Wer das Buch „1913“ des Journalisten und Kunsthistorikers Florian Illies liest, erfährt vom Beginn des „Zeitalters der Extreme“. Wie war das Gefühl in jenem Jahr, bevor das „kurze 20. Jahrhundert“ begann, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm die Zeit von 1914 bis 1989 betitelte? Ahnten die Menschen 1913 etwas vom Schrecken, der kommen sollte?
Illies durchstreift mit viel Fabulierkunst unter anderem die Kulturwelt Wiens vor hundert Jahren. Er erzählt von den Malern Egon Schiele, Oskar Kokoschka, Gustav Klimt - von ihren Werken und Liebschaften. Wenige Seiten weiter kann dann schon die Rede sein vom in Liebesdingen irritierten Franz Kafka sowie von seinen Schriftstellerkollegen Rainer Maria Rilke und Thomas Mann und deren Lebenschaos. In New York, weiß der Autor, wurde 1913 die „Armory Show“ eröffnet, die einflussreiche internationale Ausstellung moderner Kunstwerke und Skulpturen. Und der herannahende Krieg? Kein Wort, kein Gedanke, keine Sorgen über die Möglichkeiten des Grauens, das Aufreißen uneinsehbarer Abgründe?
Der Leser denkt den Ersten Weltkrieg und die darauf folgenden Auseinandersetzungen unweigerlich mit. Auch im Buch sind diese Gedanken - vorsichtig eingesprenkelt, gut dosiert, halb versteckte Ahnungen. Illies schreibt: „Der Reichstag verabschiedet am 29. Juni in dritter Lesung die von der Regierung eingebrachte Wehrvorlage. Damit wird der Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um 117 267 auf 661 478 Mann zugestimmt.“ Auch gräbt Illies eine Rede des damaligen Präsidenten der Stanford University, David Starr Jordan (1851-1931), aus, in der er sagte: „Der große Krieg in Europa, der ewig droht, wird nie kommen. Die Bankiers werden nicht das Geld für solch einen Krieg auftreiben, die Industrie wird ihn nicht in Gang halten, die Staatsmänner können es nicht. Es wird keinen großen Krieg geben.“ Er sollte sich irren. Aber die Kriegsvokabeln sind schon da…
Im „Zeit-Magazin“ (44/2012) schrieb Illies, dass die Menschen von 1913 keine Lemminge waren, „die sich todessehnsüchtig an die Klippen robbten, um abzustürzen. Sie wussten nicht, dass hinter der nächsten Düne der Abgrund wartete.“ Und trotzdem gab es auch in diesem bunten, energie- und schwungvollen Jahr 1913 das Gefühl der Sorge und die Unsicherheiten darüber, was etwa die technischen Errungenschaften der Industrialisierung für Folgen haben könnten.
Sorge ums Nervensystem
Hundert Jahre später hoffen die Menschen, dass ihre eigene Spezies aus dem „kurzen Jahrhundert“ gelernt habe. Fragend - mutig wie auch ängstlich - wird in dieses Jahr 2013 geschaut: „Finanzkrise, Eurokrise, Nahost-Konflikt, Terrorismus, Bürgerkriege, Despotien, Überbevölkerung, Klimawandel - an Ereignissen, um die sich die Menschheit derzeit tagtäglich Sorgen macht, fehlt es nicht“, stellt der Journalist Jens-Christian Rabe in der „Süddeutschen Zeitung“ (19. Januar) fest. Ahnen wir etwas von morgigen Ereignissen?
„2013: What should we be worried about?“ - „Worüber sollten wir 2013 besorgt sein?“ steht in großen Lettern auf der Internetseite des amerikanischen Magazins „Edge.org“. Über 150 zumeist amerikanischen Intellektuellen und Wissenschaftlern hat der New Yorker Literaturagent John Brockman diese Frage gestellt. Ihre kurzweiligen Essays sind eine Fundgrube an Visionen, Bedenken, Hoffnungen und Zukunftsfragen. Die Antwortgeber schreiben nicht mit dem Hundert-Jahre-Blick von 1913 auf unsere Welt. Aber sie haben die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts im Hinterkopf. Sie wissen, in welche Katastrophen sich der Mensch katapultieren kann und zu welchen Entwicklungssprüngen er dennoch auch fähig ist. Doch nicht die Furcht vor Kriegen, Terrorismus, Naturkatastrophen, Gentechnik oder ABC-Waffen steht im Vordergrund. Es sind Ängste vor den Folgen der immer schneller fließenden Informationen, dem Technikwahn, der Hektik des Alltags. Es ist die Sorge um die Aufnahmefähigkeit unseres Gehirns und die kognitiven Belastungen. Es sind Sorgen um unseren Geist.
Der Kolumnist Douglas Rushkoff schreibt auf der „Edge“-Seite: „Worüber wir wirklich besorgt sein sollten? Über den Niedergang unseres Nervensystems.“ Der Computerwissenschaftler David Gelernter kritisiert die „Internet-Gefaselei“ und fragt, was wir in allem medialen Überfluss noch wertschätzen. Wenn wir beispielsweise eine Million Fotos besäßen, sei jedes einzelne für uns weniger wert, als wenn wir nur zehn hätten. Die nimmersatte Nachfrage des Internets nach Wörtern, schnell formulierten Texten und Twitter-Nachrichten führe auch zu einer Ab- und Entwertung des geschriebenen Wortes. „Wenn jedem Wort weniger Aufmerksamkeit und Lesezeit geschenkt wird, dann wird auch unbedachter geschrieben und redigiert.“ Die Fähigkeiten der Menschen, mit dem geschriebenen Wort zu kommunizieren, sich mit der Schriftsprache zu verständigen, würden sinken.
Das genaue Gegenteil behauptet derweil die Mannheimer Sprachwissenschaftlerin Beate Henn-Memmesheimer: „Die Schriftsprache differenziert sich zunehmend aus.“ Viele Menschen würden problemlos zwischen unterschiedlichen Schreibweisen und Stilen hin und her wechseln. „Morgens im Büro korrektes Hochdeutsch, nachmittags auf Twitter kurzsilbige Pointen, abends im Chat schluderiger Redeschwall.“ Deshalb, so Beate Henn-Memmesheimer auf „Zeit Online“, könne man sogar von einer gestiegenen Schriftkompetenz sprechen.
Der ungeduldige Mensch
Ganz gleich, welche persönlichen Erfahrungen man gemacht hat und wer in diesem kleinen Disput um das Wort recht behält: Man wird sich einer bei David Gelernter stets mitschwingenden Frage annehmen müssen: Wie gehen wir mit der Zeit um - besonders angesichts zeitraubender Beschäftigungen mit den neuen Medien?
„Weil wir einen immer schnelleren Informationsfluss im Internet erfahren und auch erwarten, werden wir zu ungeduldigen Menschen“, befürchtet der Sachbuchautor Nicholas G. Carr auf „Edge.org“. Dieses Phänomen verstärke sich noch durch das konstante Nachrichten-Prasseln auf Facebook sowie anderen sozialen Netzwerken, per Twitter oder SMS. „Nie zuvor war der ‚Aktionismus-Rhythmus‘ der Gesellschaft so hastig“, schreibt Carr in seinem Essay mit dem Titel „Das Geduldsdefizit“. Das Zeit-Leben und Zeit-Erleben vieler Menschen heute habe weitreichende kulturelle und auch persönliche Konsequenzen. „Die größten Werke der Menschheit - in der Kunst, den Wissenschaften, der Politik - benötigen zumeist Zeit und Geduld - um sie zu schaffen und wertzuschätzen… Ich behaupte, dass unser Zeitgefühl sich nachhaltig verändert.“ Die digitale Raserei aber führt weg von „betrachtenden“ Lebenshaltungen, weil sie keinen schnellen Reiz aussenden. Die negative Folge ist, dass „wir so immer intoleranter werden gegenüber Momenten, die vorübergehen, ohne dass uns etwas stimuliert hat“. Aber gerade dieses Nicht-Stimulierende könnte tiefste Bedeutung haben.
Wie ein antarktischer Schwamm?
Carrs Sicht auf die Medienwelt ist düster. Die vielen positiven Auswirkungen der Technologien für das alltägliche Leben wie auch die Kunst bleiben unerwähnt. Er schreibt nichts darüber, dass die Online-Medien neue Kunstformen, andere Wege der Politikteilhabe, effiziente und brillante Forschungsergebnisse und rasche Kommunikation in den Wissenschaften in oft erstaunlich kurzer Zeit erst ermöglichen. Andererseits ist Carr längst nicht der einzige Bedenkenträger.
Der Oxforder Literaturwissenschaftler George Steiner meint, dass die neuen Technologien am Wesen der Sprache, der Rede, des Wortes zerren. „Laptops, iPods, Cellphones, E-Mail, Web und Internet modifizieren das Bewusstsein. Mentalität in Form der ‚hardware‘. Erinnerung als abrufbare Daten. Stille und Privatsphäre, die klassischen Koordinaten einer Begegnung mit dem Gedicht oder der philosophischen Aussage, werden zu ideologisch und gesellschaftlich verdächtigen Luxusgütern“, schreibt Steiner in seinem Essay „Gedanken dichten“. Nichts liege ihm ferner, als für Literatur, Philosophie und Theologie die Totenglocken zu läuten, aber die „mönchische Kunst der Aufmerksamkeit“ gehe nun einmal zunehmend verloren. Steiner führt seinen Gedankengang von der Medienwelt so weit aus, bis Anspielungen auf das Christliche durchscheinen. „Ein radikaler Bruch mit der westlichen historischen Vergangenheit wäre die Kurzlebigkeit. Sie brächte mit sich die Akzeptanz des Momentanen, Vorübergehenden. Es gäbe kein freimütig bekanntes Streben nach Unsterblichkeit mehr.“
Zu dieser Hoffnung auf Ewigkeit, auf ein Dasein, das nicht vorbeistreicht, gehört der Tod - im Christentum verstanden nicht als Ende des Menschen, sondern als Lebenszäsur. Auf die Frage, worüber sie 2013 besorgt sein wird, antwortete die Neurowissenschaftlerin Kate Jeffery: „Über den Verlust des Todes.“ Der Mensch arbeite mit all seiner Intelligenz, seinem medizinischen und technischen Wissen hart daran, den Tod „auszumerzen“. Aber „wir sind keine antarktischen Schwämme“, die zehntausend Jahre leben und damit wohl die ältesten Lebewesen der Welt sind, sagt Kate Jeffery. „Wir sterben, und das aus einem guten Grund. Nur so kann unser Nachwuchs - die bessere Version unseres Selbst - aufblühen.“ Jede Generation destilliere geradezu das Beste der jeweiligen Zeit heraus, verpacke und gebe es weiter. Das Schlechte würde abgelegt, um eine frischere, neue, leuchtende Generation hervorzubringen.
Für den christlich Glaubenden ist diese rein naturalistische, biologistische und ökonomische Sicht des Todes zu kurz gegriffen und unvollständig. Die Erde hält keine Ewigkeit bereit. Etwas anderes dagegen schon: das Dasein mit dem Schöpfer, mit Gott, dem „Wunder mitteilbarer Bedeutung“, so George Steiner. Und dennoch beinhaltet Kate Jefferys Essay einen wichtigen Gedanken: Es ist un-menschlich, den Tod abschaffen zu wollen. Die conditio humana, die unabänderliche menschliche Verfasstheit, hat kein Hintertürchen. Es ist menschlich, dass auch im 21. Jahrhundert gestorben wird - voller Hoffnung. Für Glaubende und Suchende hat Paulus von Tarsus die Zuversicht des Christusereignisses für alle Zeiten festgeschrieben: „Wir wollen euch über die Verstorbenen nicht in Unkenntnis lassen, damit ihr nicht trauert wie die anderen, die keine Hoffnung haben. Wenn Jesus - und das ist unser Glaube - gestorben und auferstanden ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zur Herrlichkeit führen“, schrieb der Völkermissionar und „Weltreisende“ in Sachen Christentum im ersten Jahrhundert an die frühe Gemeinde in Thessaloniki.
Vom „Tod“ zum „Sterben“
Zweitausend Jahre später scheint eine tiefgreifende Veränderung des paulinischen Erlösungsverständnisses im Gange zu sein. Wie vielen Menschen ist das „metaphysische Bedürfnis“, die Frage nach allem, was über das Irdische hinausgeht, noch ein Herzensanliegen? Stimmt es, „dass der Glaube an überweltliche Mächte seinen Sinn verliert, weil alle die Menschen bedrängenden Sinnfragen innerweltlich erschöpfend beantwortet werden können; dass die Menschen auf einem bestimmten Niveau des wirtschaftlichen und kulturellen Wohlstands habituell unfähig werden, an Gott und die Unsterblichkeit, die jenseitige Macht und die Auferstehung des Fleisches, an ein Leben nach dem Tod zu glauben“? Diese Frage wirft der Darmstädter Philosoph Gerhard Gamm in der Zeitschrift „Lettre International“ auf.
Gamm beobachtet eine Verschiebung des öffentlichen und auch inneren Interesses des Menschen „von den letzten zu den vorletzten Angelegenheiten“. Die letzten Dinge würden zunehmend verdrängt oder würdevoll auf Eis gelegt. „Nicht die grundsätzliche Bedeutung des Todes für das menschliche Leben beziehungsweise die Aussicht eines Weiterlebens nach dem Tode steht auf der Agenda des pragmatisch ernüchterten Bewusstseins der Gegenwart, sondern das Sterben, der Prozess des Übergangs vom Leben zum Tod, also jene knappe oder technologisch unendlich gedehnte Zeitspanne, die auf verschiedenste Weise unseren Gestaltungsmöglichkeiten obliegt.“ Der Paradigmenwechsel vom „Tod“ zum „Sterben“ ließe sich auch in anderen Zusammenhängen beobachten: etwa von „Gott“ zur „Welt“, von der Gerechtigkeit Gottes zur irdisch verantworteten Gerechtigkeit.
Dass der Prozess des Lebensendes - und nicht der Tod an sich - immer mehr in den Bewusstseinsmittelpunkt rückt, hat sicherlich auch mit der Tatsache zu tun, dass die Menschen immer älter werden. Demografen warnen seit Jahrzehnten vor einer überalterten Weltgesellschaft und den Folgen einer auf dem Kopf stehenden Bevölkerungspyramide.
Der intelligente Roboter
Der Robotik-Professor am berühmten Bostoner „Massachusetts Institute of Technology“, Rodney A. Brooks, widerspricht in seinem „Edge“-Essay jedoch allen Technikängsten. Er glaubt nicht, dass Computer-Wesen, Roboter oder Formen künstlicher Intelligenz uns über den Kopf wachsen werden. Auch würden sie dem Menschen nicht die Arbeit wegnehmen und ihn in die Sinnleere stürzen. Im Gegenteil: „Was mir heute echte Sorgen macht, ist die Herausforderung, dass wir unsere Roboter nicht schnell genug so intelligent und einsatzfähig entwickelt haben, so dass sie die ganze Arbeit, die sie in den nächsten Jahrzehnten erledigen werden müssen, auch wirklich übernehmen können.“ Für Brooks steht fest, dass viele technische Ausstattungen, roboterähnliche, intelligente Pflegeapparaturen nötig sein werden, um Hunderte Millionen alter Menschen aus dem Bett zu heben, sie zu waschen und zu pflegen. „Nur wenn uns das gelingt, können die Jungen sich ganz auf das soziale Miteinander konzentrieren und ihre Zeit dem Gespräch von Angesicht zu Angesicht widmen, das wir alte Menschen alle ersehnen werden.“
In seinem Buch über das Jahr 1913 beschreibt Florian Illies das Lärmen auf dem damals schon verkehrsreichen Potsdamer Platz in Berlin. Man spürte das Vibrieren der ersten U-Bahnen unter der Erde, oben ratterten die Trambahnen und dazwischen: „Menschen, Menschen, Menschen, alle rennen, als liefe ihnen die Zeit davon.“ Dieses Lebensgefühl scheint sich hundert Jahre später noch verschärft zu haben. Sollten wir unsere Sorgen besser verdrängen - oder sind sie auch ein positives Korrektiv? Der Psychologe Robert Provine erklärte in einem der aufmunterndsten Essay-Beiträge auf „Edge.org“: „Die Sorge ist ein Gedanke, der sich aus der Erinnerung entwickelt, um dem Leben Richtung zu geben und uns vor Gefahren zu schützen.“ Ohne sein nörgelndes Flüstern würden wir zu völliger Rücksichtslosigkeit und Waghalsigkeit neigen. Für Provine ist die Fähigkeit zur Sorge ein „Geschenk“, das uns menschlich macht.
Literatur:
Florian Illies, „1913 - Der Sommer des Jahrhunderts“ (S. Fischer, Frankfurt am Main 2012)
George Steiner, „Gedanken dichten“ (Suhrkamp, Berlin 2011)
Gerhard Gamm, „Metaphysisches Bedürfnis - Von der Rückkehr der Götter und anderer zwielichtiger Gestalten“ (in: „Lettre International“ Nr. 99)