Die Virologen und Epidemiologen, die schon im Frühjahr voraussagten, dass es eine zweite Welle der Corona-Seuche geben werde, haben Recht behalten. Nun diskutieren verschiedenste Fachleute und die Politik, ob rechtzeitige strengere Einschränkungen helfen oder in manchen Bevölkerungsteilen eher eine protestartige Abwehrhaltung herausfordern und so das Gegenteil bewirken. Ein Dilemma.
Neben dem Krankheitsproblem gibt es das Individualismusproblem. Die Einzelnen haben sich in einer immer freiheitlicheren Gesellschaft daran gewöhnt, weitgehend tun und lassen zu können, was sie wollen. „Freie Fahrt für freie Bürger.“ Der Sinn fürs Gemeinschaftliche erstreckt sich allenfalls noch auf die privaten Freundes- und Bekannten-Netzwerke. Diese Art Provinzialismus hat das „größere Ganze“, das Kollektiv, nun die Gesamtgesundheit eines Volkes kaum mehr im Blick. Ein neuer Generationenkonflikt bahnt sich an, weil die Virus-Krankheit bei Jüngeren im Allgemeinen glimpflicher verläuft als bei Älteren. Warum sollen die weniger gefährdeten Jahrgänge in ihrem Verhalten, ihrem Lebensstil Rücksicht nehmen, ihre Selbstverwirklichung, die sich in exzessivem Freizeitverhalten ausdrückt, einschränken? Im einst vielgelobten Sozialstaat Schweden meinte man schon bei der ersten Welle, der Freiheit der Freien freien Lauf lassen zu dürfen – mit dem schrecklichen Ergebnis, dass überdurchschnittlich viele Ältere und Alte sterben mussten.
Vor wenigen Jahrzehnten gab es um der Volksgesundheit willen hierzulande noch strenge Pflichten. Um die Pocken auszurotten, hatten sich alle den entsprechenden Impfungen zu fügen. Um die Tuberkulose zu überwinden, gab es Röntgen-Reihenuntersuchungen in der ganzen Breite, wozu entsprechend ausgerüstete Busse von Stadt zu Stadt unterwegs waren. Noch in den siebziger Jahren mussten sich Studenten in regelmäßigen Abständen die Lunge röntgen lassen, um sich zum nächsten Semester rückmelden zu können. Heute schreit man auf, dass ein bisschen Maskentragen, Eingrenzung des Reisens und Partymachens eine Zumutung sei. Ja, es gibt Zumutungen. Das ganze Leben ist eine Zumutung. Die – insbesondere auch christlichen – Zumutungen zugunsten des Gemeinwohls sind aber zumutbar, gerade um der Schwächeren willen. Es ist kein Verlust, sondern ein geistiger Gewinn, sich um der Nächsten willen ein bisschen in Selbstbeherrschung, Askese zu üben, anders zu leben, damit andere überleben. Aufklärung ist zumutbar. Notfalls muss ein Staat dafür strafbewehrte Maßnahmen ergreifen und durchsetzen. Dazu ist er da. Für alles gibt es eine Zeit – in der Hoffnung, dass die schwierige Zeit dank des wissenschaftlichen Fortschritts medizinischer und pharmakologischer Forschung irgendwann überwunden wird.