Wohin ist Amerikas Krise? Wimmelte es nicht kürzlich noch vor aufgeregten Stimmen, die den vermeintlichen Niedergang der noch immer größten Wirtschaftsnation und Vorzeige-Demokratie weissagten? Eine scheinbar kleine Nachrichtenmeldung wendete das Krisen-Blatt in der öffentlichen Wahrnehmung: Mehr Öl, mehr Wachstum, mehr Unabhängigkeit, mehr Macht - steht auf der anderen Papierseite, die jetzt vorne prangt. „In fünf Jahren werden die USA größter Ölproduzent der Welt sein, vor Saudi-Arabien und Russland“, erklärte der Chefökonom der Internationalen Energieagentur, Fatih Birol, gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. Zudem werde Amerika ab 2030 mehr Öl exportieren können, als es importieren muss.
Stimmen die Voraussagen - und Fachleute zweifeln kaum an dem Trend -, dann ändern sich nicht nur die seit Jahrzehnten geltenden Wirtschaftsströme des wichtigsten Rohstoffes. Auch das Blickfeld Amerikas wird neu ausgerichtet, mit weitreichenden politischen und geopolitischen sowie wirtschaftlichen Folgen. „Saudi-Arabien, Kuwait, Irak und andere Ölländer werden für die Supermacht weniger wichtig… Das bedeutet nicht, dass sich Amerika militärisch völlig aus der Region zurückziehen wird… Aber die direkte Verbindung zwischen Amerikas Energiehunger und dem militärischen Engagement gibt es nicht mehr“, kommentierte Nikolaus Piper ebenfalls in der „Süddeutschen Zeitung“.
Beobachter der Politik Barack Obamas sind von diesen Entwicklungen wenig überrascht. In einer Nationalen Sicherheitsdoktrin verfasste der alte und neue Präsident bereits 2010 eine Botschaft, die seitdem in vielen Wahlkampfreden und Grundsatzdokumenten in Variation wiederkehrte: „Unsere Strategie beginnt mit der Erkenntnis, dass unsere Stärke und unser Einfluss in der Welt davon abhängen, welche Schritte wir zu Hause unternehmen. Unsere Wirtschaft muss wachsen, und wir müssen unser Defizit reduzieren … Wir müssen … uns unabhängig machen von ausländischem Öl.“ Obama beschwor regelrecht die „amerikanische Innovationskraft“ als Grundlage des angestammten weltpolitischen Machtstatus. Die Denkrichtung der USA für das 21. Jahrhundert - oder zumindest für die Ära Obama - scheint ausgemacht: Erst kommt Amerika, dann die Welt.
Navigator Obama
Die zahlreichen Voraussagen des Niedergangs der USA wird man also sehr wahrscheinlich als „stark übertrieben“ beiseite lassen können. „Die Vereinigten Staaten sind immer noch in einer Hegemonialposition. Sie produzieren, wie schon zu Beginn der siebziger Jahre, ein Viertel des weltweiten Reichtums. Ihre Militärmacht ist immer noch erdrückend“, erklärte der amerikanische Historiker Robert Kagan im Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen“. An einen Aufstieg anderer Potentaten auf die Machthöhe Amerikas - etwa China - mag der Politikberater nicht glauben. Zwar sei China eine wirtschaftliche Großmacht, aber das Land sei allein schon aufgrund seiner geografischen Lage eingekreist von Japan, Indien und Russland - allesamt Mächte, die sich einer Vorherrschaft Chinas widersetzen. „Den Chinesen mangelt es einfach an Verbündeten, um den Vereinigten Staaten ihre Stellung im Pazifischen und Indischen Ozean streitig zu machen.“
Waren also alle Meinungen, dass die USA ihre Weltmachtrolle mehr und mehr verlieren, Fehleinschätzungen? Noch Anfang November titelte „Der Spiegel“: „Der amerikanische Patient - Vom Niedergang einer großen Nation“. Doch auf „Spiegel online“ meldete kurz darauf der Kolumnist Jan Fleischhauer bereits süffisant Zweifel an: „Solange ich zurückdenken kann, geht Amerika unter. Schon in den siebziger Jahren war das Land dem Niedergang geweiht … In der Zwischenzeit haben die Amerikaner den Kommunismus in die Knie gezwungen, das Internet-Zeitalter eingeläutet und mehrfach den Kapitalismus revolutioniert.“
Ist nicht gerade die Neuausrichtung Amerikas - der Rückzug aus den unruhigen Weltgebieten, das Vertrauen auf die eigene Stärke, die eigenen Ressourcen und Ideen - Ausdruck ungebrochener amerikanischer Machtfülle? Es scheint, als sei Europa ratlos, wie man die Weltmacht, den Weltpolizisten - aber eben auch den eigenen Demokratie(wieder)bringer und Friedenssicherer - einordnen, einschätzen und beschreiben soll. Es scheint gar, als seien die USA selbst etwas ratlos, wie die neue Welt aussieht und wie man in ihr wirken kann. Obama - der navigierende Präsident: auf der Suche nach Auswegen aus den außenpolitischen Dilemmata namens Afghanistan und Irak, auf der Suche nach dem neuen innenpolitischen, sozialen Charakter einer Weltmacht namens Vereinigte Staaten von Amerika.
Dass tiefgreifende weltpolitische Veränderungsprozesse im Gange sind, ist unbestritten. Selbst Kagan, Autor eines Essays mit dem Titel „Mythos vom Niedergang Amerikas“, bekannte bei allem Optimismus für die USA: „Wie jede politische Ordnung wird auch die amerikanische zusammenbrechen, aber nicht in den nächsten Jahrzehnten.“ Das Schlingern in den Gegenwartsanalysen lässt auch Schlagwortformeln „im Dazwischen“ bleiben: Krise und Veränderungen ja, Niedergang und Abgesang nein.
Neue Welt mit Rezessionen
Die Kriege im Irak und in Afghanistan sowie die jüngste Wirtschaftskrise haben dem einstigen Klassenprimus in Volkswirtschaft und Wohlstand stark zugesetzt. Rekordarbeitslosigkeit, eine verschärfte Schieflage bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie Wohnungs-Notverkäufe waren die Folge. „Die Wirtschaftsleistung sank um 4,1 Prozent, sie vernichtete 7,3 Millionen Jobs, die Bürger verloren 21 Prozent ihres Vermögens“, summiert der Historiker Christoph von Marschall den amerikanischen Negativrekord der Rezession von 2007 bis 2009 (in dem Buch „Was ist mit den Amis los?“). Der „Zeit“-Redakteur Jan Ross hört angesichts der Konjunktureinbrüche und der höchsten Armutsrate in den USA seit fünfzehn Jahren bereits eine soziale Bombe ticken: „Das Mutterland des Kapitalismus steckt in der schwersten Kapitalismuskrise seit achtzig Jahren; mit Millionen von Bürgern ohne anständige soziale Sicherung… Ein massives Wutpotenzial kann sich bald gegen Banken und Konzerne, bald gegen Regierung und Gemeinwesen richten.“ In seiner ersten Amtszeit hatte es Obama immerhin geschafft, die Nation in dieser turbulenten Phase zu stabilisieren und berechenbar zu halten. Er hat versucht, die „traumatische Gewaltperiode“, die nach dem 11. September 2001 begann, zumindest zu begrenzen.
Immer wieder wurden die gesellschaftlichen Krisen und Wirtschaftsrezessionen der „Neuen Welt“ in Romanen beschrieben und verarbeitet. John Steinbeck griff in „Die Früchte des Zorns“ die Folgen der „Großen Depression“ in den dreißiger Jahren auf. In dem Buch - das noch heute 150000 Käufer pro Jahr allein in Amerika findet - verliert eine Farmerfamilie aus Oklahoma alles Hab und Gut und begibt sich auf den Weg ins Hoffnungsland Kalifornien, um ein neues Leben zu beginnen. V. S. Naipaul machte 1971 mit dem Roman „In einem freien Land“ die Gefühle von amerikanischen Einwanderern und Fremden - und somit auch die Einwanderungspolitik - zum Thema der Literatur. Beide erhielten für ihre Gesellschaftsanalysen den Nobelpreis für Literatur, Steinbeck 1962 und Naipaul 2001.
Unromantisches „Sunset Park“
Auch das irritierte, sich neu aufstellende Amerika 2012 ist bereits ins literarische Wort gebracht worden. Der Roman „Sunset Park“ des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster ist eine realitätsnahe Gegenwartserzählung, die in New York spielt. Vier junge Menschen sind die Hauptfiguren: Miles Heller war Student. Er arbeitet jetzt aber zeitweilig für eine Entrümpelungsfirma. Ellen Brice ist eine von Depressionen geplagte Malerin, und die Doktorandin Alice Bergstrom kann ihre Miete nicht zahlen. Bing Nathan sammelt Schrott und repariert kaputte Dinge. Um Menschen wie diese, bekannte Auster in der „Zeit“, würde er sich im wirklichen Leben sehr sorgen. „Die Wirtschaft ist am Boden, Jobmöglichkeiten sind nicht mehr, was sie waren. Das Schlimmste, was wir unseren Kindern antun, ist, dass Bildung so teuer gemacht wurde, dass nur noch die Reichsten der Reichen sie bezahlen können.“ Die jungen Menschen im Roman würden alle einen Ausweg aus ihren recht aussichtslosen Lebenssituationen suchen. Doch sei im Buch wie auch im realen Leben ein ungutes Gefühl präsent - „nicht von Untergang, aber von mangelnder Hoffnung“.
„Sunset Park“ ist eine heruntergekommene Gegend im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Heller, Brice, Bergstrom und Nathan besetzen hier ein leer stehendes Haus und hoffen, dass möglichst lange niemand bemerkt, dass sie weder Miete noch Wasser zahlen, dass sie mit Heizung und Strom versorgt werden, obwohl sie keine Rechnung begleichen. „Ein unsicheres Leben, ohne Frage, jeden Morgen erwachen sie mit dem mulmigen Gefühl, heute könnten sie gewaltsam aus dem Haus geworfen werden, aber da die Stadt schwer mit der Last der Wirtschaftskrise zu kämpfen hat und jede Menge Verwaltungsstellen gestrichen werden mussten, entgeht die kleine Schar in Sunset Park dem städtischen Radar.“
Kurz nach seinem Einzug in das baufällige Haus streift Miles Heller durch die Straßen von „Sunset Park“ und erstarrt fast in Niedergeschlagenheit: „Dieses Viertel wirkt auf ihn wie abgestorben, eine bedrückende Ödnis aus Armut und traurigen Einwandererschicksalen, ein Gebiet, in dem es keine Banken oder Buchhandlungen gibt, nur Wechselstuben und eine heruntergekommene Bücherei, eine kleine Welt abseits der Welt, in der sich die Zeit so langsam bewegt, dass nur wenige Leute überhaupt eine Uhr tragen.“
„Regenbogenkoalition“
Der Schrottsammler Nathan versucht, der Hausbesetzung gar etwas Förderliches für die Gesellschaft und die allgemeine Sicherheit abzugewinnen, anstatt etwas Rechtswidriges. „Es sind hoffnungslose Zeiten, und ein verfallenes, leerstehendes Holzhaus in einer so verwahrlosten Gegend wie dieser ist ohnehin bloß eine Einladung an Vandalen und Brandstifter, ein Schandfleck, der geradezu darum bettelt, aufgebrochen und geplündert zu werden, eine drohende Gefahr für das Wohlergehen der Gemeinschaft.“ Die Hausbesetzung sei darum eine Aktion für die öffentliche Sicherheit, sie mache auch das Leben der Nachbarn lebenswerter.
Angesichts immer mehr verschuldeter Menschen und steigender Obdachlosigkeit geht Nathan der Frage nach, ob sich das Konzept „Amerika“ überlebt hat. Was hält die zersplitterten Massen noch zusammen? Gibt es einen gemeinsamen Glauben der Amerikaner, eine Idee des Fortschritts? „In einer von der Gier profitgetriebener Unternehmen hervorgebrachten Wegwerfkultur ist das Land immer mehr heruntergekommen, immer unsympathischer geworden und hat zunehmend an Sinn und gemeinschaftsstiftenden Zielen eingebüßt“, schreibt Auster.
Der Roman endet mit arg pessimistischen Szenen für die Zukunft des Landes. Auch die zwischenmenschlichen Bindungen sind zerrüttet, keine der erzählten Liebesbeziehungen hat Bestand. Einzig die Liebe des Protagonisten Miles Heller zu dem jungen Mädchen Pilar ist ungebrochen. An ihr zeichnet Auster eine hoffnungsvolle Zukunftsperspektive: „Pilar ist die Tochter von Einwanderern, sie ist Amerikanerin der zweiten Generation. Sie ist smart, sie wird es weit bringen. Die klügsten Kinder sind heute die Kinder der Einwanderer, ob asiatisch oder spanisch oder von irgendwoher … Amerika braucht neue Leute … Pilar, das ist die Hoffnung.“
Die literarische Figur der Pilar steht im realen Amerika für eine stark wachsende Bevölkerungsgruppe aus lateinamerikanischen und asiatischen Einwanderern. Die „Neue Zürcher Zeitung“ sprach von einer „Regenbogenkoalition“, der Obama seinen Sieg verdanke. „Vor allem die Schwarzen, die Latinos und die jungen Wähler strömten erneut in Scharen in die Wahllokale und bescherten Obama … entscheidende Wähleranteile“: „60 Prozent bei den 18- bis 29-Jährigen, 71 Prozent bei den ‚Hispanics‘ und 93 Prozent bei den Afroamerikanern. Schließlich brachte das ‚Team Obama‘ auch den Umfrage-Vorsprung bei den Frauen ins Ziel.“ Die Jungen und Nichtweißen sind auch jene Gruppen, die Obamas Politik eines starken Staats mit Fürsorgepflicht unterstützen.
Einer der zentralen Pfeiler dieses sozial-engagierten Staates ist die Gesundheitspolitik der Regierung. In der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 bis 2010 waren laut US-Zensus-Büro bis zu fünfzig Millionen amerikanische Bürger ohne Krankenversicherung. „Krankheit ist somit zu einem der größten Armutsrisiken in den USA geworden; wer gar nicht krankenversichert ist, muss die notwendigen medizinischen Behandlungskosten selber tragen, was für viele nur durch die Aufnahme von Krediten zu finanzieren ist“, erläuterte der Berliner Politikwissenschaftler Christian Lammert (in dem Sammelband „Die Ära Obama“). Als wichtigste Säule der Gesundheitsreform Obamas beschreibt er die Krankenversicherungspflicht, deren zentrale Bestandteile allerdings erst ab 2014 in Kraft treten. Spätestens in einem Jahr müssen alle amerikanischen Bürger eine Krankenversicherung abschließen. Lammert: „Die Versicherungspflicht nimmt insofern Finanzierungsdruck aus dem Gesundheitssektor, weil sich nun auch diejenigen versichern müssen, die dies bislang nicht getan haben - vor allem junge, gesunde Menschen.“ Die Versicherungen könnten mit Millionen neuer Kunden rechnen, was das Solidaritätsprinzip im Versicherungssystem stärkt.
Neu ist auch, dass niemand mehr aufgrund von Vorerkrankungen vom Versicherungsschutz ausgeschlossen werden kann. Insgesamt werden zukünftig etwa 32 Millionen Amerikaner eine Krankenversicherung neu abschließen. Das erklärte das parteiübergreifende Budget-Büro des Kongresses. Wenngleich Obama bestimmte Anliegen nicht gegen den Widerstand der Republikaner im Repräsentantenhaus durchsetzen konnte und kann, so ist - nach Lammerts Einschätzung - die Gesundheitsreform Obamas „doch die umfangreichste Sozialgesetzgebung seit der Great Society unter Präsident Lyndon B. Johnson“ in den sechziger Jahren.
Die Weltmacht bleibt
Nach der unheilvollen Geschichte der ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends ist es kein Wunder, „dass viele Amerikaner verunsichert oder wütend sind und, ganz unamerikanisch, pessimistisch in die Zukunft blicken“, meinte wiederum der Amerikanist Klaus-Dieter Frankenberger in der „Frankfurter Allgemeinen“. Aber für einen Abgesang auf die Weltmacht Amerika gibt es keinen Anlass. Wie das Land die aktuellen Herausforderungen besteht, „hängt in erster Linie davon ab, ob seine Bürger und seine politische Klasse sich eingestehen, dass sie sich in einer ernsten Krise befinden und dass die herkömmlichen Antworten nicht ausreichen, um sie zu überwinden“, urteilt der Historiker Christoph von Marschall.
Die Wiederwahl eines Präsidenten trotz schwieriger Wirtschaftslage, hoher Arbeitslosigkeit und drohender Staatsschuldenkrise ist einzigartig. Aber die Amerikaner trauen Obama und sich selbst zu, die Herausforderungen zu meistern - im Wissen um Amerikas politische, wirtschaftliche, kulturelle Stärke.