Hirntod und OrganspendeWann ist der Mensch tot?

Mehr als siebzig Prozent der Deutschen bejahen die Organspende. Einen entsprechenden Ausweis haben aber nur siebzehn Prozent. Die Frage nach dem Tod und nach dem, was danach kommt, rührt an ein Tabu.

Viele Jahre trug die Theologin und Seelsorgerin Dorothee Becker einen Organspendeausweis bei sich. „Mit sechzehn hatte ich ihn ausgefüllt und unterschrieben. Es ist ja eine gute Sache. ‚Nach meinem Tod', wie es im Ausweis steht, brauche ich meine Organe ja nicht mehr." Heute hat Dorothee Becker keinen Ausweis mehr. Ein Erlebnis auf dem Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin hat sie nachdenklich gemacht. Dort berichteten Eltern von ihren Erfahrungen, als ihr Kind nach einem schrecklichen Unfall in eine Klinik eingeliefert wurde und sie die Diagnose „Hirntod" erfuhren. Unter Schock und völlig unvorbereitet wurden sie vor eine schwierige Frage gestellt: „Ihr Kind ist tot. Wollen Sie nicht weitere Tode verhindern, indem Sie ihr Kind zur Organspende freigeben?"

Die Eltern, die sich unter Druck gesetzt fühlten, stimmten zu. Doch verabschieden mussten sie sich von einem Kind, das nach ihrem Empfinden nicht tot war. Es atmete, wenn auch maschinell unterstützt. Das Herz schlug. Die Gesichtsfarbe war rosig, die Haut fühlte sich warm an, Schürfwunden begannen zu heilen. Ihr Kind bekam Infusionen und schied Urin aus. Selbst reflexartige Bewegungen waren möglich. Der Tod war nicht als Tod zu begreifen. Besonders schlimm sei es für die Eltern gewesen, dass das Klinikpersonal ihnen eine Begegnung mit ihrem Kind nach der Organentnahme „ersparen" wollte. Die Eltern erzwangen dies jedoch und erschraken, weil sie den Eindruck hatten, dass ihr Kind im Tod nicht friedlich aussehe.

Dorothee Becker erinnerte sich bei diesen Schilderungen an ein eigenes Erlebnis. Zwei Jahre zuvor hatte sie selbst ein Kind beerdigen müssen. „Es war tot geboren, es hat nie geatmet, uns nie angeschaut. Es war eine ganze Woche bei uns zu Hause. Wir hatten alle Zeit der Welt, uns zu verabschieden - und es war doch nicht genug, um den Tod wirklich zu begreifen." Wie sollten dann erst jene Eltern mit der Ungeheuerlichkeit des Todes fertig werden?

Die psychischen Belastungen für die Angehörigen, die in einer solchen Situation über eine mögliche Organspende entscheiden müssen, sind extrem groß, bekräftigt Uta Teßner, Ärztin und Koordinatorin der „Deutschen Stiftung Organspende". Der Schock nach der Hiobsbotschaft, die begrenzte Bedenkzeit, vor allem aber der sinnliche Eindruck: Der oder die Verstorbene sieht nicht so aus, wie man sich eine(n) Verstorbene(n) vorstellt. „Auch wenn die Todesbotschaft rational verstanden und akzeptiert wurde, ist der Verstorbene für die Angehörigen weiterhin das Objekt ihrer Fürsorge und Adressat persönlicher Beziehungen." In dieser Situation muss man ihn willentlich den Händen des Chirurgen übergeben und kann ihn auf diesem Weg nicht begleiten. Für Uta Teßner stellt sich daher eine grundsätzliche Frage: „Vergrößert die Organspende das Leid der trauernden Familie?"

Trost oder größere Trauer?

Statistisch gesehen lässt sich das nicht nachweisen. Im Gegenteil: Auf einer Tagung der Katholischen Akademie in Bayern berichtete Uta Teßner von einer amerikanischen Studie. 76 Prozent der befragten Angehörigen gaben an, dass dieser Schritt ihre Trauer nicht verstärkt habe. Ungefähr die Hälfte empfand die Tatsache, dass jemand anderem so ein neues Leben ermöglicht wurde, als tröstlich. Ein ähnliches, aber nicht repräsentatives Bild zeigt sich in Deutschland. 88 Pro­zent aller, die der Organspende zustimmten, würden dies wieder tun.

Voraussetzung ist aber ein unbedingtes Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Angehörigen. Es braucht einen einfühlenden und respektvollen Umgang des medizinischen Personals, der die Zweifel und Bedenken ernst nimmt, religiösen, ethischen und medizinischen Fragen nicht ausweicht, sondern gründlich und umfassend informiert. So fordert Uta Teßner, dass Angehörige nicht nur über die Diagnose „Hirntod" informiert werden, sondern dass sie während der Todesfeststellung selbst dabei sein können. Auch sollten Todesnachricht und Bitte um Organspende nicht zeitgleich überbracht und keinerlei Druck ausgeübt werden. Die Entscheidung der Angehörigen sei zu respektieren. Schließlich sei es hilfreich, mit Angehörigen, die einer Spende zugestimmt haben, weiterhin Kontakt zu halten, sie beispielsweise zu Treffen mit anderen Trauernden in ähnlicher Situation einzuladen. Und man sollte sie über diejenigen informieren, die als Schwerstkranke durch den Großmut der Spender ein neues Leben geschenkt bekommen haben.

Dorothee Beckers Zweifel sind dadurch nicht ausgeräumt. Sie stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die Definition des „Hirntodes", der als Feststellung des Todeszeitpunkts die bis 1969 gültige Definition des „Herztodes" abgelöst hat, nicht einfach ein Konstrukt ist, um „lebensfrische" Organe zu erhalten - zumal die Zahl jener Menschen, die dringend ein Spenderorgan benötigen, die Zahl derer, die zu einer Spende bereit sind, um ein Vielfaches übertrifft.

Als Organspender kommen ohnehin nur Personen infrage, die im Sterbeprozess intensiv medizinisch behandelt werden, deren Organfunktionen man durch künstliche Beatmung und Einsatz von Technik aufrechterhält. Hat das Herz erst einmal aufgehört zu schlagen, können keine brauchbaren Organe mehr entnommen werden.

Gehirn: Zentrum des Menschen

Bis Anfang der sechziger Jahre war man der Ansicht, dass das Herz-Kreislauf-System die lebensbegründende organische Struktur sei. Diese Sichtweise änderte sich durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Das Gehirn, nicht das Herz, ist heute aus Sicht der meisten Mediziner und Ethiker das entscheidende Lebensorgan. Denn nur durch dessen Integrationsleistung gibt es Bewusstsein, wird der Organismus als Einheit erlebt. Wenn das Gehirn unwiderruflich abstirbt, kann die Einheit des Organismus nicht selbstständig, sondern nur noch künstlich eine Zeit lang aufrechterhalten werden. Mit dem Tod des Gehirns funktionieren basale Grundantriebsmechanismen des Körpers wie zum Beispiel die Atmung, das Bewusstsein oder die Regulation des Salz-/Wasserhaushaltes nicht und können auch nicht mehr wiederhergestellt werden. Daher kam es zu der bis heute allgemein akzeptierten Definition „Hirntod". Selbst moderne bildgebende Verfahren haben diese Konzeption nicht prinzipiell infrage gestellt, erläutert der Transplantationsmediziner und Theologe Eckhard Nagel.

Die Münchner Neurologin Stefanie Förderreuther versucht, Ängste zu zerstreuen. Man könne zweifelsfrei in jedem Fall zwischen Hirntod und anderen Symptomen wie etwa Wachkoma, Koma und dem sogenannten Locked-in-Syndrom unterscheiden, in dem es trotz der vollständigen Lähmung des Körpers noch Hirnnervenreflexe, bewusstes Erleben und die Möglichkeit zur Kommunikation gibt. Schon 1959 beobachteten Mediziner bei Leichenschauen, dass die Auflösung des Gehirns weiter fortgeschritten war als der Zerfall anderer Organe. Daher trifft die Meinung, der Hirntod sei um der Organtransplantation willen zu einem sicheren Todeszeitpunkt gemacht worden, auch historisch nicht zu, meint Heinz Angstwurm, Professor für Neurologie in München.

Da aber der Tod als biologisches Phänomen nicht vom Tod als existenzielles Phänomen zu trennen ist, dürfe niemand dazu gezwungen werden, diese Definition des Todes zu akzeptieren. „Wer diese Bedeutung des Hirntods nicht hinnehmen kann oder will, hat die Freiheit und den Schutz persönlicher Überzeugung auf seiner Seite… Wer sich aber überzeugen lässt, dass der völlige und unabänderlich endgültige Ausfall der Gesamtfunktion des Gehirns prinzipiell und jedes Mal sicher festgestellt wird und ein sicheres Todeszeichen bedeutet, darf und soll wissen: Er stimmt mit der medizinischen Wissenschaft überein."

Angstwurm weiß, dass die emotionale Wahrnehmung nicht unterschätzt werden darf. Dazu kommt, dass in den Überlieferungen vieler Religionen das Herz der eigentliche Sitz des Lebens ist. „Besonders behutsam zu behandeln ist der Einwand, die Seele befinde sich nicht im Gehirn, folglich hätten sich Leib und Seele des hirntoten Menschen nicht getrennt, also lebe er noch." Doch „finden sich seelische Erscheinungen eines Menschen nur zusammen mit einer Tätigkeit seines Gehirns".

Was ist Leben?

Als neulich der Deutsche Ethikrat in Berlin über dieses Thema diskutierte, wurde das ganze Spektrum der Meinungen deutlich: Was ist Leben, was ist Tod? Der amerikanische Neurologe Alan Shewmon und der Potsdamer Ethiker Ralf Stoecker vertraten die Auffassung, dass hirntote Menschen zwar unwiderruflich das Bewusstsein und ihr psychisches Innenleben verloren haben, dass sie jedoch im strikten Sinne noch nicht tot seien. Hirntote Menschen sind noch in der Lage, ihre Körpertemperatur zu regulieren und Infektionen abzuwehren. Hirntote Schwangere können sogar noch ein ungeborenes Kind austragen, was darauf schließen lässt, dass die Einheit des Organismus noch in gewisser Weise „funktioniert", wenn auch nur mit Hilfe massiver technisch-maschineller Unterstützung. Stoecker ist der Ansicht, dass sich hirntote Patienten in einem Zwischenstadium von Leben und Tod befinden. Sie wiesen sowohl Merkmale von Lebendigkeit als auch Merkmale des Todes auf. Entsprechend müsse man sie in mancher Hinsicht wie Lebende behandeln. Auf der anderen Seite könne man ihnen jedoch kein Leid mehr antun, weil man sie keiner Zukunft mehr berauben könne. Aus diesem Grund sei eine Organentnahme bei entsprechender vorheriger Willensbekundung ethisch gerechtfertigt.

Ihm widersprach der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff. Zwar sei das Sterben ein zeitlich gedehnter Prozess, doch der Tod sei ein Ereignis, das anhand von Indizien zweifelsfrei festgestellt werden könne. Ein Hirntoter sei schlichtweg keine leib-seelische Einheit mehr und scheine nur noch lebendig, weil einzelne Organe künstlich am Leben erhalten werden, erklärte Schockenhoff. Die eigentlich ethische Frage bestehe darin, ob man den Zerfall der Organe überhaupt durch Apparate aufhalten dürfe. Doch dies sei angesichts des großen Leids, das durch eine Organspende gelindert werden kann, ethisch vertretbar. Auch der evangelische Theologe und Transplantationsmediziner Eckhard Nagel bekräftigte, dass aus medizinischer Sicht Hirntote eindeutig tot seien. Das Wort „Leben" meine etwas Verschiedenes, je nachdem ob man von Zellen, Organen oder leib-seelischen Lebewesen spricht.

Schwestern und Chirurgen, die zum ersten Mal bei einer Organentnahme assistieren, fühlen sich häufig unwohl, berichtet Karl-Walter Jauch, Direktor der Chirurgischen Klinik und der Poliklinik in München-Großhadern. Dass dem Toten unter Narkose die Organe entnommen werden, wecke den Verdacht, er sei doch noch schmerzempfindlich, also lebendig. Doch der Grund für die Gabe von muskellähmenden Medikamenten sei, dass sich beim Schnitt die Bauchmuskeln über Rückenmarkreflexe noch anspannen können.

Bei zwei Dritteln aller Organspenden werden mehrere Organe entnommen. Dazu werden der Brustkorb und die Bauchhöhle durch einen Schnitt vom Hals bis zum Schambein geöffnet. Anschließend überzeugt sich der Arzt durch Anschauen, Abtasten und eventuell Spiegelungen und Ultraschalluntersuchungen vom Zustand der Organe. Anschließend werden sie so weit freigelegt, dass sie später mit wenigen Schnitten entnommen werden können. „Als ein weiterer wichtiger Schritt werden dann die großen Gefäße, Hauptschlagader, Beckenschlagader und Hohlvene mit Fäden angeschlungen und Katheter eingeführt, über welche später die Perfusion (wörtlich: Durchströmung; d. Red.) der Organe und ihre Entblutung erfolgt." Eine eiskalte Spüllösung bewirkt, dass die Organe rasch abkühlen und der Stoffwechsel und Sauerstoffverbrauch in ihnen gesenkt werden, so dass sie konserviert werden können. Mit der Perfusionslösung beendet das Herz seine Aktivität, die Beatmung und Kreislaufüberwachung werden eingestellt. Bei einer Multiorganentnahme werden Herz, Lunge, Leber, Nieren, die Bauchspeicheldrüse mit Zwölffingerdarm und die Milz entnommen. „Wenn dies alles bestmöglich verläuft, kann durch eine Multiorganentnahme sieben Patienten mit funk­tionsfähigen Transplantaten ein besseres Weiterleben beschert werden. Eine Hoffnung, die den Schrecken dieses Eingriffs durch Zuversicht und Dankbarkeit ablöst."

Der Bundestag befasst sich zurzeit mit einem parteiübergreifenden Gesetzentwurf, nach dem die Krankenkassen ihre Versicherten künftig auffordern sollen, sich zu entscheiden, ob sie im Fall eines Hirntods bereit sind, ihre Organe zu spenden. Eine Pflicht soll es aber nicht geben. Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, Mitglied des Deutschen Ethikrats, appelliert trotzdem an die Bürger, diese Entscheidung nicht auf ihre Angehörigen abzuwälzen. Es wäre nicht nur „fair und vernünftig", sondern auch „ein Akt der Liebe", wenn sich jeder und jede auf ein Ja oder ein Nein festlegen würde.

Leib und Seele

Die Kirche hat den Todeszeitpunkt nie exakt definiert, sondern in dieser Frage auf die Wissenschaft verwiesen. Papst Pius XII. bezeichnete die Feststellung des Todes als eine Aufgabe der Ärzte. Letztlich könne die Theologie nicht viel mehr sagen, als dass der Tod des Menschen an dem Punkt eintrete, „wo sich die Einheit von Seele und Leib auflöst", unterstreicht Losinger. Aber genau das sind die „Grauzonen" der existenziellen Fragen, die viele Menschen wie Dorothee Becker umtreiben: „Wann ist die Seele nicht mehr an den Körper gebunden? Wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert? Wenn der Atem aussetzt? Wenn das Herz nicht mehr schlägt?"

Die Basler Theologin sieht einen Widerspruch in der kirchlichen Lehre bei der Frage, wo personales Leben beginnt und wo es endet: „Ein Embryo am dritten Tag hat überhaupt noch kein Gehirn. Das entwickelt sich erst bis zur sechsten Woche. Diesem Embryo darf man nach kirchlicher Lehre nicht einmal zwei Zellen entnehmen, um festzustellen, ob er seine Schwangerschaft überhaupt überlebt."

Biblische und christliche Vorstellungen betrachten die Person als untrennbare Einheit von Leib und Seele. Anders als in der griechischen Philosophie ist gemäß der Anthropologie der Bibel der Mensch nicht einfach aus sterblichem Körper und einer unsterblichen Seele „zusammengesetzt". Der Mensch hat keine vom Körper unabhängige Seele. Der Münchner Moraltheologe Konrad Hilpert schlägt folgende Sichtweise vor: Die einzelnen Organe, die noch lebensfähig sind und transplantiert werden können, sind zwar nicht mehr der Mensch, der gestorben ist. Aber der Leichnam ist auch nicht nur der Überrest eines Körpers. Er ist auch „Repräsentant des Leibes, durch den eine Person sich sichtbar ausgedrückt hat, unter anderen Menschen gelebt und mit ihnen kommuniziert hat und als gestaltendes Subjekt am Prozess des gemeinsamen Lebens, Denkens und Zusammenarbeitens teilgenommen hat. Organe und Gewebe, die daraus entnommen werden, sind also nicht nur etwas, was zu diesem Menschen gehört hat, sondern auch etwas von ihm selbst.

Was macht die Individualität und die Identität von Leben aus? Was lässt das Geistige und das Materielle zusammenspielen - und irgendwann abbrechen? Diese Fragen spiegeln sich in der Debatte um Organspende als Hoffnungen, Ängste, Glaubensüberzeugungen und Gefühle. Leben und Tod öffnen metaphysische Fragen, die zwar nicht ohne die Erkenntnisse von Biologie und Medizin behandelt werden können, aber auch nicht ohne die Geisteswissenschaften. Oder wie es Heinz Angstwurm formuliert: „Die Medizin verdankt ihren Fortschritt den Naturwissenschaften, den Geisteswissenschaften verdankt sie ihre Menschlichkeit."

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