ErziehungGewaltfrei erziehen

In Pädagogik und Gesellschaft wächst das Bewusstsein, dass Gewalt gegen Kinder eine besonders schwere Demütigung bedeutet, die tiefe Spuren in der Seele hinterlässt.

Wie verletzlich Kinder sind, ist in der Debatte um sexuellen Missbrauch durch Geistliche und um die Anwendung der Prügelstrafe in Heimen, Internaten, Schulen deutlich geworden. Nach dem Aufruf, dass Missbrauchsopfer sich bei den Kirchen melden sollen, wurden zunehmend auch Fälle bekannt, in denen Erzieher mit Stockschlägen, Ohrfeigen und anderen körperlichen Züchtigungen ihren erzieherischen Auftrag weit überschritten und das in sie gesetzte Vertrauen bitter enttäuscht hatten. Doch müssen sexueller Kindesmissbrauch und die Anwendung physischer Gewalt klar voneinander unterschieden werden, auch wenn es fließende Übergänge gibt, etwa in Form sadistischer sexueller Gewalt. Sexueller Missbrauch war und ist gesellschaftlich geächtet, wurde in der Vergangenheit aber oft nicht verfolgt, sondern vertuscht, weil man den Ruf der Institution nicht schädigen oder die Familienehre wahren wollte. Darüber hinaus waren Schläge und Ohrfeigen bis in die siebziger Jahren hinein akzeptierte Erziehungs­"methoden". Mehr noch: Wenn ein Kind zu Hause erzählte, es sei vom Lehrer oder Priester geschlagen worden, konnte es ihm passieren, dass es noch zusätzliche Züchtigungen der Eltern bekam, "weil du es nicht anders verdient hast".

Seelenhaut, Haut des Gesichts

Es ist gut, dass die physische Gewaltanwendung in der Erziehung stärker öffentlich thematisiert wird. Denn sie stellt eine Demütigung dar, die zu einer Verletzung der Seele führen kann. Wir wissen heute, dass die Haut des Menschen Sonnenbrand-Erfahrungen speichert und „nicht vergisst". Auch die Seele speichert, was sie an Demütigungen und Angriffen auf die Integrität der Person erlebt hat. Aus diesem Wissen heraus entwickelt sich derzeit eine Traumapädagogik, die versucht, die verdrängten kindlichen Gewalt- und Bedrohungs­erfahrungen aufzugreifen, die seelischen Narben anzuschauen, um die Resilienz, die Widerstandskraft von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gegen Demütigung und Diskriminierung zu stärken. Für Ältere, die jenseits der Fünfzig sind, brauchen wir Orte, an denen sie ihre Erfahrungen mit der während ihrer Kindheit weit verbreiteten „schwarzen Pädagogik" aussprechen können. Die neulich gestorbene Kindheitsforscherin Alice Miller (1923-2010) hatte ebendiese „schwarze Pädagogik" untersucht, die darauf aus war, den Willen des Kindes zu brechen und es zum gehorsamen Untertan seiner Eltern zu machen. Vitale Kinder, die sich dieser Zwangserziehung zum gehorsamen Untertan verweigerten, standen in der Gefahr, in - auch kirchliche - „Heime für Schwer­erziehbare" verbannt zu werden.

Man muss nicht unbedingt so weit gehen wie Alice Miller, die in jedem Klaps ein Vergehen sah. Aber die aus Zorn und Ärger verabreichte schallende Ohrfeige ist eine Demütigung des wehrlosen Kindes. Es kommt nicht von ungefähr, dass Erwachsene, wenn sie gefragt werden, ob sie als Kind Ohrfeigen bekommen haben, nur noch vage Erinnerungen haben, obwohl sie oft und heftig ins Gesicht geschlagen wurden. Häufig liegen Verdrängungen und Abspaltungen vor. Man will sich die Menschen, welche die Schläge verpasst haben - etwa den Vater, die Mutter, den Opa, die Oma -, weiterhin als liebevolle Mitmenschen vorstellen können, trotz der Gewalt, die von ihnen ausging. Das Verdrängte und Abgespaltene wirkt aber in der Seele weiter. Traten solche Gewalt­erfahrungen häufig und massiv auf, können Depression, Sucht und auch eigenes gewalttätiges ­Verhalten aus solchen Verdrängungen erwachsen.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, auf den jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1905-1995) zu verweisen. Er überlebte als Einziger aus seiner Familie die Haft in NS-Konzentrationslagern und hat in seiner Philosophie des Anderen auch über die Verletzlichkeit des Gesichts geschrieben. Im Antlitz des Gegenübers, das mir immer fremd und geheimnisvoll bleibt, so Lévinas, spiegelt sich die Unendlichkeit. Sie hinterlässt eine Spur im Antlitz des ­Anderen. Das Antlitz Gottes wiederum spiegelt sich im Antlitz des Menschen. Es hat dadurch eine besondere Würde und Aura. Es leuchtet und strahlt und ruft zur Antwort, zur Verantwortung. Zugleich ist das Antlitz ungeschützt und erfordert Vorsicht.

Der Philosoph schreibt einmal: „Zunächst gibt es da die eigentliche Geradheit des Antlitzes, seine gerade, schutzlose Darbietung. Die Haut des Gesichts ist die, die am meisten nackt, am meisten entblößt bleibt ... Im Antlitz gibt es eine wesentliche Armut; der Beweis dafür liegt im Versuch, diese Armut zu maskieren, indem man ­Posen, eine bestimmte Haltung annimmt. Das Antlitz ist exponiert, bedroht, als würde es uns zu einem Akt der Gewalt einladen." Wenn ich dem Anderen in die Augen schaue, kann ich dessen verwundbares und verletzliches Gesicht nicht ignorieren. Wer dem Anderen wirklich ins Antlitz schaut, weiß, so Lévinas, dass er nicht töten kann. Das Antlitz des Anderen erinnert an die eigene Verantwortlichkeit. Von dem Augenblick an, in dem der Andere mich anschaut, bin ich für ihn verantwortlich. Im Schauen wird mir der Andere zum Du, aber er verbleibt mir trotz allem ein Fremder, ein Ille (lateinisch für „jener"), wie Lévinas sich ausdrückt. Das Antlitz bleibt geheimnisvoll. In ihm bleibt die Spur des Göttlichen erahnbar, des Gottes, der in der jüdischen Tradition sein Geheimnis wahrt und auf die Frage „Wer bist du?" rätselhaft antwortet: „Ich bin der Ich-bin."

In der Schule ist die Ohrfeige zwar mittlerweile tabu, doch gibt es andere Formen der Demütigung. Der Jesuit Klaus Mertes, der die öffentliche Diskussion durch die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs am Berliner Canisius-Kolleg in Gang brachte, sagte: Der Missbrauch eines Kindes beginnt da, wo ihm kein Respekt entgegengebracht wird, wo ihm vorgeschrieben wird, was es zu tun und zu lassen hat. Er sieht in der für die Kirche schmerzhaften Debatte eine Chance, wenn die geistliche und theologische Reflexion dessen, was geschehen ist, aufgegriffen wird: Was will Gott uns in dieser Situation sagen? Erwachsene stehen ständig in der Gefahr, Kinder für ihre eigenen Sehnsüchte nach Respekt, Anerkennung und Zuwendung zu missbrauchen. Wer selbst als Kind nicht respektiert wurde, meint als Erwachsener vielleicht, sich durch autoritäres Auftreten Respekt verschaffen und Kindern seinen Willen aufzwingen zu müssen. Wer einen liebenden Partner vermisst, der muss aufpassen, dass er nicht Kinder in diese sie überfordernde Rolle zwängt, eine Zu­wendung zu zeigen, die ihnen nicht entspricht. Im sexuellen Missbrauch findet dieser Zwang seinen schlimmsten Ausdruck. Wer Minderwertigkeitsgefühle hat, möchte möglicherweise durch seine Kinder glänzen und will aus ihnen Vorzeigekinder machen. Es kann auch sein, dass jemand sein Kind einzig aus Angst, es könnte in der Zukunft scheitern, überfordert.

Leistung und Störungen

Das Lernklima in Kindergärten, Kindertagesstätten und auch in der Grundschule hat sich in den letzten dreißig Jahren glücklicherweise stark gewandelt. Der respektvolle Umgang mit Kindern hat deutlich zu­genommen. Gleichzeitig sind Lehrerinnen und Lehrer in den großen Klassen zunehmend überfordert, wenn immer mehr Kinder Verhaltensstörungen aufweisen, ungezügelt aggressiv, unkonzentriert, hyperaktiv oder passiv sind und sich unsozial verhalten. Häufig haben diese Störungen ihre Ursache in überforderten Familien, in denen Eltern durch berufliche Belastungen kaum Zeit für die Kinder haben, durch Arbeitslosigkeit ihren Selbstwert verloren haben oder durch schmerzhafte Trennungs- und Scheidungsprozesse gehen. Lehrer sehen sich dann vor der Aufgabe, Erziehungs­aufgaben der Eltern stellvertretend wahr­nehmen zu müssen. Die weiterführenden Schulen sind darauf am wenigsten vorbereitet. Denn die Lehrer dort wurden zwar für die Wissensvermittlung in ihren Fächern ausgebildet, haben aber nicht gelernt, soziale Kompetenzen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen einzuüben. Die Schule als Lebensraum braucht ein differenziertes pädagogisches Angebot zur Wissensvermittlung, zum Erlernen praktischer Fähigkeiten und zum Erwerb persönlicher und sozialer Fähigkeiten.

Offene Ganztagsschulen erproben nun Modelle einer Kooperation von Schule und Jugendarbeit, bei der beide Seiten voneinander lernen und sich ergänzen. Lehrer werden geschult, soziale Kompetenzen mit den Schülern einzuüben. Sozialpädagogen nehmen gezielt einen Bildungsauftrag in nachmittäglichen Freizeitangeboten an der Schule wahr. Die meisten weiterführenden Schulen funktionieren aber nach wie vor hauptsächlich als ein Bildungssystem, das auf gezielte Auswahl und Leistungsorientierung ausgerichtet ist. Da kann es zu Situa­tio­nen kommen, in denen Kinder respektlos behandelt werden, weil die Struktur des Schulsystems so gelagert ist. Wie beispielsweise reagiert die Seele eines zehnjährigen Kindes, wenn es voller Zuversicht nach der Grundschule in eine weiterführende Schule gewechselt ist, sich auf die neuen Mitschüler und Lehrer freut und wenn es dann bei der ersten Klassenarbeit kommentarlos die Note Fünf, also Mangelhaft, im Heft findet? Eine unkommentierte Fünf ist respektlos, und diese Note kann seelisch genauso oder mitunter noch schlimmer wirken als eine Ohrfeige oder ein Schlag mit dem Stock.

Die Lehrer - mit den Eltern

Es soll nicht infrage gestellt werden, dass es sehr gute und einfühlsamee Lehrerinnen und Lehrer gibt, die mit der Notenvergabe anders umgehen. Aber die Strukturen der Schule ermöglichen eine Respektlosigkeit gegenüber Kindern, unter der auch viele Lehrer leiden. Warum, so fragt man sich, wird nicht grundsätzlich festgelegt, Kindern nach Klassenarbeiten eine Rückmeldung zu geben? Zum Beispiel so: Dies und das kannst du schon gut, hier fehlt es noch; das hast du noch nicht verstanden, da musst du kräftig üben. Der auf Eltern lastende gesellschaftliche Druck, etwas aus den Kindern „machen" zu sollen, weil nur die Starken und die Besten gute Ausbildungs- und Berufschancen haben, hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv erhöht. Eltern übertragen ihre Zukunftsangst auf ihre Kinder und setzen sie dann unter Leistungsdruck. Kinder müssen schon sehr früh gute Leistungen erbringen. Häufig wird wenig danach gefragt, ob die geforderten Leistungen dem Vermögen des Kinds entsprechen oder ob es überfordert ist.

Wie kann Respekt gegenüber Kindern eingeübt werden? Was sind Voraussetzungen für respektvolles und einfühlsames Verhalten gegenüber Kindern? Vier Aspekte sollen benannt werden: Zunächst geht es um die Änderung gesellschaftlicher Strukturen. So wie insbesondere in Nordrhein-Westfalen derzeit Kindergärten und Horte zu Familienzen­tren ausgebaut werden, wo die Eltern frühzeitig Unterstützung in der Kinderer­ziehung anfragen können, müssen auch Schulen und außerschulische Jugendarbeit viel stärker die Eltern einbeziehen. In ­seinem Buch „Zukunftschance Bildung" (Weinheim 2009) entwirft der Erziehungswissenschaftler und Direktor des „Deutschen Jugendinstituts" Thomas Rauschenbach Perspektiven für eine neue Allianz von Schule, Jugendhilfe und Familie.

Für einen respektvollen Umgang mit Kindern ist - zweitens - wichtig, dass Erwachsene ihre eigene Kindheitsgeschichte nachvollziehen, und zwar mit allen leidvollen Erfahrungen von Demütigung, Gewalt und möglicherweise auch Missbrauch. Diese Auseinandersetzung ist nötig, um nicht aus einem Wiederholungszwang heraus selbst Erlittenes an Andere weiterzugeben. Wenn jemand seine eigene Lebensgeschichte mit allen schwierigen Seiten in sein Bewusstsein aufgenommen, integriert hat, ist die Gefahr viel geringer, dass sich Dinge wiederholen.

Eine dritte Notwendigkeit bezieht sich auf die Einübung eines respektvollen und einfühlsam-achtsamen Blicks auf Kinder. Sie können nervenaufreibend sein, können auch Wut und Zorn bei Erwachsenen auslösen. Aber die Erwachsenen dürfen diese verständlichen Gefühle nicht an den Kindern zerstörerisch ausleben. Dagegen hilft die beständige Einübung eines Blicks, der das Nervende „transzendiert" und sich auf das tieferliegende Bedürfnis richtet, das ein Kind mit seinem nervenaufreibenden Verhalten zum Ausdruck bringt.

Mit ganzer Sache beim Kind sein

Ein letzter Aspekt: Eltern brauchen leicht zugängliche Angebote der Beratung, und Pädagogen sowie Seelsorgerinnen müssten die Gelegenheit zu regelmäßiger Supervision haben, um Schwierigkeiten im Umgang mit den Kindern zu besprechen. Besonders Lehrerinnen und Lehrer müssen für sich Wege finden, wie sie - um es bildlich zu sagen - sich darin üben, alle eigenen Sorgen und Probleme vor dem Klassenraum mit dem Mantel an den Kleiderhaken zu hängen und im Klassenraum ganz für die Kinder da zu sein.

Einfühlsam, achtsam, respektvoll mit Kindern umgehen können aber nur Erwachsene, die (vorher) genauso mit sich selbst umgehen, auf ihre eigenen Gefühle achten, sie ernst nehmen, anschauen und dann auch loslassen können, um ganz frei für das kindliche Gegenüber zu sein. Marshall B. Rosenberg, amerikanischer klinischer Psychologe und Begründer der gewaltfreien Kommunikation, hat die Selbstwahrnehmung und die Empathie nebeneinandergestellt. Wenn ich selbst nicht in der Lage bin, auf mein Gegenüber einzugehen, weil ich gerade verärgert, wütend oder ängstlich bin, dann ist es gut, wenn ich das dem Anderen zu verstehen gebe und mich erst einmal um mich kümmere, um dann anschließend ganz und mit voller Kraft frei zu sein für den anderen.

Die Rede vom Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe übersieht, dass Jesus eine Dreifachliebe benennt: die Gottesliebe, die Nächstenliebe und die Liebe zu sich selbst, und alle drei sollen geschehen „mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft" (Mk 12,30). Eltern, Pädagogen und Seelsorger sollten darin gestärkt werden, ihre eigenen Gefühle (Ängste, Wut, Ärger) ernst zu nehmen. Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit sind der Schlüssel für die Beziehung von Erwachsenen zu Kindern. Sie bezeichnen die Fähigkeit, seine eigenen Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse eine Zeit lang zurückzustellen und in dieser Zeit beim Anderen zu sein und dessen Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen.

Die pädagogische Beziehung zwischen einem Erwachsenen und einem Kind erfordert von der erwachsenen Bezugsperson eine selbstlose Haltung: Wenn ich „mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all meinen Gedanken und all meiner Kraft" beim Kind bin, kann und darf ich das Kind auch anspornen, etwas zu leisten, auch etwas zu tun, was es im Augenblick vielleicht nicht mag. Ich darf das Kind zu allem auffordern, was in ihm als Möglichkeit angelegt ist. Ich darf aber nicht eine Leistung beim Kind einfordern, die ich mir wünsche, ohne dass das Kind sie wirklich von sich her schafft - das wäre Fremdbestimmung und Missbrauch. Dasselbe gilt für Nähe: Wenn ich ganz beim Kind bin und spüre, ihm täte eine - zum Beispiel tröstende - Umarmung gut, dann darf ich diese Nähe zeigen. Wenn es aber um meine Gefühle geht und die Umarmung mit dem Kind mir gut tun soll, dann wäre das Missbrauch. Je mehr wir in der Lage sind, offen auf Kinder zuzugehen und ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten zu erkennen, desto sicherer können sie sich bei uns fühlen und desto beschützter werden sie sich entwickeln.

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