Mit dem Flugzeug geht alles zu schnell. Wer tief in die Lebenswelt Roms eintauchen will, der braucht eher Zeit für eine langsame Annäherung, um wahrzunehmen, wie sich diese Kulturlandschaft allmählich aufbaut. Nach Rom fährt es sich, so gesehen, am besten mit dem Auto.
In Küstennähe passiert die Via Aurelia den Übergang von der Toskana nach Latium. In der Nähe der alten Etruskerstadt Tarquinia kündigt sich ein Landschaftswechsel an: mit Tuffhügeln und Kraterseen, die die vulkanische Landschaft Latiums modellieren.
Und die Vegetation ändert sich. Die schwarzgrünen Zypressen, markant in der sanften Wellenlandschaft der Toskana aufgerichtet, weichen in Latium hohen Pinien, weit ausladend wie Sonnenschirme. Da, wo die Campagna Romana noch nicht von den öden Wohnblöcken der römischen Vorstädte zerstört ist, trifft der Blick manchmal auf einen alten, rostbraunen Bauernhof mit verwilderten Weinstöcken oder auf Reste eines Aquäduktes. Im hellen Sonnenlicht flirren die Blätter der Olivenbäume je nach Lichteinfall silbrig grün. Wer aus dem Norden kommt, der bemerkt ein immer intensiveres Farbenspiel.
Die Vorstädte Roms sind ein Riesenring aus weißen oder betonfarbenen Hochhäusern. Sie kommen einem vor wie ein „Wall aus Schnee oder ein Reisberg, durch den man sich hindurchbeißen muss, um ins Schlaraffenland“ zu gelangen, wie Eckart Peterich, der Deutsch-Italiener, vor vielen Jahren schrieb. In Rom selber herrschen die Herbstfarben vor: Gelbgold, Rot, Ocker mit Rosttönen. All das unter eisblauem Himmel und ergänzt durch den süßen, betörenden Duft der vielen blühenden Dattelpalmen im Spätsommer.
Von der Piazza di Spagna führt der Weg über eine Barocktreppe zur Kirche Trinità dei Monti und von dort unter alten Steineichen zu den Pincio-Terrassen. Eine magische Aussicht über Rom präsentiert sich da oberhalb der Piazza del Popolo. Im Panoramablick von der Brüstung der Terrassen aus erscheint in der Ferne die Kuppel von Sankt Peter, hinter der die Sonne untergeht. Die Pincio-Terrassen zeigen die Stadt in ihrer barocken Pracht. Es ist ein Ort, an dem viel von der Romanità, dem Lebensgefühl der Stadt, zu spüren ist. Eine zentrale Figur in dieser glanzvollen Epoche, der „Schöpfer des barocken Rom“, Gian Lorenzo Bernini, hat durch sein ästhetisches Charisma wesentlichen Anteil an diesem bis heute vibrierenden Lebensgefühl. Es gibt in Rom kaum einen bedeutenden Platz - mit Gebäuden, Fassaden oder Brunnen -, dem er nicht seinen Stempel aufgedrückt hat.
Von den Pincio-Terrassen ist es nicht weit durch den Park zur Galleria der Villa Borghese. Dort lässt sich an drei Skulpturen das Genie eines Mannes besichtigen, für den Michelangelo das bewunderte Vorbild war. Den Durchbruch in Rom schaffte Bernini auf einen Schlag mit seiner Aeneas-und-Anchises-Gruppe (1618/19). Nach dem Gründungsmythos des antiken Rom gelang es dem Trojaner Äneas zusammen mit seinem Vater aus der von den Griechen eroberten, brennenden Stadt zu fliehen. Nach endlosen Irrfahrten landeten sie in Latium und legten den Grundstein für die spätere römische Weltherrschaft.
Doch dem noch nicht einmal zwanzigjährigen Bernini ging es mit seiner Arbeit für den Förderer Kardinal Scipione Borghese nicht bloß um eine Anspielung auf Vergils bekannte Äneis. Die Übertragung der Herrschaft von Troja nach Rom ist das eine, der Übergang der Herrschaft aber von den antiken Kaisern auf die Päpste ist das andere, das Entscheidende an dieser Skulptur. Hinter dem heidnischen Mythos schimmert „unversehens seine Inanspruchnahme durch die römische Kirche auf“, wie der Kunsthistoriker Arne Karsten bemerkt. Der machtbewusste Kardinal Borghese, dem Papsttum mit seiner Karriereverheißung nicht abhold, bediente sich in seinen vier Wänden gerne einer geschichtstheologischen Konstruktion aus Marmor, die dem Betrachter eine das Papsttum legitimierende Traditionslinie plastisch, fast handgreiflich vor Augen stellt. Von Troja bis auf die vatikanischen Hügel.
Bernini behielt sich aber eine gewisse Unabhängigkeit. Das zeigt sich in der Figurengruppe „Der Raub der Proserpina“. In seinen Metamorphosen erzählt Ovid die Geschichte von Proserpina, die beim Blumenpflücken von dem in Liebe entbrannten Gott der Unterwelt entführt wird. Wer um die Figur herumgeht, sie von allen Seiten betrachtet und von ihrer Ästhetik überwältigt wird, der spürt zugleich den verzweifelten, aussichtslosen Kampf der Proserpina gegen ihren gewalttätigen Widersacher. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, gegen das unerbittliche Schicksal des Todes, den Bernini bis in die kleinsten anatomischen Details aus dem Marmor herausgearbeitet hat. Ein Drama mit einer antiklerikalen Spitze: das aus Stein gehauene Memento Mori für den stets nach Macht und Einfluss strebenden Kirchenmann und Auftraggeber.
Der Barock mit seiner perfekten Dramaturgie theatralischer Gegensätze erreicht in der letzten monumentalen Skulpturengruppe von Bernini, die in der Galleria Borghese zu sehen ist, einen Höhepunkt der Bildhauerei. Für manche Kunsthistoriker ist „Apollo und Daphne“ die vollkommenste Skulptur überhaupt. Im Sockel ist Urban VIII. verewigt: „Wer als Liebender den Freuden flüchtiger Form nachjagt, / Der füllt seine Hand mit Laub und erntet bittere Beeren.“ Eine moralisierende Inschrift, die im ironischen Kontrast zur Skulptur selber steht: Zwei Figuren von vollkommener Schönheit führen die Vergänglichkeit sinnlicher Schönheit vor Augen.
Apollo, in Liebe zu Daphne entbrannt, stellt ihr nach und berührt sie, die jedoch seine Liebe nicht erwidert. Im Moment der Berührung beginnt Daphnes Verwandlung in einen Lorbeerbaum: Die Füße werden zu Wurzeln, die Beine zu Rinde und die Haare zu Blattwerk. Daphne, zum Zerreißen gespannt, windet sich bogenförmig von Apollo fort. Eine fließende Verwandlung in Marmor, die nirgendwo statisch oder wie eingefroren wirkt, all das macht beim ersten Betrachten geradezu sprachlos. Bernini zeigt nicht einen Zustand, sondern eine Verwandlung in Stein. Wie ist das aus Marmor nur möglich? Es komme darauf an, heißt es in Berninis Skizzenbuch, den Marmor zu behandeln „come la pasta“, wie einen Teig. Sein Ziel sei es nicht, nur abzubilden. Er wolle zeigen, was in den Köpfen der Helden vorgeht. Diese dramatische Lebendigkeit und seine Meisterschaft in der Behandlung des Marmors erklären den Siegeszug und den Einfluss auf Generationen von Bildhauern.
Es soll kunstsinnige Menschen geben, die nur wegen Berninis Genialität nach Rom reisen, um dort ihren barocken Vitaminhaushalt aufzufrischen. Darunter auch der Literat Martin Walser. In seiner Novelle „Mein Jenseits“ bekennt er, dass er immer wieder nach Rom fliegt, „um mich der Aufdringlichkeit gewisser Bilder und Statuen auszusetzen und um in gewissen Kirchenräumen zu atmen“. Mit auf dem ersten Platz für Walser rangiert dabei die „Madonna di Loreto“, bekannt auch als „Madonna dei Pellegrini“, von Michelangelo Caravaggio.
Nur ein paar Minuten entfernt von der pulsierenden Piazza Navona, auf der anderen Seite des Corso, liegt die Basilika Sant’Agostino. Und hier, in der Cappella Cavalletti gleich links hinter dem Haupteingang, ist sie zu sehen: die „Madonna di Loreto“, mit der Caravaggios hochdramatischer Barock in der römischen Malerei einen entscheidenden Akzent setzte. Bei der Enthüllung war ein veritabler Skandal programmiert.
Etwas erhöht auf einer Türschwelle, mit überschlagenen Beinen, lehnt sich Maria an eine schlichte Ziegelmauer. Barfuß und mit dem Kind auf ihrer rechten Seite zeigt sie sich zwei Pilgern. Jedes Anzeichen von mariologischer Verklärung fehlt, es sei denn, sie bestünde in der Schönheit: Caravaggio hat Maria als eine schöne Römerin gemalt. Ihre dem Kind zugeneigte freie Schulter und der schlanke Hals genügen, um körperliche Sinnlichkeit auszustrahlen. Auf dem rechten, vorgestellten Bein, mit dem sie das Kind abstützt, spannt sich der fließende Kleiderstoff und deutet die Silhouette des Oberschenkels an.
Maria neigt sich einem Paar zu, das andachtsvoll vor ihr kniet. Pilgernde Campagna-Bauern, er ein barfüßiger Mann mit dichtem Haar, sie eine vom Alter gezeichnete Frau, die weitgehend von ihrem Mann verdeckt wird. Der Tradition nach mussten die Loreto-Pilger barfuß kommen und sowohl die Stufen zur Kirche als auch die Schwelle des von ihr umschlossenen Hauses Mariens küssen - Marias Haus, das der Legende nach Engel aus dem Heiligen Land nach Loreto fortgetragen hatten.
Prunkvoll gekleidet und von Engeln getragen: Nichts von den klassischen Loreto-Stilmitteln - fliegende Engel, die ein Haus tragen, und goldene, mit Edelsteinen verzierte Kronen - ist auf diesem Bild der Madonna di Loreto zu finden. Caravaggio hat die Szene ganz realistisch durch seine Hell-Dunkel-Lichtregie arrangiert und so eine fromme, aber zugleich ungemein irdische Atmosphäre erzeugt. „Kein Weihrauchfass kann die Mischung aus Erd- und Schweißgeruch verdrängen, die von diesen Gestalten auszugehen scheint“, notierte der kunstbeflissene Deutsch-Römer Reinhard Raffelt zu dem Gemälde. Anders gesagt: Caravaggio hat die Begegnung in die soziale Atmosphäre seiner Zeit vergegenwärtigt. Inkulturiert, ließe sich im Rückgriff auf befreiungstheologische Konzepte späterer Jahrhunderte sagen.
Caravaggio bedient sich der zeitgenössischen weiblichen Schönheit, um Maria als eine reale Frau und Mutter zu zeigen, die zugleich im theologischen Sinn Mutter Gottes ist. „Aus der Schönheit der begrenzten Kreatur“, schreibt Hans Urs von Balthasar in seiner theologischen Ästhetik, „lässt Gott die seinige ahnen, die unbegrenzt ist.“ Und dieser Schönheit spürt Martin Walser in seiner Novelle nach: Verguckt hat er sich in „diesen kleinen hellen Fuß, diesen kleinen schwebenden schwerelosen Fuß“ von Maria. Sie spendet den Pilgern - und über sie auch den Betrachtern - Anteilnahme, Zugewandtheit wie ein Almosen, so kommt dem Schriftsteller Marias Präsenz auf dem Gemälde vor. Und unglaublich schön, vor allem schön, formuliert Walser: „Allein die Schönheit zählt. Das Jenseits muss schön sei. Sonst kannst du es gleich vergessen. Nur wenn es so schön erscheint wie in der Basilika, füllt es dich aus bis zur Ewigkeit.“
Die snobistische, adelig-klerikale Welt um 1600 hatte dafür keinen Blick. Sie fühlte sich provoziert durch ein scheinbar proletarisch-sinnenfrohes Bild, das nicht der üblichen Ansicht entsprach. Maria mit dem Kind aus dem Heiligen Land nach Rom versetzt: Aus einer entrückten, idealisierten Gottesmutter wird buchstäblich eine reizvolle Frau, die einem im Rom des 17. Jahrhunderts - und nicht nur damals - oft auf den Straßen begegnen konnte. Ja wenn es das denn geben könnte: einmal in all den Plackereien und Aussichtslosigkeiten des diesseitigen Lebens so angesehen werden mit dem teilnehmenden, zugewandten Blick dieser römischen Madonna, deren Schönheit hintergründig Unvergänglichkeit verheißt! Es ist nachvollziehbar, dass Menschen von diesem Bild nie genug bekommen können, vielleicht in der Hoffnung, dass aus dem Anschauen eine stille Zwiesprache wird: Unendliches anschauend und von Unendlichem angeschaut werden.
Rom für alle Sinne
In Rom gibt es nicht nur viel zu sehen, sondern auch zu riechen, zu schmecken - und zu hören. Auf den Plätzen im Centro Storico kommen die Sinne fast vierundzwanzig Stunden auf ihre Kosten. Wer dem Pantheon den Rücken zudreht und für einen Moment die Augen schließt, der riecht es: das Aroma der Königin des Kaffees, den das Kaffeehaus Tazza d’Oro ein paar Schritte vom Pantheon entfernt unter diesem Namen seit Jahrzehnten verkauft. Lange Schlangen deuten an, dass hier einer der besten Kaffees in Rom angeboten wird.
Rom ist voller Musik, die Stadt hat sie angereichert und von der liturgischen Funktion emanzipiert. War die Cappella Sistina bereits im 6. Jahrhundert von Papst Gregor I. gegründet worden, entstand 1585 die Accademia Nazionale di Santa Cecilia auf Anstoß von Sixtus V. Sie entwickelte sich von einer örtlichen Musikervereinigung zu einem international berühmten Musikkonservatorium mit Chor und Symphonieorchester. Klangvolle Namen hat sie hervorgebracht, darunter Cherubini, Donizetti, Rossini, Paganini; aber auch Liszt und Mendelssohn Bartholdy haben an der Accademia Nazionale ihre Kunst studiert. Aus der Gegenwart reihen sich berühmte Filmkomponisten ein wie Ennio Morricone („Spiel mir das Lied vom Tod“) und Nino Rota („Der Pate“) ein oder die berühmte Mezzosopranistin Cecilia Bartoli.
Und auch das nahm in Rom seinen Lauf: Der Kreis um den heiligen Filippo Neri führte im 17. Jahrhundert biblische Berichte im „Oratorio“, dem Betsaal neben der Kirche, in Konzertform auf. Die biblischen Berichte sollten vergegenwärtigt werden und die Seelen anrühren. Die Gattung des Oratoriums, eine eindringliche Meditation über den Weg des Heils, war erfunden. Goethe widmete dem ansteckend fröhlichen Gottesmann in seiner „Italienischen Reise“ ein eigenes Kapitel: Bei Neri vereinige und vertrage sich „das Heilige mit dem Weltlichen, das Tugendsame mit dem Alltäglichen“. In der Kirche Santa Maria in Vallicella - mit dem Oratorium nebenan - hat der beliebte römische Heilige seine letzte Ruhestätte gefunden.
Die Via del Portico d’Ottavia mit ihren vielen Läden, Bars und Trattorien ist eine der schönsten und malerischsten Straßen in Rom. Reste eines antiken Portikus bilden die Vorhalle der kleinen Kirche Sant’Angelo in Pescheria. Direkt neben der Fischerkirche liegen die Ruinen des Marcello-Theaters.
Wer in Richtung Tiber schaut, dem fällt sofort die Kuppel der Großen Synagoge von Rom auf, die seit 1904 den Platz zentriert. Wir sind im ehemaligen Getto der jüdischen Gemeinde in Rom angelangt. Bei Sant’Angelo stoßen die antike, christliche und jüdische Kultur aufeinander. Sant’Angelo ist auch „ein Zeuge jahrhundertelanger christlicher Erpressungsversuche gegenüber Juden“, so die Schweizer Romanistin Alice Vollenweider. Durch ein päpstliches Edikt von 1584 waren Juden gezwungen, ausgerechnet an einem Samstagnachmittag den Bekehrungspredigten von Mönchen zuzuhören. Dazu wurde das Tor zum „Dorf der Juden“ - wie Römer das Getto nannten - geöffnet, so dass die Bewohner zu der nahen Kirche gehen konnten. Ein Kirchenbesuch, der sie daran erinnern sollte, dass sie einem untreuen Volk angehörten. Allerdings, fährt ein spätmittelalterlicher Chronist fort, ließen sich die Zuhörer durch diese und andere Verleumdungen nicht aus der Ruhe bringen. Mit Gleichmut saßen sie in den Bänken und warteten geduldig auf das unvermeidliche Amen. Die Prediger ahnten nicht, dass die Zuhörenden ihre Ohren mit Wachs zu verstopfen pflegten.
Das letzte, brutalste Kapitel der jüdischen Geschichte begann mit der Kapitulation Italiens am 8. September 1943 und der Besetzung Roms durch die deutsche Wehrmacht. Schon am 16. Oktober 1943 durchkämmte die SS das Getto rund um die Synagoge. Die Deportation römischer Juden begann, und über 2000 Juden der Gemeinde wurden ermordet.
Auf die Isola Tiberina, die Tiberinsel direkt gegenüber der Synagoge, führt die älteste erhaltene Brücke Roms, der 62 vor Christus errichtete Ponte Fabricio. Zeitweilig durfte die Insel mit dem Krankenhaus von den Juden der römischen Gemeinde mitgenutzt werden. Es war ein weiter Weg, bis die katholische Kirche in ihrem Verhältnis zum Judentum zur Besinnung kam. Das Zweite Vatikanische Konzil nahm die infame Behauptung zurück, die seit Kirchenväter-Zeiten für Diskriminierung und Verfolgung herhalten musste: „die Juden“, das Volk der Gottesmörder. Flankiert wurde die Neubesinnung von großen Gesten großer Päpste: Johannes XXIII. bat als erster in einem Gebet um Vergebung für das von Christen begangene Unrecht. Johannes Paul II. setzte am 13. April 1986 in Rom ein Zeichen, als erster Papst betrat er die Große Synagoge in Rom und erklärte: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ,Äußerliches‘, sondern gehört in gewisser Weise zum ‚Inneren‘ unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.“
Ort des Kriegsverbrechens
Für die meisten Rompilger ist ein Besuch der frühchristlichen Katakomben im Süden vor der Stadt von großem spirituellem Wert. An der Via Ardeatina und der nahen Via Appia zeigt sich eine mit Pinien gesäumte, bühnenreife Landschaft, die an Hollywood und seine bombastischen Filme über die ersten Christen erinnert. Ausgerechnet hier, nur einen Steinwurf weit von den Katakomben Domitilla und San Callisto, liegt mit dem Mausoleum Fosse Ardeatine (Ardeatinische Höhlen) eine römische Katakombe des 20. Jahrhunderts. Neben den Massakern von Marzabotto (Bologna) und Sant’Anna di Stazzema (Toskana) ist das der Ort des größten Kriegsverbrechens auf Befehl der deutschen Wehrmacht auf italienischem Boden.
Die über achtmonatige Schreckensherrschaft der Nazis in Rom hatte nichts an Grausamkeiten ausgelassen. Hunger, Terror und standrechtliche Erschießungen von Zivilisten. Rom, erinnert sich die Schriftstellerin Elsa Morante, nahm zu dieser Zeit „das Aussehen gewisser indischer Metropolen an, wo nur die Aasgeier ihr Futter bekommen“.
In der Via Rasella nahe der Piazza Barberini sind die Fassaden der Häuser noch mit Einschusslöchern übersät. In dieser Straße begann die Vorgeschichte des Massakers in den Ardeatinischen Höhlen: Am 23. März 1944 explodierten in der Straße eine Bombe und eine Mörsergranate italienischer Partisanen, die 33 SS-Soldaten eines Südtiroler Polizeiregiments und zwei italienische Zivilisten töteten.
Das Attentat löste eine bestialische Racheaktion aus. SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler ließ in den Tuffsteinhöhlen eines ehemaligen Steinbruchs (Fosse Ardeatine) am 24. März 1944 für jeden Getöteten zehn römische Zivilisten durch Genickschuss töten, insgesamt 335 Tote, darunter 75 jüdische Geiseln, die alle mit dem Attentat nichts zu tun hatten.
Der an sich malerische Anblick steht in einem brutalen Gegensatz zur Erinnerung an diesem Ort. Eine monumentale Grabplatte aus meterdickem Beton, die auf Pfeilern ruht und nur einen schmal umlaufenden, fensterlosen Lichtschlitz freilässt, bildet die Decke des Mausoleums. Diese letzte Ruhestätte hat etwas Gewaltiges, Erdrückendes. Eine beklemmende Atmosphäre der 335 mit Blumen geschmückten Grabstellen. Benedikt XVI. hatte vor sechs Jahren diese Gedenkstätte besucht und einen Korb Rosen niedergelegt. Nur die göttliche Barmherzigkeit, sagte er damals, könne „die Leere, die von den Menschen aufgerissenen Abgründe erfüllen, wenn sie - getrieben von blinder Gewalt - ihre Würde als Kinder Gottes und Geschwister untereinander verleugnen“.
Wer in Rom vor der Abreise steht, sollte wenigstens einmal früh am Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen in die Stadt gehen - durch die engen Gassen ins Centro Storico, die zu dieser Zeit noch nicht von Menschen, Mopeds oder dem kleinen dreirädrigen Transporter, der Ape (Biene), verstopft sind. Wer sich dann der Piazza Navona nähert, hört das Wasserrauschen des Brunnens, und wer um die Häuserecke auf die Piazza biegt, spürt den feinen Sprühnebel der Wassertropfen, die einem von den Brunnen her ins Gesicht wehen. Bei der durch den Meereswind sauberen, fast kühlen Luft ist das eine Erfrischung, die besser wirkt als jeder Espresso.
Und was bleibt vom schillernden Weltknotenpunkt Rom? Ausdrücklich ist Theodor Fontane mit seiner unterkühlten Bilanz zu widersprechen. Er schrieb 1874 zu Beginn seines Aufenthalts aus der Ewigen Stadt, drei Monate später würde er von Rom „mit demselben Gefühle scheiden wie in diesem Augenblick“ - Rom als Bildungsanstrengung, als eine Stadt, in der man nüchtern und ohne Eros den Baedeker abarbeitet. Rom, das ist für Fontane kein Quell der Inspiration mehr, keine Adresse für Literatur oder Kunst überhaupt, wie der Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer urteilt. Ihm genügen wohl die Sonn- und Feiertage in der Mark Brandenburg.
Selbstverständlich bleibt stets vieles ungesehen und unerlebt zurück: Santa Sabina und San Clemente mit seinem Mithras-Heiligtum beispielsweise, San Bartolomeo auf der Tiberinsel und Trastevere, die malerische Trappistenabtei Tre Fontane in einem Eukalyptuswäldchen. Vieles türmt sich wie die Amphorenscherben aus der Kaiserzeit zum Monte Testaccio am Tiberhafen auf - wie Memo-Zettel zur Erinnerung vor dem nächsten Besuch. Anderes, das Getto und die Fosse Ardeatine, hat sich ins Gedächtnis gebrannt. Eine neue Anschauung von Vergangenheit mit ihrer oft drückenden Fortdauer. Neue „Gegenwartsgeschichten“ nicht nur aus Marmor, Tuff und Ziegeln. Hoffentlich haben wir - frei nach Ingeborg Bachmann - etwas besser gelernt, in all dem auch unsere Sinne zu gebrauchen.