Katholiken in französischsprachigen Regionen beten künftig das Vaterunser in einer veränderten Fassung. Wo es früher hieß „Und führe uns nicht in Versuchung“, steht nun: „Und lass uns nicht in Versuchung geraten“ (vgl. CIG Nr. 24). Die neue Formulierung ist näher am biblischen Urtext. Aber ist sie auch theologisch schlüssig? Seit langem wird hinterfragt, dass Gott, der im Apostolischen Glaubensbekenntnis als „Allmächtiger“ bekannt wird, die Menschen selber in Versuchung führt. Dies sei, so der Einwand, mit Gottes Fürsorge und Liebe unvereinbar. Manche Christen schweigen deshalb lieber an dieser Stelle beim gemeinsamen Gebet im Gottesdienst. In diesem Schweigeprotest tritt eine erschütternde Problematik zutage, die den Gottesglauben im Kern berührt: Wenn die Schöpfung, wie die Bibel sagt, in all ihren Formen wirklich „gut“ ist, warum bitten wir Gott, dass er die Versuchung von uns fernhält, was ja dann eigentlich - auch hinsichtlich der neuen Formulierung - unnötig wäre? Als ob ein göttlicher Weltenregisseur plötzlich die Bühne betreten müsste, um alles aufzuhalten, was dem Menschen schadet. Dabei besteht die Grunderfahrung der Moderne doch gerade darin, dass Gott nicht ins Weltgeschehen eingreift. Die Schöpfung aber ist konstituiert durch beständigen Verfall, durch Tod und Triebhaftigkeit. Mehr noch: In der Sexualität des Menschen spielen Versuchung sowie das Spiel mit der Lust eine zentrale Rolle bei der Fortpflanzung und Erhaltung der Gattung, also als Erfüllung des biblischen Schöpfungsauftrags. Davor soll Gott bewahren?
Die theologisch nicht zu klärende Frage ist, wie Gott allmächtig sein kann angesichts der offensichtlich erkennbaren Realität des Bösen und Versucherischen - des Teufels? Die christliche Tradition hat im Rückgriff auf die antike Philosophie das Böse als Mangel des Guten definiert, um Gott als das reine Gute zu retten. Dagegen wurde schon biblisch früh einem Gottesbild Raum geschaffen, das integral eine „dunkle Seite“ Gottes kennt. Zur Entlastung Gottes wurde später in einem Dualismus das „Böse“ Gottes als der Böse personifiziert und mythologisch von Gott ausgesondert, durch den „Sturz“ eines bei Gott in Ungnade gefallenen Engels („Luzifer“) oder als „Teufel“. Unter manchen Kirchenleuten feiert diese volkstheologische Sicht wieder Urständ. Andere behaupten, der „Teufel“ sei bloß ein symbolischer Ausdruck für das schlechthin Böse. Ist Gott jedoch einer und als Einziger allmächtig, wie die jüdisch-christliche Tradition es sieht, kann es logischerweise keinen Widersacher geben. Dann aber wäre die „Versuchung“ doch wieder durch den Schöpfungsakt Gottes grundgelegt, Gott selber wäre also auch „Versucher“. Dies ist ein unlösbares Paradox, das selbst ein Vaterunser nicht entwirren kann.