnis besteht darin zu meinen, in den zentralen Fragen könne es in der Ökumene in absehbarer Zeit zu echten Reformen kommen. Kardinal Gerhard Müller, Präfekt der Glaubenskongregation und somit oberster Glaubenshüter nach dem Papst, stellt in seinem neuen Buch „Der Papst - Sendung und Auftrag“ klar, was kein überzeugter Protestant unterschreiben kann: Das Amt des Papstes ist nicht als Ausführung bloß einer bestimmten Funktion, der Kirchenleitung, zu verstehen, sondern als integraler Bestandteil der übernatürlichen Offenbarung. Auch hält Müller an der strikten Unterscheidung von Laien und Klerus fest.

Das geistliche Amt, Christus zu repräsentieren, ist demnach nicht nur durch die Funktion bestimmt, sondern es verleiht der Person des Amtsträgers sakramental durch die Weihe eine wesenhaft andere Bedeutung, ein „untilgbares Prägemal“, character indelebilis. Für einen Lutheraner ist diese Vorstellung nicht nachvollziehbar. Das Amt ist ihm Funktion, Verwaltung, Dienst, auch Berufung.

Beim Abendmahlsverständnis lässt Müller nicht am „ex opere operato“ rütteln, wonach die sakramentale Wesensverwandlung der Gaben in sich geschieht einzig durch die vollzogene Handlung des durch die Weihe legitimierten Priesters, nicht etwa durch den Glauben derer, die das Sakrament empfangen im Vertrauen allein auf Gottes Liebe („ex opere operantis“), wie bei Luther.

Schon Müllers Vorvorgänger, Joseph Ratzinger, hatte als Glaubenspräfekt Grenzpflöcke eingeschlagen. In der Erklärung „Dominus Jesus“ hatte er 2000 ein Dreistufenmodell beschrieben, wonach die „eine einzige Kirche Christi“ in der „katholischen Kirche subsistiert“, also verwirklicht ist. Sie allein diene dem Menschen als allumfassendes Heilssakrament. Die evangelische Konfession rangiert nach den „echten Teilkirchen“ (die Orthodoxen) nur auf Platz drei. Sie ist demnach keine Kirche im eigentlichen Sinne, sondern eine „kirchliche Gemeinschaft“. Sie stehe „in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der Kirche“. Die katholische Kirche gehört aufgrund ihres Selbstverständnisses, allein wahre Kirche zu sein, dem Ökumenischen Rat der Kirchen daher nicht als Mitglied an.

Wider alle Trennlinien und Beharrungskräfte gibt es diejenigen, die dennoch an einem gemeinsamen Haus bauen. Die Reformationsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, deren ehemalige Vorsitzende und Bischöfin Margot Käßmann, und der Katholik Bernd Jochen Hilberath, emeritierter Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung in Tübingen, sagen übereinstimmend, viele ökumenische Kommissionen hätten genügend Gemeinsamkeiten erarbeitet, so dass es vom theologischen Standpunkt aus keine kirchentrennenden Differenzen mehr geben müsse.

Sogar beim Amts- und Kirchenverständnis und beim Abendmahl kann es laut Hilberath zum Konsens kommen. Theologische Kommissionen, etwa des Lutherischen Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche auf Weltebene, der 1946 gegründete Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen oder ein Verbund der ökumenischen Institute in Tübingen, Straßburg und Bensheim, der „Thesen zur Eucharistischen Gastfreundschaft“ entwickelte, hätten so große Fortschritte erzielt, dass eine Kirchenspaltung eigentlich keine Grundlage mehr habe.

Laut Hilberath könnten die Kirchen so weit sein, „sich wechselseitig als legitime Ausprägungen der einen Kirche Jesu Christi anzuerkennen und als solche Abendmahlsgemeinschaft zu feiern“. Dem entgegen stünden allein „nicht genuin theologische Faktoren, die die Einigkeit verhindern“: Kommunikationsprobleme, Machtpolitik und psychologische Hemmnisse, etwa die Sorge um das eigene Profil und die eigene Identität. „Die positiven Ergebnisse theologischer Kommissionen, die im Auftrag der Kirchen ihre Arbeit aufnahmen, werden bei der Kirchenleitung kaum rezipiert und sind an der Basis unbekannt“, beklagt Hilberath: „Unsere Bischöfe kennen die ökumenischen Texte nicht.“ Die Kirchenleitungen hinken ökumenisch hinter dem her, was theologisch möglich wäre, sie bräuchten Nachhilfe in Ökumene.

Luther rehabilitieren

Das zarte Pflänzchen Ökumene lebt noch. Aber es muss sich durch die Verkrustungen eines dornigen Feldes quälen. Der pastorale Klimawandel unter dem neuen Papst könnte dem Wachstum förderlich sein, wenn, ja wenn es zum Beispiel auch in der Frauenfrage einen Fortschritt gäbe. Dass der Vatikan das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1979 verabschiedete Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, kurz: die Frauenkonvention, nicht unterschrieben hat - so wie Somalia, Iran und Sudan -, widerspricht nicht nur dem Geist allgemeiner Menschenrechte, sondern ist auch ein ökumenisches Hindernis.

Ein weiteres Zeichen ernstgemeinter Ökumene wäre die Aufhebung der Exkommunikation Martin Luthers. Margot Käßmann hatte - wie Hans Küng bereits zuvor - schon vor fünf Jahren gefordert, bis 2017 solle die katholische Kirche die Exkommunikation des Reformators aufheben. Auch der katholische Lutherforscher auf einem protestantischen Lehrstuhl, der 2014 gestorbene Otto Hermann Pesch, plädierte schon früh dafür, Luther zu rehabilitieren. Hilberath schlägt vor, Rom solle offiziell erklären: „Martin Luther ist ein katholischer Theologe und für uns heute ein Lehrer des Glaubens und der Kirche.“

Freilich wurden zu Luthers Lehrmeinungen auf dem Konzil von Trient (1545-1563) Gegenpositionen bezogen, die für die katholische Kirche bis heute gültig sind. Und es ist so, dass nach katholischer Vorstellung der Kirchenbann mit dem Tod erlischt und nicht nachträglich aufgehoben zu werden braucht.

Mehr Fraktionen als Konfessionen

So sehr das Gemeinsame der Kirchen - das Bekenntnis zu Jesus Christus - wichtiger ist als das Trennende, so schwer erscheint es, die letzten Hürden zu nehmen. Das ganze Dilemma zeigte sich kurz vor der Jahrtausendwende im Streit über die „Gemeinsame Erklärung der Rechtfertigungslehre“. Die Rechtfertigungslehre war das zentrale Anliegen Luthers. Sie thematisiert die Frage, in welcher Beziehung der Mensch zu Gott steht. Bereits in den fünfziger Jahren hatte Hans Küng in Auseinandersetzung mit dem Protestanten Karl Barth große Übereinstimmungen zwischen lutherischem und katholischem Verständnis herausgearbeitet. Obwohl die Erklärung 1999 unterzeichnet wurde, hat der ökumenische Prozess einen Knacks bekommen. Die Verabschiedung wurde von den einen als „Meilenstein der Ökumene“ gefeiert, von anderen als „Stolperstein“ verurteilt. 160 evangelische Theologen hatten sich gegen die Erklärung ausgesprochen. Über „Schummel-Ökumene“ wurde gespottet und vor „Rückkehr-Ökumene“ gewarnt.

Auch heute lassen sich zwei Schulen in der Ökumene ausmachen. Die eine legt Wert auf die je eigenen Charakteristika („Ökumene der Profile“). Ihr geht es um die inhaltlich-theologische Auseinandersetzung. Unterschiede sollen nicht beschönigt, sondern klar benannt werden. Jede Verwässerung der Positionen ist ihr ein Graus. Die andere neigt dazu, die wenigen Kernstreitpunkte auszublenden, sich lieber auf die viel größere Schnittmenge des Verbindenden zu besinnen, auf den größten gemeinsamen Nenner und aufs Atmosphärische zu setzen („Versöhnt, verschieden“, „Einheit in Vielfalt“). Zu ihr gehören auch jene angeblich 75 Prozent der katholischen Theologen, die nach Einschätzung Wolfgang Thönissens, des Leiters des Paderborner Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik, die Auseinandersetzung um Themen wie Taufe und Abendmahl als „binnenkirchliches Geraune“ abtun.

Weil beide Richtungen dauerhaft im Widerstreit liegen, kommt das Reformationsjubiläum mit seinem ökumenischen Anliegen nicht richtig in Schwung. Erst recht nicht, weil die Konfliktlinien nicht nur zwischen den Konfessionen verlaufen, sondern innerhalb der beiden Blöcke. Auf katholischer Seite kämpfen zwei Fraktionen um die Deutungshoheit in der Beurteilung der Reformation. Ist der ehemalige Augustinereremit Luther seiner Reformbemühungen, seiner theologischen Kraft und seines tiefen Glaubens wegen zu würdigen? Ist die Kirche bereit, Pluralität als Gewinn zu sehen? Oder ist eine geschlossene Einheit höchstes Gut? Dann gäbe es keinen Grund, die „Sünde der Trennung“ und „Luther den Spalter“ zu feiern.

Brisanterweise hat das Reformationsjubiläum ausgerechnet auf evangelischer Seite eine böse Überraschung bereitgehalten. Zwischen Kirche und Theologie ist mitten in den Feierlichkeiten ein Graben aufgebrochen. Während in Hildesheim der interkonfessionelle Heilungsprozess gestartet werden soll, liegt das reformatorische Lager wund. Die Kombattanten sind noch dabei, aufeinander einzuschlagen.

Thies Gundlach, Vizepräsident im Kirchenamt der EKD, bemängelt im Magazin „zeitzeichen“, dass die theologische Wissenschaft an der Gestaltung des Jubiläums herummäkelt, angefangen beim ökumenischen Text „Erinnerung heilen - Jesus Christus bezeugen“ bis zu den Buß- und Versöhnungsgottesdiensten in Lund und nun in Hildesheim, und dass sie die „Kirchenleitenden“ bei einer gegenwartsbezogenen Interpretation der Theologie Luthers allein lasse. „Viele relevante theologische Wissenschaftler“ hätten sich aus der konstruktiven Diskussion um das Jubiläum abgemeldet. Statt tragende Ideen und Perspektiven zu entwickeln, statt weiterführende Gedanken zu entfalten, statt überlieferten Glauben und gegenwärtiges Weltbewusstsein zu verschränken, herrschten in der evangelischen Theologenzunft eine „grummelige Meckerstimmung“, „besserwisserische Ignoranz“ und ein „kontinuierlicher Ton der Missbilligung“.

Gebt der Gnade eine Chance

Die namentlich angegriffenen Theologen Friedrich Wilhelm Graf (München), Ulrich Körtner (Wien), Thomas Kaufmann (Göttingen) und Dorothea Wendebourg (Berlin) konterten umgehend. Letztere warf der Kirchenleitung in der „Welt“ vor, den Gottesbezug des Menschen außen vor zu lassen. Sie konzentriere sich „in einer eigenartigen Neufassung des Bündnisses von Thron und Altar - heute Parlament und Altar - auf das, was an der Reformation für den Staat, die Menschenwürde oder die Demokratie wichtig sein könne“. Dann müsse sie sich „nicht wundern, wenn Theologen theologische Defizite beklagen und darauf hinweisen, dass Luther etwas anderes im Sinn hatte als das, was die kirchlichen Oberen nun vor allem herausstellen“.

Es sind die Identitätsfragen, die auf der Ökumene lasten. Wo steht die eigene Kirche? Wieviel vom eigenen Profil kann man preisgeben, und wo wird der Kompromiss zur Selbstverleugnung? Immerhin ist der Ton ein anderer, der Umgang kultivierter. Doch in der Substanz bleibt vorerst alles beim Alten. Der Journalist Raoul Löbbert hat kürzlich in der „Zeit“ argumentiert, zu viel Harmonie schade gar der Ökumene. Es sei richtig, wenn die „siamesischen Ökumene-Zwillinge Bedford-Strohm und Marx“ nach außen eine gemeinsame christliche Haltung der Kirchen in der Flüchtlingsfrage vertreten. Dass sie jedoch „nach innen so tun, als wäre man eine große, glückliche Familie, ist es nicht“. Ihre Harmoniebotschaft biete falschen Trost. Sie lächle die Problemzonen weg.

In Hildesheim wollen sich beide Kirchen gerade der Vergangenheit stellen, wo sie problematisch war. Mit ihrem Versöhnungsversuch stehen sie auf dem Boden der Bibel. Sie sind sich bewusst: „Versöhnung ist Ausdruck von Gnade“, wie es in einem gemeinsam erarbeiteten Text heißt. Doch Gnade muss wirken können.

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