Der Krieg, der in der Folge der „Arabellion“ seit mehr als zwei Jahren Syrien erschüttert, hat mit den brutalen Anschlägen in der osttürkischen Grenzstadt Reyhanli in der Provinz Hatay die nationalen Grenzen überschritten. Die Hintergründe sind allerdings bei Redaktionsschluss weiterhin unklar. Während Ankara etliche türkische Linksterroristen beschuldigt und verhaften ließ, vermuten andere, dass das Attentat auch auf Geheiß der syrischen Opposition oder extremistischer Islamkämpfer verübt worden sein könnte, um wiederum propagandistisch das Assad-Regime dafür verantwortlich zu machen und somit die Türkei - und eventuell über die Nato die Westmächte - in den Konflikt hineinzuziehen, gegen den Noch-Herrscher in Damaskus.
Der „arabische Frühling“ hat sich jedenfalls längst - nicht nur durch die Syrienkrise - in einen arabischen Terrorherbst verwandelt. 1,4 Millionen Syrer sind aus ihrer Heimat geflohen. Mehr als 70 000 Menschen starben. Allein die Türkei nahm 200 000 oder mehr Flüchtlinge auf. Jordanien mit einer Bevölkerung von nur 6,5 Millionen Menschen, ist an seinen Aufnahmegrenzen angekommen. Dort leben etwa 400 000 Syrer. Noch drastischer stellt sich die Lage im Libanon dar, wo sich derzeit über 800 000 Syrer in Zeltstädten aufhalten.
In den Lagern lebt eine „verlorene Generation“, schreibt die „International Herald Tribune“. Von den Geflohenen, die in Jordanien Unterschlupf suchen, ist mehr als die Hälfte jünger als achtzehn Jahre. Die Kinder und Jugendlichen müssen mit dem Tod von engsten Angehörigen, mit der Trennung von der Familie und anderen Traumatisierungen fertigwerden, können oft keine Schule besuchen, keine Ausbildung absolvieren. „Schon Neunjährige tauchen bei uns bewaffnet auf“, berichtet die Uno-Flüchtlingskoordinatorin in Jordanien, Jane MacPhail. „Was wir leisten müssen, ist, dass wir das Denken der Kinder so anregen, dass ihre emotionale Intelligenz wieder lebendig wird, dass Geist und Gefühl wieder miteinander verbunden werden. Sonst verlieren wir diese Generation ganz.“
Die „Süddeutsche Zeitung“ malt ebenfalls ein dunkles Bild: „Der irakische Regierungschef Nuri al-Maliki … hat nach dem via Internet verkündeten Zusammenschluss der wichtigsten Dschihadisten-Truppe in Syrien mit Al Qaida eine Prognose für das Nachbarland abgegeben, die so düster wie bedenkenswert wie unbestreitbar ist: Nach dem Fall des Assad-Regimes wird ein Machtvakuum entstehen, die syrischen Al-Qaida-Kämpfer werden keine Ruhe geben. Ihr unheiliger Heiliger Krieg wird weitergehen - über die Grenzen hinweg.“ Mit dem Anschlag von Reyhanli ist diese Vorhersage bereits Wirklichkeit geworden.
Syrien-Konferenz - bloß wann?
Hoffnungen richten sich auf Vermittlungsbemühungen der Vereinigten Staaten von Amerika und Russlands. Aber eine angekündigte internationale Syrien-Konferenz ist bereits verschoben. Doch wird, wie die „International Herald Tribune“ schrieb, eine Friedenslösung stark davon abhängen, ob Russland als Verbündeter des Assad-Regimes tatsächlich dazu bereit ist, die Unterstützung mit Waffen zu beenden: „Eine frühere diplomatische Initiative vonseiten der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga mit dem Ziel, Baschar al-Assad einzubinden, schlug kläglich fehl.“ Bisher sei auch nicht bekannt, ob Moskau Assad dazu bewegen möchte, eine Verhandlungslösung anszustreben. Und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist so blockiert wie während des Kalten Kriegs. Syrien ist auch Schauplatz eines Stellvertreterkriegs.
Nach den Debakeln in Afghanistan und im Irak sind die USA wiederum kriegsmüde geworden, auch wenn Präsident Barack Obama immer wieder aufgefordert wird, militärisch im Nahen Osten einzugreifen, Assad zu stürzen, zumindest der Opposition Waffen zu liefern.
Oppositions-Wirrwarr
Allerdings ist Amerikas Zaudern verständlich. Denn die syrische Opposition ist gespalten in viele Kräfte, unter denen Al-Qaida-Leute und andere extremistische islamische Strömungen Ziele verfolgen, die mit Demokratisierung überhaupt nichts im Sinn haben. „Zeit online“ bemerkt: „Die komplexe soziale Textur Syriens ist zerfetzt. Religiös und ethnisch motivierte Verbrechen breiten sich aus wie Krebsmetastasen. Syriens Unheil ist noch lange nicht zu Ende. Vielleicht kann die internationale Konferenz einen Waffenstillstand erreichen, vielleicht eine erste Atempause … Das wäre nach langer Zeit ein erster Funken Hoffnung.“ Das Wort „hilflos“ taucht zudem in vielen Kommentaren deutschsprachiger Zeitungen auf und gibt einen Hinweis auch auf die Ratlosigkeit und Ausweglosigkeit der Lage, die nicht zuletzt auch die Europäische Union zu lähmen scheint.
Die Nahost-Korrespondentin Kristin Helberg gibt in dem Buch „Brennpunkt Syrien“ (Freiburg 2012) einen Einblick in die oppositionellen Gruppen Syriens. Sie schreibt von Eitelkeiten, ideologischen Grabenkämpfen, einem „Geschacher um Posten“ und der „Unfähigkeit zur sachlichen, inhaltsorientierten u nd effektiven Zusammenarbeit“ innerhalb der Opposition. Fachleute unterscheiden derzeit grob drei Hauptströmungen der Assad-Gegner: eine Protestbewegung, die von jungen Aktivisten, darunter viele Frauen, mit Hilfe von Internet und Facebook getragen wird; die links-säkularen Regimekritiker des Baath-Regimes von Assad innerhalb Syriens sowie die Auslandsopposition geflohener Dissidenten unterschiedlicher Gesinnung.
Mitbeteiligt sind all jene Gruppierungen, die in der Vergangenheit durch die Klientelpolitik von Assad, der der Minderheit der Alawiten, einer entfernt den Schiiten verwandten Glaubensrichtung, angehört, nicht zum Zuge kamen: die Kurden, die Drusen, die sunnitische Mehrheit, sofern sie ihre geistige Heimat bei den Muslimbrüdern hatte, die insbesondere von Staatspräsident Hafiz al-Assad brutal bekämpft wurden.
Dazu kommen die islamischen „Gotteskrieger“ aus aller Welt, die von Salafisten und Islam-Gruppen um Al Qaida, finanziert von Saudi-Arabien und Katar, ins Land eingeschleust wurden. Simon Fassoul, Präsident der Caritas im Libanon, vermutet, dass es derzeit in Syrien mehr als hundert verschiedene Gruppierungen gibt, die in Kämpfe verwickelt seien. Für den Politikwissenschaftler André Bank vom Hamburger Giga-Institut für Nahost-Studien ist Syrien gar zu einer „zentralen Arena“ geworden, in welcher der Kampf um die neue Ordnung im Nahen Osten unter Beteiligung vieler - oftmals widerstreitender - Kräfte ausgetragen wird.
Christen: Elite und Soldaten
Ebenfalls ist völlig unübersichtlich, wer da genau in der Befehlsstruktur der 2011 gegründeten „Freien Syrischen Armee“ kämpft - oder nicht. Auch desertierte Soldaten der nationalen Armee mischen in verschiedenen Gruppen mit, wobei die Offiziere anscheinend weiterhin zu Assad halten.
Völlig in einer Zwickmühle stecken die Christen, eine zehnprozentige Minderheit, die anders als in anderen arabischen Staaten relativ unbehelligt und frei unter Assad leben konnte und nun den radikal-islamischen Umschlag fürchten muss. Denn eins ist klar: Auf Assad können sie nicht mehr bauen. Die islamische Zukunft der Opposition wird aber nicht demokratisch, sondern extrem christenfeindlich sein. Zu Beginn der „Arabellion“ hatten etwa die katholischen Bischöfe Syriens Assad offen verteidigt und den westlichen Medien vorgeworfen, sie würden bewusst falsch über die Unruhen berichten. Heute ist mancher von ihnen zurückhaltender. So äußerte sich der melkitische Patriarch Gregoire III. Laham, der noch vor zwei Jahren Assad in Schutz genommen hatte, jetzt hoffnungsvoll, was die Friedensinitiative der USA und Russlands angeht: „Wir hoffen, dass die zwei Staaten übereinkommen, wie die Krise zu beenden ist, und nicht, ob man die Opposition bewaffnet oder nicht. Eine darauf verengte Debatte würde nur bedeuten, dass es wieder mehr Opfer, Katastrophen, Leiden und Kämpfen im ganzen Nahen Osten gäbe.“
Das Christentum hat die syrische Region seit dem vierten Jahrhundert kulturell stark mitgeprägt. Die syrischen Christen verstehen sich als Teil ihrer Nation, wenn sie auch seit der Islamisierung im siebten Jahrhundert immer wieder bedrängt wurden und sich in viele Konfessionen aufspalteten. Zur Geschichte des syrischen Christentums gehört die ständige Wanderschaft, das Auf und Ab von Verfolgung und Gewährenlassen.
Viele Christen verstehen sich auch als geistige oder wirtschaftliche Elite Syriens. Bevor die alawitische Assad-Familie an die Macht kam, war beispielsweise der Christ Fares al-Khoury Ministerpräsident. Ein anderer Christ, Michel Aflaq, war Mitbegründer der säkularen, linksorientierten Baath-Partei. Der Assad-Clan sicherte seine diktatorische Herrschaft, indem er anderen Minderheiten, vor allem Christen und Schiiten, in gewissem Maß politische oder gesellschaftliche Verantwortung übertrug. Diese „Komplizenschaft“ scheint sich jetzt zu rächen.
Der aus dem Libanon stammende Münsteraner orthodoxe Theologe Assaad Elias Kattan weist im Informationsdienst „Orthodoxie aktuell“ (Mai) darauf hin, dass die Mehrheit der syrischen Christen sich nicht an den Demonstrationen gegen Assad beteiligt hatte. Allerdings sind die christlichen Sympathisanten des Regimes auf dem Rückzug. „Dies hängt unter anderem mit der Tatsache zusammen, dass es zunehmend mehr Christen bewusst wurde, dass das Regime keine Scheu davor hat, christliche Soldaten … an die ‚vorderste‘ Front zu schicken. Trotzdem intensivierte sich bei zahlreichen Christen nach der Militarisierung der Revolution das Gefühl, ‚Schützlinge‘ des Regimes zu sein.“
Ohnmacht der Schützlinge
Assaad Elias Kattan kritisiert die verbreitete unterwürfige Haltung der Christen als gefährlich, „weil man sich derart zugleich die Ideologie einer Diktatur zu eigen macht“ und so die Vorwürfe des militanten Islamismus bestätigt. „Denn jene Dschihadisten, die gewalttätig gegen die Christen - und andere Minderheiten im Lande - vorgehen, tun dies genau mit dem Argument, die Christen seien nichts mehr als ‚Diener‘ und ‚Söldner‘ einer Militärdiktatur und deshalb strafwürdig.“
Doch auch der Schützlingsstatus ist nicht mehr gewährleistet. Das bestätigt die Entführung zweier Bischöfe aus Aleppo - des syrisch-orthodoxen Mar Gregorios Youhanna Ibrahim und des griechisch-orthodoxen Metropoliten Boulos Yazigi -, vermutlich durch eine salafistische Gruppe, die von Saudi-Arabien unterstützt wird. Zudem mehren sich Nachrichten, dass Kirchen zerbombt, Priester entführt, Christen in besonderer Weise bedrängt werden.
Die Kirchenführer Syriens fühlen sich hilflos, wie der chaldäische Bischof Antoine Audo von Aleppo gegenüber der Wiener Stiftung „Pro Oriente“ sagte. Um ein Zeichen der Verbundenheit mit den Entführten zu setzen, vereinbarten die Bischöfe aller Bekenntnisse des Landes einen Tag des Fastens für den Frieden, genannt „Gebet des gebrochenen Herzens“. Es war die erste derartige ökumenische Aktion in der Geschichte des modernen Syrien.
„Syrien implodiert“, vermutet die französische Tageszeitung „La Croix“. „Angesichts dieses Chaos zögert der Westen - und besonders Frankreich. Man hatte gehofft, dass Präsident Baschar al-Assad rasch fallen würde. Aber dieser ist immer noch da. Der Okzident hatte die Rebellion in Syrien begrüßt. Doch diese bleibt desorganisiert. Ihre radikalsten Fraktionen lassen immer weniger mit sich reden. Für schweigende Beobachter und zögerliche Akteure ergeben sich heute drei Möglichkeiten: den Krieg sich weiterentwickeln lassen im Eingeständnis der Ohnmacht; den Ablauf beschleunigen, indem man die Rebellion militärisch unterstützt; oder den verrückten Kurs der für den Krieg Verantwortlichen abbremsen, indem man einen Weg der Verhandlungslösung ermöglicht. Diese letzte Möglichkeit ist zweifellos die politisch kostspieligste. Denn sie setzt voraus, dass man sich mit einem der ‚Partner‘ entsolidarisieren muss - Saudi-Arabien, Katar, Türkei … - und sich zugleich einem anderen annähert: Russland, Iran.“