Die im deutschsprachigen Raum zahlreichen, zum Teil hochkarätigen Sommer-Kulturfestivals locken sehr viele Menschen an. Ob exklusiv und teuer in Salzburg oder Bayreuth, ob fürs breite Publikum in München, Bregenz oder Berlin, in Rheinfelden, Marburg oder Halberstadt: Die Menschen strömen zur Kunst. Sie versammeln sich zu Freiluftkonzerten, besuchen Theateraufführungen, Kunsthappenings, Literaturlesungen, Musicals. Viele Angebote erstrecken sich über mehrere Wochen und trotzen so der Schnelllebigkeit mit erstaunlicher Robustheit. Es sind Massen-„Rituale“ der Unterhaltung. Doch genau besehen, gehen die Kulturveranstaltungen oft über ein bloßes Sich-Unterhalten und Sich-Amüsieren, über ein Sehen und Gesehenwerden hinaus. Sie werden nicht selten zum Spiegel menschlicher Existenz, eine Aufgabe, die früher oftmals die Religion übernahm.
Der Jesuit und langjährige ehemalige Leiter der Kunst-Station Sankt Peter in Köln Friedhelm Mennekes hat die existenzielle Dynamik mit Blick auf die bildende Kunst einmal so skizziert: Sie „hat eine befreiende, erlösende Kraft. In ihr sucht der Mensch vor allem Freude, eine ästhetische Freude an der Farbe und der Form.“ Weil der Glaube verdunstet und die Kirchen an Bedeutung verlieren, sprängen heute „andere Institutionen in die Bresche“ - und eröffneten vielen Zeitgenossen neue aufregende Perspektiven (die mitunter leider auch in Religionslästerung abgleiten). Kunst entlarvt falschen Schein, provoziert, wirft Licht auf die dunklen Seiten der Existenz und öffnet das Tor zu einer unsichtbaren Welt, im günstigsten Fall zur Gottesfrage, manchmal ausdrücklich, manchmal versteckt.
Wenn an diesem Wochenende die „Documenta 13“, die alle fünf Jahre sich wiederholende Weltschau zeitgenössischer Kunst in Kassel, ihre Pforten schließt, werden etliche hunderttausend Besucher dort gewesen sein. Werke mit ausdrücklich religiösem Bezug waren diesmal in der Stadt an der Fulda selten. Das mag mit am Konzept der „Documenta“-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev liegen. Doch schließt der von ihr vertretene Grundsatz der Ganzheitlichkeit bei der „künstlerischen Forschung“ Gott und religiöses Erleben keineswegs aus. Auf Beiträge mit auch religiöser Transzendierungskraft wurde im CIG bereits hingewiesen (vgl. Nr. 32, S. 354ff).
Das Kreuz mit den Augen
Die „Documenta“ fügte diesmal in ihr Programm erhebliche Schwerpunkte der Schwesterkünste Theater, Literatur und Film ein und bewirkte damit, dass das überbordende Angebot von nicht wenigen wie das eines Festivals wahrgenommen wurde. Wahrscheinlich ist die Vielfalt des Ausdrucks und der Formen noch nie so breit gefächert gewesen wie diesmal - und damit ist auch die Emanzipationsbewegung der „Documenta“ von den klassischen Idealen der bildenden Kunst aufs Äußerste gesteigert. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat allerdings auf der Kehrseite das manchmal niedrige künstlerische Niveau beklagt und sieht „einige peinlich dünne Strecken“ im Gefüge der Präsentation.
Der begleitenden Ausstellung des Bildhauers Stephan Balkenhol in der Sankt-Elisabeth-Kirche am Friedrichsplatz hingegen ist höchstes Niveau zu bescheinigen, auch wenn sie nicht zum eigentlichen „Documenta“-Programm gehörte. Bei deren Leitung hatte die andere Ausstellung heftigen Widerspruch ausgelöst, nachdem bereits vor Beginn der Weltschau eine riesige Holzfigur auf goldener Kugel im Freiluftbereich des Kirchturms angebracht worden war, die die Hände seitlich waagrecht von sich streckt (vgl. CIG Nr. 23, S. 268). Auf Einladung des Bistums Fulda und der Pfarrgemeinde zeigte Balkenhol nun auch eine Auswahl lebens- und überlebensgroßer Holzskulpturen, die er eigens für diese Werkschau in Kassel geschaffen hat.
Ganz vorn, das Altarkreuz verdeckend, hing eine vierteilige quadratische Tafel mit vielen Augen. In der Mitte, als Aussparung, blieb ein Kreuz erkennbar: das Kreuz mit dem Sehen - nicht nur als Anspielung auf das Selbstverständnis moderner Kunst. „Schau mich an! Ich schaue dich an!“ Wer schaut? Rechts und links oben an den Seitenwänden des Backsteinbaus befanden sich wie Heiligenfiguren sechs menschengroße Skulpturen, darunter eine blau gekleidete Frau mit einem erwachsenen Mann auf dem Arm: Maria für heute?
Was ist Zeit?
Stephan Balkenhol konfrontiert den Betrachter, wie der Saarbrücker Kunsthistoriker Matthias Winzen im hervorragend gestalteten Katalog schreibt, mit einem Menschsein, das ohne überlieferte religiöse, psychologische, soziologische Auslegungen auskommt. Die Figuren „existieren in der Gegenwart, unbewegt, still: Als hölzerne Ebenbilder des Menschen sind sie eine Provokation für den Betrachter, auch ruhig zu werden, still, geistesgegenwärtig“ - um dann vielleicht das verborgene Antlitz Christi im Antlitz jedes Menschen zu entdecken. Es war erstaunlich, mit welcher Konzentration und Freude manch ein Besucher in Sankt Elisabeth verweilte, ganz im Sinn des Künstlers: In den Figuren verstecke sich „etwas Geheimnisvolles“, das der Künstler nicht enthüllen will. Das sei vielmehr die Aufgabe des Betrachters.
Zur „Documenta“ versammelten sich Kunstbegeisterte aus allen Teilen der Welt, Fachleute wie Laien. Schulklassen, Vereine, Jugend- und Reisegruppen waren genauso da wie junge Familien oder Singles. Lange Wartezeiten vor den Ausstellungsorten Documentahalle, Fridericianum oder Neue Galerie von bis zu einer Stunde machten die Menschen erstaunlicherweise nicht nervös. Sie reihten sich geduldig in die Schlange ein. Wer den Massenauflauf hinter sich lassen wollte, konnte auf der grünen Karlsaue unter den Bäumen flanieren. Dort lösten sich die Menschenknäuel auf, um als Einzelne spazieren zu gehen. Beim Zwitschern der Vögel, während der Wind leise durch die Bäume wehte, entstand eine fast kontemplative, einladende Atmosphäre zum Durchatmen und Nachdenken: Komm und sieh! Das Meditative benötigt als Kontrapunkt die Bewegung. In der Ruhe liegt die Kraft - die aber besteht aus Energie, die in den vielen Holzhäusern und Installationen spürbar wurde: als Kunst.
Einen kleinen inhaltlichen Schwerpunkt setzten einige Werke, die sich mit dem Phänomen der Zeit beschäftigen, die ohne unsere Existenz, ohne Geborenwerden und Sterben nicht zu denken ist. Und das den Menschen so beschäftigt, weil sich nur schwer denken lässt, was außerhalb der Zeit sei. Ewigkeit? Was ist das? Bereits Augustinus hatte in seinen „Bekenntnissen“ gefragt: „In welchem Raum messen wir die vorbeigehende Zeit? … Mein Geist brennt darauf, dieses verwirrende Rätsel zu lösen.“
In der Orangerie befand sich ein Nachbau des Foucault’schen Pendels, also jener Apparatur, mit der die Drehbewegung der Erde um die eigene Achse - und damit auch die Zeitspanne von Tag und Nacht - nachgewiesen wird. Besucher stellten sich staunend an dieses Gerät, um das Pendel am Boden zu beobachten. Alle zehn Minuten stieß es einen kleinen Metallstift um, bis am Ende des Tages alle Stifte in Kreisform „gefällt“ waren.
Ebenfalls der Zeit gewidmet war das Kunstwerk „Clocked perspective“ („getaktete Perspektive“) des in Berlin lebenden Albaners Anri Sala. Er hatte am Ende des teichartigen Hirschgrabens auf der Karlsaue eine riesige Uhr aufgebaut. Doch der erste Eindruck täuschte: Sala hat das Zifferblatt verzerrt gestaltet. Es bildet keinen Kreis, sondern eine senkrechte Ellipse. Das Uhrwerk ist so eingerichtet, dass die Zeiger an den längeren Seiten schneller gehen und an den schmaleren langsamer, so dass die Uhr trotz der Verzerrung richtig geht: Die Zeit ist perspektivisch und hat zugleich ihre eigene „Gestalt“. Wollte man den Zeitmesser vom Museum in der Orangerie aus mit einem Teleskop betrachten, wie es der Künstler empfiehlt, verschwindet die Verzerrung des Zifferblatts - nur eine optische Täuschung?
Weniger dem Sehen als dem Hören widmete sich die Videoinstallation „One, Two, Many“ („Eins, zwei, viele“) der Inderin Manon de Boer. Drei Filme wurden auf gegenüberliegenden Leinwänden wechselseitig gezeigt. Im ersten Film spielt der Musiker Michaël Schmid in Großaufnahme auf einer Querflöte. Die Töne werden chromatisch von ganz tief unten an geblasen und steigen in der Tonhöhe stetig, neun Minuten lang. Der Künstler schafft dies ohne Absetzen mit der sogenannten Technik der Zirkuläratmung. Dabei pumpt er während des Flötens durch die Nase neue Luft in die Lunge. Das Flötenstück „Studium 1974“ von István Matuz beruht auf einer musikalischen Höchstleistung der Lunge und der Atmung.
Im zweiten Film geht es um „aktives Schweigen“. Eine weibliche Stimme erzählt einem unsichtbaren Zuhörer über die Vorlesungen des französischen Philosophen Roland Barthes. Der Zuhörer wird nur indirekt deutlich durch Geräusche, Räuspern, kurze Antworten. Schließlich wird eine Gruppe von Sängern gezeigt, die ein modernes vierstimmiges Gesangsstück präsentieren und dabei in unterschiedlicher Formation zueinander stehen. Eine Gruppe von Menschen verfolgt das vierstimmige Konzertstück Neuer Musik, das aus wunderbaren Einzelstimmen und choralen Passagen besteht, in physischer Distanz. Manon de Boer vergleicht mit der Kamera das Zueinander von einzelnen Körpern, Tönen, Räumen. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Musik die Wahrnehmung von Zeit und Raum verändert - bis hin zur Transzendenzerfahrung, die aber im Video nicht eigens thematisiert wird. Trotzdem machte die „Documenta“ sichtbar, das das „Jenseitige“, trotz aller Brechungen des Rein-Diesseitigen, an allen Grenzerfahrungen „hereinbricht“ - wenn die Sinne nur offen genug sind.
Bach, Küng, Bärfuss
Zwei bedeutende Musik-Festivals des Sommers haben sogar ausdrücklich ihr Programm unter das Leitthema „Glaube“ gestellt. Zum einen das jetzt ebenfalls zu Ende gehende „Musikfest“ in Stuttgart, das traditionell einen Schwerpunkt auf Johann Sebastian Bach legt. Außerdem das Lucerne-Festival in Luzern, das bis zu diesem Samstag dauert mit acht Uraufführungen, die religiöse Erfahrungen zum Beispiel im Kontext der Schöpfung aufgegriffen haben.
Im Eröffnungsvortrag erläuterte Hans Küng, was er „eine Art Lebensvertrauen“ nennt. Viele junge Komponisten entdeckten wieder eine positive Einstellung zum oft so widersprüchlichen, brüchigen, chaotischen und absurden Leben, ein grundsätzliches Ja, ein „Grundvertrauen zur Wirklichkeit, das trotz alles Widerwärtigen das Erleben, Verhalten und eben auch das Komponieren bestimmt und trägt“. Auch wenn dies noch kein Gottesglaube im christlichen Sinn sei, so sind doch die Brücken dahin nicht abgebrochen.
Küng sprach davon, wie er sich beim täglichen Musikhören im Glauben persönlich getragen wisse. Er warb für einen im doppelten Sinn aufgeklärten Glauben, der auch über die Aufklärung aufgeklärt ist, über „ihre Potenzen und ihre Grenzen. Dies ist ein Glaube, der Respekt hat vor dem ‚Unerklärbaren‘, der sich bewusst bleibt, dass die Wirklichkeit Gottes vom Menschen gedanklich nicht erfasst werden kann“.
Um dieses Ganz-Andere soll es demnächst auch in einer Theaterinszenierung am Schauspielhaus Zürich gehen. Der Dramatiker und Schriftsteller Lukas Bärfuss hat im jüdischen Magazin „Tachles“ angekündigt, dass er das alttestamentliche Buch „Genesis“ in der Einheitsübersetzung unter der Regie von Stefan Bachmann auf die Bühne bringen will. Es sei ein Text, „aus dem wir alle entstammen“, der zur Demut erzieht und zeigt, „was Verzweiflung und Hoffnung“ sind.
Trotz massiver religiöser Abbrüche und fortgesetzter Radikal-Säkularisierung in der Breite vieler Gesellschaften, die den Gottesglauben zu verlieren drohen, gibt es also weiterhin die andere Perspektive - durch die Kunst. Der Festival-Sommer 2012 und die „Documenta 13“ sowie so manche Theateraufführung stehen auch dafür, dass die Fragen nach dem Unbegreiflichen, dem Jenseits und dem Ursprung von allem neu geweckt werden. Neue Kunst entsteht fürs Unendliche.