Jesus selbst hat viel gebetet. Er war auch ein Lehrer des Gebetes. Das Vaterunser ist das beste Beispiel. Jesus hat viel gebetet, weil er, als Gottes Sohn, ein Mensch war, der die Verbindung mit Gott gesucht hat. Er war ein Jude, der nicht nur zum Tempel gepilgert ist, sondern sich auch in die Einsamkeit zurückgezogen hat. Er war ein Lehrer, der seinen Schülerinnen und Schülern an seinem eigenen Wissen, an seinen eigenen Erfahrungen, an seinen eigenen Eingebungen Anteil geben wollte. Jesus hat seine Jünger, Frauen wie Männer, zu beten gelehrt, damit sie ihrerseits ein Ohr für Gott haben, dessen Wort sie hören sollen, und damit sie eine Stimme für Gott abgeben, in der sie ihre Hoffnungen und Befürchtungen, ihre Freude und Sorge ausdrücken können.
Das Vaterunser ist das Gebet, das Jesus, dem Matthäus- und Lukasevangelium zufolge, selbst zu beten gelehrt hat (Mt 6,9-13; Lk 11,1-4). Matthäus hat eine längere, Lukas hat eine kürzere Version überliefert. In diesem Gebet kommt die ganze Spannkraft biblischen Glaubens zur Sprache: das Vertrauen auf Gott, den „Vater“, das Wissen um die Heiligkeit seines Namens, die Hoffnung auf das Kommen seines Reiches - bei Matthäus noch der Herzenswunsch, Gottes Wille möge geschehen „wie im Himmel, so auf Erden“ -, aber auch das alltägliche Leben derer, die das Vaterunser beten. Ihre Sorge um das Brot, das sie täglich nötig haben, wird vor Gott getragen, ihre Schuld, die Gott vergeben möge, bei Matthäus ihre Hoffnung auf Erlösung, aber in beiden Versionen auch ihr Wissen, in Versuchung geführt zu werden und nur von Gott gerettet werden zu können.
Was Jesus zu beten gelehrt hat
Gerade diese letztgenannte Bitte löst die meisten Fragen aus. Führt Gott etwa in Versuchung? Im Jakobusbrief steht: „Niemand, der in Versuchung gerät, sage: Ich werde von Gott versucht; denn Gott kann nicht vom Bösen versucht werden und führt auch niemanden in Versuchung“ (Jak 1,13). Ist dieses Wort ein Widerspruch zum Vaterunser? Oder ein Ausdruck der Glaubensüberzeugung, dass die Bitte erhört wird? Oder ein Hinweis, dass mit ihr etwas nicht stimmt?
Die Debatte, die über das Vaterunser geführt wird, legt den Finger auf die Wunde. Es lohnt sich, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Im französischen Sprachraum hat man die früher arg martialische Version „Unterwerfe uns nicht der Versuchung“ (Ne nous soumets pas à la tentation) geändert in: „Lass uns nicht in Versuchung geraten“ (Et ne nous laisse pas entrer en tentation). So erläutert auch der „Katechismus der Katholischen Kirche“ von 1993 die Bitte (KKK 2846). Ist nicht auch im Deutschen eine Revision fällig?
Der Sinn des griechischen Textes bei Matthäus und Lukas ist allerdings unzweideutig. Das Verb heißt auf Deutsch: hineintragen, hineinbringen. Die Bitte gibt eine klare Richtung an; zweimal steht im Griechischen eis, auf Deutsch: zu, hin, hinein. Es folgt der Akkusativ; er bezeichnet nicht einen Ort, an dem etwas passiert, sondern einen Ort, zu dem ein Weg hinführt. Dieser Ort ist die Versuchung. Sie ist die Situation, in die Gott, an den die Bitte sich richtet, nie und nimmer einen Menschen bringen möge.
Manche versuchen, mit Verweis auf die aramäische Muttersprache Jesu das Griechische als Fehlübersetzung zu disqualifizieren. Aber das ist ein Fehlschluss. Tatsächlich ist es im Aramäischen möglich, dass nicht, wie im Griechischen, von einem aktiven Handeln Gottes die Rede gewesen ist, das Gott bitte unterlassen möge, sondern von einem Zulassen, zu dem es bitte nicht kommen solle. Dann würde Gott gebeten, Vorsorge zu treffen, dass niemand in Versuchung gerät, so wie jetzt in der französischen Neufassung. Der Kontext spricht aber für die Treffsicherheit der griechischen Version: Die Vergebung der Sünden und die Erlösung vom Bösen lässt Gott nicht nur zu, sondern wirkt sie aktiv. Wenn das Neue Testament aus dem Griechischen ins Aramäische übersetzt wird, entsteht genau derselbe Effekt wie bei der Übersetzung in eine moderne Sprache: Es gibt keine eindeutige Übertragung; es gibt immer mehrere Möglichkeiten. Man kann nicht eine auswählen und dann die Übersetzung als falsch beurteilen, von der man aber doch ausgegangen ist. Bei Matthäus und bei Lukas steht exakt dieselbe Wendung; sie geht auf die Logienquelle zurück, die älteste Sammlung von Jesusworten. Auch das Aramäische wird so gedacht worden sein. Das macht das Gebet nicht leichter.
Die Versuchung, von der Jesus sprechen lässt, ist nicht jene zarte, bei der es ums Naschen geht. Zwar ist seit dem 19. Jahrhundert die Bitte massiv moralisiert worden. Insbesondere wenn man nicht, wie im Gebetstext, von der Versuchung im Singular, sondern, wie im „Grünen“ Katechismus der Bistümer Deutschlands (1959), von „Versuchungen“ im Plural spricht (Seite 133), stellen sich sofort die Beichtspiegel ein, die alle möglichen moralischen Gefahren aufzählen, vor denen man sich hüten muss, insbesondere hinsichtlich des sechsten Gebotes. Das Vaterunser zielt aber tiefer. Es spricht nur an, was elementar ist.
Manche denken, dass nur jene katastrophalen Turbulenzen im Blick stehen, die den apokalyptischen Traditionen des Neuen wie des Alten Testaments zufolge das Ende aller Zeiten heraufziehen lassen werden (Mk 13; Mt 24; Lk 17,22-27; 21,5-36). Aber dann würde die Vaterunserbitte „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ auf den Wunsch hinauslaufen, vor der Wiederkunft des Menschensohnes sterben zu wollen - eine groteske Vorstellung.
Eine Spur, die Bitte besser zu verstehen, führt nach Getsemani: „Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt“, sagt Jesus den Jüngern, deren „Geist willig“, aber deren „Fleisch schwach“ ist (Mk 14,38; vgl. Mt 26,41; Lk 22,40). Die Versuchung ist gleichbedeutend mit der Verleugnung Jesu, mit der Absage an Gottes Reich, wie er es verkündet, mit dem Verrat einer Freundschaft, die dem Leben Sinn gibt. All das wird sich kurz darauf ereignen - und doch nicht zum Untergang der Jünger führen, weil Jesus ihnen die Treue hält. Auch im Vaterunser hat das Wort Gewicht. Es bezeichnet eine existenzielle Herausforderung, in der ein ganzes Leben zu scheitern droht: Die tödliche Gefahr steht vor Augen, den Glauben, die Liebe und die Hoffnung zu verraten und so zu verlieren. Das geschieht, wenn nicht Gottes Name, sondern der aller möglichen Götzen geheiligt wird und wenn nicht Gottes, sondern das eigene Reich kommen soll. Es geschieht auch, wenn das tägliche Brot nicht empfangen, sondern gestohlen und wenn Schuld nicht vergeben, sondern aufgetürmt wird.
Was Jesus selbst erfahren hat
Aber gerade wenn es bei der Versuchungsbitte um Leben und Tod geht: Ist Gott dann ein Monster, das um Gnade angebettelt werden soll? Das würde allem widersprechen, was von Jesus überliefert wird. Er hat nach Lukas das Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt (Lk 15,11-32), das ein Gleichnis von der Liebe des Vaters zu seinem schwierigen Kind ist. Dieses Gleichnis ist die beste Auslegung für die Gebetsanrede „Vater“, die man sich vor jeder einzelnen Bitte neu vergegenwärtigen kann. Bei Matthäus steht das Vaterunser zwischen der Seligpreisung der Armen (Mt 5,3-12) und der Aufmunterung, sich nicht von der Sorge ums alltägliche Leben auffressen zu lassen: „Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all das braucht“ (Mt 6,32). Es kann nicht sein, dass dieses Gottvertrauen durch das Vaterunser zerstört werden soll. Es muss im Gegenteil durch dieses Gebet zum Ausdruck kommen können. Wie aber soll das möglich sein, wenn es wirklich heißen muss: „Führe uns nicht in Versuchung“?
Die Bitte ist zuerst ein großer Vertrauensbeweis. Die Jünger, die mit Jesu Worten beten, wissen, dass sie selbst nicht die Kraft haben, der Versuchung zum Bösen zu widerstehen - so wenig wie sie die Kraft haben, sich selbst vom Bösen zu erlösen. Gott allein kann sie vor dem Scheitern bewahren. Er allein kann die Schulden erlassen, die sie in einem Leben angehäuft haben, das sie auf Kosten anderer geführt haben. Denn Gott allein ist heilig; er allein kann sein Reich nahebringen; er allein kann seinen Willen geschehen lassen „wie im Himmel, so auf Erden“. Er allein kann es - aber er will es nicht ohne die Menschen, denen er das Leben und denen Jesus Worte zum Beten, Worte zum Leben geschenkt hat. Die Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden, ist die Bitte, dieses Leben im Glauben anzunehmen, in der Liebe anzufangen und in der Hoffnung Gott anzuvertrauen. Jesus hat das Vaterunser vor der Getsemani-Stunde gelehrt. Nach der Passion, im Licht der Auferstehung, hat es mehr denn je Bedeutung.
Aber sollte Jesus sich vorgestellt haben, Gott könne einen Menschen in Versuchung führen, auf dass er scheitere? Das wäre absurd, wie der Jakobusbrief, der tief im Judenchristentum wurzelt, richtig erkannt hat. Ebenso absurd wäre freilich die Vorstellung, dass es die Versuchung, von Gott abzufallen, nicht gäbe. Jesus selbst hat sie am eigenen Leibe gespürt. „Wir haben einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist“, heißt es im Hebräerbrief, der fortsetzt: „aber nicht gesündigt hat“ (Hebr 4,15). „Ihr seid es, die mit mir geblieben sind in meinen Versuchungen“, sagt Jesus nach dem Lukasevangelium den Zwölfen, mit denen zusammen er das letzte Abendmahl gefeiert hat (Lk 22,28). Die Einheitsübersetzung schreibt hier: „Prüfungen“. Sie erinnert an eine abgründige Erfahrung der Gerechten Israels. Im Alten Testament ist immer wieder davon die Rede, dass Gott seine Frommen auf die Probe stellt. Die Tests können so hart sein wie bei Hiob, der alles verliert: sein Geld, seine Familie, sein Ansehen, seinen Glauben. Aber diese Prüfungen sind kein Examen, das man vor Gott ablegen muss, um eine möglichst gute Note, mindestens aber ein Ausreichend zu erzielen, weil man sonst durchgefallen wäre. Sie sind vielmehr Exerzitien: harte Trainingseinheiten. Sie stärken dadurch, dass sie Herausforderungen stellen. Sie geben Gelegenheit zur Bewährung. Bei Hiob führt Gott gegen den Teufel den Nachweis, dass Menschen nicht nur aus Eigennutz Gott fürchten und Gerechtigkeit üben. „Erprobe mich, Herr, und durchforsche mich, prüfe mich auf Herz und Nieren“ (Ps 26,2) - so betet kein Selbstgerechter, sondern ein unschuldig Verfolgter, der darauf vertraut, mit Gottes Hilfe die Krise zu meistern.
Wozu Jesus zu bitten ermuntert
Nach Matthäus, Markus und Lukas hat der Heilige Geist Jesus vor Beginn seines öffentlichen Wirkens in die Wüste geführt, wo er „vom Teufel in Versuchung geführt“ wurde (Mk 1,12-13; Mt 4,1-2; Lk 4,1-2). Gewiss ist die historische Substanz der theologisch stark geformten Erzählungen unsicher. Dass Jesus aber teuflische Attacken gekannt hat, die sein Gottesverhältnis auf die Probe gestellt haben, lässt sich nicht leugnen. Die Evangelien erzählen nicht von einzelnen Prüfungen, die Jesus abgelegt hätte, um sich für seine Sendung zu qualifizieren. Sie erzählen, dass Jesus von Gott zu nichts gezwungen wird, sondern frei seinen Weg geht - den er jederzeit hätte verlassen können. Aber er widersteht der Versuchung und schafft Freiraum für Gottes Reich auf Erden; er weist Satan mit der Tora (Dtn 6,16) in die Schranken: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ (Mt 4,7; Lk 4,12). Als Messias hat Jesus die Kraft, der Versuchung zu widerstehen - für diejenigen, die diese Kraft nicht haben.
Die Versuchungen Jesu sind die Widrigkeiten auf dem Weg seiner Sendung, verursacht durch den Widerstand von Menschen, die ihrerseits glauben, Gott einen Dienst zu leisten, wenn sie Jesus widersprechen (vgl. Joh 16,2), und von der Macht des Bösen, für das es keine vernünftige Erklärung gibt und das im Neuen Testament deshalb auf den Teufel zurückgeführt wird. Jesus hat der Versuchung widerstanden, indem er nicht geflohen, sondern den Leidensweg gegangen ist. Der Hebräerbrief formuliert die menschliche Pointe des Evangeliums: „Da er, selbst in Versuchung geführt, gelitten hat, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt werden“ (Hebr 2,18). Das Vaterunser ist eine solche Hilfe - nicht die einzige, aber eine besonders gute.
Die Jünger sind auf Hilfe angewiesen. Sie haben die Kraft Jesu nicht. Sie werden aber wie er mit Anfeindungen zu kämpfen haben, die ihnen zur Anfechtung werden - mehr von innen als von außen. Sie müssen bitten, dass Gott sie rettet. Deshalb haben alle recht, die sagen, das Vaterunser umschließe die Hoffnung, von Gott „vor“ der Versuchung bewahrt zu werden. Das will die neue französische Version zum Ausdruck bringen. Falsch ist sie nicht - aber eine Übersetzung ist sie auch nicht. Sie verharmlost das Vaterunser. Sie zieht dem Gebet einen Stachel. Sie schafft auch ein neues Problem: Wer ist denn für die Versuchung und das in ihr lauernde Böse verantwortlich, wenn Gott nur vor ihm bewahren soll? Soll es etwa der Teufel sein, der dann eine Art Gegen-Gott wäre - für alles Dunkle verantwortlich, während Gott sich nur um das Licht kümmerte? Oder sollen es die gesellschaftlichen Verhältnisse sein? Muss am Ende gar das sündhafte, heillose, vielleicht krankhafte Ego als Sündenbock herhalten? All diese Vorstellungen laufen auf einen Dualismus hinaus, der eines nicht wahrhaben will: dass Gott, der Erlöser, nicht nur vor der Versuchung bewahrt, sondern auch in ihr zu finden ist. Wäre es anders, könnte er nicht im Zeichen des Kreuzes gefunden werden. Er wäre dann nur ein Schönwettergott.
Ein Versuch, die schwierige Richtungsangabe des Gebetes: „Vater, … führe uns nicht in Versuchung“, zu deuten, führt tief hinein in die Spiritualität der Bitten. Sie wollen Gott nicht mit Eigeninteressen zur Last fallen, die nur auf Kosten anderer befriedigt werden könnten. Sie wollen Gott überhaupt nicht den eigenen Willen auferlegen. Sie wollen vielmehr den Willen Gottes erkennen und so weit erfüllen, wie es Menschen möglich ist. Deshalb ist jede Bitte, die im Glauben an Gott gerichtet wird, zuerst ein Ausdruck des Lobes, dass er sie zu hören und zu erfüllen vermag, und des Dankes, dass er die Menschen zu bitten ermuntert und dass er erfüllt, was seinem Willen entspricht.
Die Bitten des Vaterunsers sprechen nicht an, was Gott fremd ist, sondern hören sich in das Wort ein, das er spricht. Er allein kann seinen Namen heiligen - und tut es; deshalb wird er darum gebeten. Er allein kann seine Herrschaft und seinen Willen Wirklichkeit werden lassen - und tut es; deshalb die Bitte. Sie ist nicht überflüssig, sondern ist ein Ausdruck des Glaubens, der sich dem Geist, der Energie, der Kraft Gottes öffnen will, um selbst Gott die Ehre zu geben, seinem Reich anzugehören und seinen Willen zu tun. Gott ist kein Diktator, der alles immer schon besser weiß, sondern ein Freund der Menschen, der mit ihnen im Gespräch steht - so sieht ihn die Bibel, so verkündet ihn Jesus, der für den christlichen Glauben Gottes Wort in Person ist.
Wie Jesus von Gott redet
Bei den Wir-Bitten ist es nicht anders. Gott schenkt allen Menschen das tägliche Brot, das sie zum Leben brauchen - und wenn Menschen hungern und verhungern, ist es zu einfach, Gott die Schuld in die Schuhe zu schieben; zuerst einmal muss von Welternährungsprogrammen und Palliativmedizin und zuletzt muss auch einmal vom Brot des ewigen Lebens gesprochen werden - nicht nur von der Kommunion, sondern vom Himmelsbrot im Reich Gottes, auf dessen Geschmack die Hungernden bereits auf Erden kommen sollen. Gott vergibt die Schulden - und wenn doch Menschen unter der Gewalt und Lieblosigkeit anderer leiden oder so stark verwundet sind, dass sie nicht die Kraft zur Vergebung aufbringen, hat Gott nicht die Schuld, sondern hoffentlich die Größe, dort Frieden zu stiften, wo unter Menschen nur Krieg herrscht. Gott ist der Erlöser - und wenn die Welt davon so wenig erkennen lässt, ist es für Jesus nicht ein Indiz, dass Gott zu wenig zu ihrer Rettung getan hätte, sondern dass Menschen einander das Leben zur Hölle machen.
All das, die Erschaffung der Welt an jedem neuen Tag, die Vergebung der Schuld in jedem Moment der Reue und Bitte, die Erlösung vom Bösen für alle Zeit und Ewigkeit, ist Gott zutiefst eigen - wenn er so ist, wie Jesus ihn mit der Bibel Israels verkündet. Aber es ist alles andere als selbstverständlich. Das genau bringt die Bitte zum Ausdruck: vertrauensvoll und dankbar, bereit zu empfangen und zu gewähren, was Gott schenkt.
In der Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden, ist es nicht anders. So wenig die anderen Bitten unterstellen, Gott würde das Brot, das Menschen brauchen, verweigern, die Schuld, die sie begehen, aufhäufen und das Böse, von dem sie bedrängt werden, hinnehmen, so wenig unterstellt diese Bitte, dass Gott Menschen kaputtmachen würde, indem er sie auf eine Zerreißprobe stellte, in der ihr Leben zerstört werden müsste. Die Jünger beten vielmehr, weil sie wissen, dass Gott sie nicht in Versuchung führen wird - denn sie würden eine solche Versuchung nicht bestehen. So beten sie auch, um auf den Hunger auf das notwendige Brot zu kommen, auf die Spur ihrer eigenen Vergebungsbereitschaft zu treffen, in der sie Gott ehrlicherweise nur ihrerseits um Vergebung bitten dürfen, und auf die Seite jenes Guten zu gelangen, das die Bosheit besiegt.
Was Jesus nicht erklärt
Der Jakobusbrief beleuchtet genau die Kehrseite des Vaterunsers. Gott mag seine Frommen prüfen; aber er prüft sie nicht über ihre Kraft - nicht ohne sie zu retten, und sei es durch den Tod hindurch. Die Frommen, die dieses Glaubenswissen haben, bringen es gerade dadurch zum Ausdruck, dass sie nicht etwas selbstgewiss behaupten, das Gott keineswegs im Sinn haben könne, sondern selbstbewusst bitten, Gott möge sie nie in eine Lage bringen, die sie nicht bestehen würden. Wenn es aber doch dazu kommt, wie bei den Jüngern in der Passion, bleibt Jesus an ihrer Seite - gerade mit dem Gott, an den sie ihre Bitte richten sollen.
Das Vaterunser will zum Beten animieren, zeigt, was Beten ist - und lässt viele Fragen offen. Es erklärt nicht, warum es das Böse in der Welt gibt und die Versuchung, warum es Ungerechtigkeit, Schuld und Not gibt. Es erklärt auch nicht, warum es den heiligen Gott gibt und warum er sein Reich kommen lässt. Es erklärt all dieses nicht, weil es für das Böse keine vernünftige Erklärung gibt, ist es doch purer Unverstand, reiner Unsinn, und weil Gottes Friede „alles Verstehen übersteigt“ (Phil 4,17), ist er doch ein Friede, wie die Welt ihn nicht geben kann (vgl. Joh 14,27).
Die Frage, wie sich Gottes Gerechtigkeit mit der Ungerechtigkeit dieser Welt verträgt, bleibt offen. In diesem offenen Raum verstummt das Beten aber nicht, sondern kommt zur Sprache, nach Paulus mit Worten, die der Heilige Geist eingibt (Röm 8,15; Gal 4,6). Jesus steht für diejenigen ein, die sich mit keiner Antwort auf die Theodizeefrage zufriedengeben wollen, auch mit der nicht, dass es Gott gar nicht geben könne. Das Vaterunser ist das Gebet derer, die angesichts von Hunger und Elend, Schuld und Not, Versuchung und Bosheit weder verzweifeln noch verstummen, sondern ihr Leben Gott anvertrauen wollen. Sie wissen um ihre Versuchungen, die sie bekämpfen können, und um die Versuchung, in der sie nicht bestehen würden; aber sie setzen darauf, dass Gottes Verheißung größer ist als ihr kleiner Glaube.
Gewiss ist die Sprache der Kirche nicht sklavisch an den Wortlaut der Bibel gebunden. Niemand darf zu einem bestimmten Gebet gezwungen werden. Aber wer im Gottesdienst hört: „Lasst uns beten, wie der Herr uns zu beten gelehrt hat“, sollte zu sprechen bereit sein: „Führe uns nicht in Versuchung.“
Ausgewählte Beiträge zum Thema haben wir für Sie in unserem Sonderdruck zum Vaterunser zusammengestellt.