Doktor Rieux ist nicht zu beneiden. Der junge Journalist Raymond Rambert stellt den Arzt vor eine Entscheidung, die kaum einem Menschen zugemutet werden kann. Es geht um das Wohl der Gemeinschaft und das Glück des Einzelnen, um Krankheit und Liebe, um Tod und Leben. Es geht um das Gewissen.
Rieux und Rambert sind literarische Figuren in Albert Camus’ Roman „Die Pest“, der in der französischen Präfektur Oran an der algerischen Küste spielt. Als die Pest ausbricht und die Stadt geschlossen und unter Quarantäne gestellt wird, ist Rambert zufällig zur Berichterstattung anwesend. Er bittet den Arzt, ihm zu bescheinigen, dass er nicht mit der Pest infiziert ist und die Stadt verlassen darf, um zu seiner geliebten Frau zurückzukehren. „Ich kann Ihnen diese Bescheinigung nicht ausstellen, weil ich in Wahrheit tatsächlich gar nicht weiß, ob Sie die Krankheit haben oder nicht“, antwortet Rieux. Seine Aufgabe bestehe darin, zu tun, was notwendig sei, und seine ärztliche Pflicht zwinge ihn, manches zu untersagen. Wütend und erbittert entgegnet Rambert dem Mediziner: „Sie wollen vom Dienst an der Öffentlichkeit sprechen. Aber das Wohl des Volkes setzt sich aus dem Glück der einzelnen Bürger zusammen.“ Als beide im Zwist auseinandergehen, bleibt der Doktor hilflos zurück, nicht wissend, ob seine Gewissensentscheidung richtig war. „Rambert hatte recht mit seinem ungeduldigen Verlangen nach Glück. Aber hatte er auch recht, wenn er ihn anklagte?“, heißt es bei Camus.
Die Gewissensqualen des Mediziners sind für den Leser noch erträglich, weil es sich um eine literarische Fiktion handelt. In der täglichen Realität von Krankenhäusern und Praxen hingegen sind Ärzte und Pfleger einerseits sowie Patienten und Angehörige andererseits vor weitaus schwerwiegendere Entscheidungen gestellt. Erst jüngst sorgte der Fall „Angelina Jolie“ für Schlagzeilen: Die amerikanische Schauspielerin ließ sich die Brüste amputieren, weil ein Gentest ergab, dass sie eine mutierte Variante eines Gens auf Chromosom 17 - kurz „BRCA1“ - in sich trägt, welches Brustkrebs auslösen kann. Jolie entschied sich zur Operation, um das Brustkrebsrisiko von 87 auf unter fünf Prozent zu senken. Und um ein gutes Gewissen zu haben: Ihren Kindern soll es nicht ergehen wie Jolie selbst, deren 56-jährige Mutter und auch Tante an Brustkrebs starben. Seit der Entscheidung des Hollywood-Stars sind an der Berliner Charité so viele Anfragen zur Brustkrebs-Vorsorge eingegangen wie nie zuvor im gesamten ersten Quartal. Einerseits ist das erfreulich und sinnvoll. Andererseits sollten Frauen durch den Promi-Fall keine Angst und Panik bekommen. „Nicht jeder, der Krebs in der Familie hat, hat diesen Gen-Defekt“, sagte die Leiterin des Dresdner Brustzentrums, Pauline Wimberger. Auch müsse nicht jede, die eine Mutation habe, sich die Brüste abnehmen lassen. Zudem kommt nicht jedem Erkrankungsrisiko eine Krankheit zu.
Wie frei?
Die eigentliche Frage lautet: Was hilft uns, eine Entscheidung zu fällen, wenn wir mit statistischen Risiken und Wahrscheinlichkeiten konfrontiert werden? Was sagt das Gewissen - dem Patienten und dem Arzt?
Bei medizinischen Verfügungen können Ärzte sich auf die Gewissensfreiheit berufen, die uneingeschränkt gilt. Das Grundgesetz sichert in Artikel 4, Absatz 1 jedem ausdrücklich die „Freiheit des Gewissens“ zu. Dieses Grundrecht gehört zu den unverzichtbaren Bausteinen der medizinischen Ethik. Doch gerade hier gibt es ein neuerliches Nachdenken über die Gewissensfreiheit, weil die Belastungen und Herausforderungen in den Gesundheitsberufen stetig wachsen und immer komplexer werden.
Problem Patientenverfügung
Vorstellbar ist zum Beispiel die Situation, dass jemand mittels einer Patientenverfügung anordnet, im Fall eines Wachkomas die lebenserhaltende Behandlung - etwa eine künstliche Ernährung - einzustellen beziehungsweise erst gar keine zu erhalten. Doch „da ein Behandlungsabbruch gegebenenfalls mit einem tagelang andauernden Sterbeprozess einhergeht, stellt er nicht zuletzt für Pflegekräfte, die die betreffende Person zum Teil über Jahre begleitet haben, eine enorme psychologische und moralische Zumutung dar“, erklärte der Bayreuther Jurist Stephan Rixen bei einer Tagung zu Medizinethik und Gewissensentscheidungen in der Katholischen Akademie Freiburg. Gewissen steht hier gegen Gewissen - das des Patienten gegen das des Pflegenden oder Behandelnden. Ist die durch eine Patientenverfügung geäußerte Gewissensentscheidung zu umgehen? Oder hat das Gewissensurteil von Pflegenden und Ärzten Vorrang? Wem gibt das Grundgesetz Recht? Rixen erläuterte aus verfassungsrechtlicher Sicht und mit Blick auf die Klinikangestellten: „Bloße moralische Bedenken oder Zweifel, Unbehagen, Skepsis, Empörung, die Verärgerung darüber, einer Zumutung ausgesetzt zu sein, … reichen nicht aus, um sich auf die Gewissensfreiheit des Grundgesetzes berufen zu können.“
Der „Diözesane Ethikrat im Caritasverband für das Erzbistum Paderborn“ sieht das in einer Empfehlung zum Umgang mit Patientenverfügungen anders. Dort heißt es, dass Ärzte und Pflegekräfte davor geschützt werden müssen, „zu Erfüllungsgehilfen moralisch fragwürdiger Patientenwünsche gemacht zu werden. Niemand darf dazu verpflichtet werden, Bestimmungen Dritter auszuführen, die dem eigenen Gewissensurteil widersprechen.“ Das Grundrecht lasse zwar keinen Raum, sich über die Willensbestimmung eines Patienten hinwegzusetzen, doch folge daraus nicht automatisch, dass Ärzte und Pflegende ihre Gewissensfreiheit wiederum unterordnen müssten. Ähnlich urteilte das Oberlandesgericht München 2002: Ein Arzt dürfe durch eine Patientenverfügung nicht zum „willenlosen Spielball … bar jeden ärztlichen Gewissens“ werden. Die Handreichung des Paderborner Ethikrates und die Münchner Formulierung ignorieren laut Rixen jedoch das Grundgesetz, wonach die Willensbestimmung eines Patienten nicht beliebig ist, sondern bindend und verpflichtend.
Wie also soll gehandelt werden, wenn zwei Gewissensentscheidungen konträr zueinander stehen? Was hat im Zweifelsfall mehr Gewicht - das Selbstbestimmungsrecht des Patienten oder die reiflich abgewogene, gewissenhafte Entscheidung von Ärzten? Kann der Zweifelsfall überhaupt durch Normen und Gesetze geregelt werden? Vielleicht muss viel früher „eingegriffen“ werden, damit große moralische Ausweglosigkeiten und Konfliktsituationen erst gar nicht entstehen. Darin waren sich viele Forscher bei der Freiburger Konferenz einig: Gewissensnot darf nur ein äußerst seltener Ausnahmezustand sein. Der Einzelne ist von seinen Gewissenskonflikten zu entlasten. Der Staat als Gesetzgeber sowie Institutionen wie Krankenhäuser und Ärzteverbände und letztlich auch jedes Individuum stehen gemeinsam vor der Aufgabe, die ethisch-existenziellen Identitätskrisen so klein wie möglich zu halten und Gewissenszwänge abzuwehren. Das aber ist in der Theorie leicht gesagt und gefordert. Die Praxis sieht anders aus.
Tod nicht künstlich verhindern
Darüber hinaus fordert auch das Ökonomische seinen Tribut. Die Krankenhäuser sollen wirtschaftlich arbeiten. Das Gesundheitssystem hat aber genauso zum Wohl jedes Einzelnen beizutragen. Der Wittener Volkswirt Dirk Sauerland erklärte: „Die wirtschaftliche Stabilität der Krankenhäuser muss sichergestellt werden - nicht um möglichst große Gewinne zu erzielen, sondern um eine gute Qualität der medizinischen Versorgung zu gewährleisten.“ Diese Spannung erzeugt unaufhörlich Konflikte und zwingt zu Entscheidungen.
Dem Ziel, dennoch möglichst viele Gewissenskonflikte von Ärzten, Pflegenden, Patienten und Angehörigen abzuwehren, könnte ein Krankenhaus nahekommen, indem jeweils ein „medizinisch-ethischer Beirat“ eingerichtet wird. In diesem vielerorts bereits vorhandenen Gremium aus Geschäftsführung, Ärzten, Pflegenden sowie dem Träger - etwa einer Ordensgemeinschaft oder einer kirchlichen Stiftung - können Regeln festgelegt werden, die moralischen Dilemmata vorbeugen. Zum Beispiel: Ein Krankenhaus oder eine Pflegeeinrichtung stellt vor Abschluss eines Behandlungsvertrages klar, dass gewisse Bestimmungen einer Patientenverfügung - wie etwa das Abschalten von Beatmungsgeräten - abgelehnt werden. Selbstverständlich muss diese Information rechtzeitig erfolgen, so Verfassungsrechtler Rixen. Auch befreie eine derartige Regelung „nicht von der Pflicht, rechtzeitig eine dem Patientenwillen entsprechende Versorgung zu organisieren“.
Viele Ärzte „an der Basis“ reagieren auf derartige Vorschläge jedoch mit Kopfschütteln. Sie zweifeln, ob halbjährlich „tagende“ medizinisch-ethische Beiräte und theoretische Beschlüsse in der Not der alltäglichen Praxis helfen. Gewissensentscheidungen sind zumeist akut, kurzfristig zu treffen, mit Blick auf die kritische Situation des zu behandelnden Individuums - seine einzigartigen Bedürfnisse, seine Nöte, Ängste und Wünsche, seinen kulturellen Hintergrund, seinen Glauben. Jede ethische Entscheidung ist eine unmittelbar praktische.
Der Esslinger Geriatriker Martin Runge betonte, dass naturwissenschaftliche, technische oder institutionelle Fakten und Vorgaben im Fall des Falles oft nicht so klar und schematisch anwendbar sind, wie oft vorgegeben wird. „Abwägungen von Nutzen, Risiken, Zielen oder Beurteilung von Erfolgen medizinischer Maßnahmen sind vor unserem kulturellen Hintergrund wesentlich bestimmt durch die Werteskalen und Entscheidungen der Betroffenen… Die Freiheit des Einzelnen, realisiert in seinem Recht auf Selbstbestimmung, gekoppelt mit seiner individuellen Verantwortung, gehört zu den unbezweifelten und konsensfähigen Grundlagen der abendländischen Kultur.“
Wer aber entscheidet, wenn der Sterbende sich selbst nicht mehr äußern kann? Wenn es keine Familienangehörigen mehr gibt oder wenn die Kinder aufgrund ihrer Arbeitsverhältnisse weit weg wohnen, fernbleiben? Für besonders schwere Gewissenskonflikte und die Brisanz stellvertretender Entscheidungen hat der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff eine Hilfe formuliert: „Medizinische Maßnahmen, die in keiner Weise mehr der Heilung, sondern nur noch der Verhinderung des Sterbens dienen, indem sie den bereits verfügten Tod künstlich hinauszögern, fallen nicht mehr unter das Gebot des Lebensschutzes. Ebenso wenig lässt sich eine Pflicht zur Weiterführung einer aussichtslos gewordenen Behandlung begründen, wie sie manche Mediziner, um die Grenzen zur aktiven Euthanasie nicht zu verwischen, früher vertreten haben. Wenn eine Behandlung nicht mehr der Wiederherstellung der Gesundheit oder wenigstens der ansatzweisen Erhaltung der Kommunikationsfähigkeit und eines bewusst erlebten personalen Eigendaseins des Patienten dient, ist ihre Weiterführung nicht mehr zu rechtfertigen. Das Absetzen der Behandlung muss auch dann, wenn damit - wie bei der maschinellen Dauerbeatmung - der unmittelbare Todeseintritt verbunden ist, als Ende der künstlichen Verhinderung des Todes und nicht als seine eigentliche Ursache betrachtet werden … Wo die Grundkrankheit längst zum sicheren Tod geführt hätte und die begonnene Therapie nur noch unnötiges Leiden verursacht, gebietet vielmehr die Achtung vor der Würde des Sterbenden ihren Abbruch.“
Testen und Aussondern
Neben dem Sterben gehört auch der Beginn des Lebens zu den Grenzbereichen täglicher Entscheidungsnot. Oft müssen die Ärzte in die Unversehrtheit eines noch ganz jungen Körpers eingreifen, sind sie gezwungen, mitzubestimmen über Lebensdauer und Lebenschancen. Aktuell stehen wieder Fragen rund um den Schutz des noch ungeborenen Lebens im Mittelpunkt medizinethischer Diskussionen. So ermöglicht der 2012 in Deutschland eingeführte „Praena-Test“, das Risiko einer Chromosomenstörung wie beim Downsyndrom bereits in einem sehr frühen Stadium der Schwangerschaft durch einen Blut-Gentest zu bestimmen. Dieser Test kann als Fortschritt bezeichnet werden insofern er weniger riskant ist, als Fruchtwasseruntersuchungen, in deren Folge Embryonen - auch gesunde - durch einsetzende Wehen oder wegen Infektionen abgehen können. Es sei aber zu erwarten, dass nach der Diagnose von „Trisomie 21“, also des Downsyndroms, fast immer die Schwangerschaft abgebrochen wird, wie es jetzt schon bei dieser Diagnose - seit 1995 mit dem Hinweis auf Paragraf 218a des Strafgesetzbuches - der Fall ist. Der in der Schweiz lehrende Mediziner Günter Rager befürchtet: „Wird erst einmal die Aussonderung von Trisomie-21-Embryonen und anderen Erbkrankheiten erlaubt, dann ist vorauszusehen, dass von verschiedenen Interessengruppen Druck ausgeübt wird auf diejenigen Mütter, die solche Kinder austragen.“ Man könne sicher sein, dass es gnadenlose Stimmen geben werde, die unumwunden erklären, dass es weder dem Kind noch der Gesellschaft noch den Kostenträgern zuzumuten ist, ein Baby mit Downsyndrom zu gebären.
Durchleuchten wird die Regel
In der „Zeit“ (13. Juni) berichtete der Journalist Ulrich Bahnsen, dass bei der Jahrestagung der europäischen Humangenetiker in Paris selbst die weltweite Galionsfigur der herkömmlichen Ultraschall-Untersuchung, der britische Pränatalmediziner Kypros Nicolaides, sich nun für den „Praena-Test“ als sichere Diagnosemethode ausgesprochen habe. Eine Vergleichsstudie zwischen der konventionellen Untersuchung im ersten Schwangerschaftsdrittel per Ultraschall und den neuen Bluttests zeigte: „Beide Verfahren entdeckten zwar sämtliche Chromosomenstörungen der Föten, doch die konventionelle Untersuchung schlug bei 33 Frauen falschen Alarm, der Bluttest nur einmal.“ Nicolaides’ Fazit ist eindeutig: Um Chromosomenfehler wie bei „Trisomie 21“ zu entdecken, ist das sogenannte Screening per Bluttest dem Ultraschall überlegen.
Für Bahnsen zeichnet sich längst die Einführung umfassender genetischer Durchleuchtungsverfahren ab - bei bereits befruchteten Eizellen und auch bei der künstlichen Befruchtung. Allein hinsichtlich der Gentests für Föten, die wohl schon bald die Regel sind, werde deutlich, auf wie viele neue Fragen unsere Gesellschaft neue Antworten finden müsse. „Wie regelt man Aufklärung und Beratung der Betroffenen, ihr Recht auf Wissen und Nichtwissen?“ Bei der Tagung in Paris mahnte der französische Arzt Stanislas Lyonnet, dass die vornehmste Aufgabe der Humangenetik nicht vergessen werden darf: „human zu bleiben“.
Volker von Loewenich, der ehemalige Leiter der Abteilung für Neonatologie am Zentrum der Kinder- und Jugendmedizin in Frankfurt am Main, berichtete in Freiburg von seinem Umgang mit den schwersten Erkrankungen gerade erst geborener Kinder. Oberstes Handlungsideal sei immer noch der bekannte ärztliche „Eid des Hippokrates“ (um 400 v. Chr.). Darin steht geschrieben: „Primum nihil nocere“ - „Zuerst einmal nicht schaden“. Was aber heißt es, Kleinstkindern mit Wasserköpfen, offenem Rücken oder anderen schwersten Gesundheitsschäden zu nützen, ihnen nicht zu schaden, ihre Würde zu achten, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihre oder ihrer Eltern Autonomie zu achten und Fürsorge walten zu lassen? „Im einzelnen Fall ist es alles andere als einfach, sich darüber klarzuwerden, wo Nutzen gewährt wird, wo Schaden zugefügt wird oder werden könnte und wessen Autonomie wie zu achten ist. Unser Vorgehen war und ist: zunächst Vitalfunktionen stabilisieren, dann Diagnostik durchführen, und erst dann über das weitere Vorgehen nachdenken.“ Das bedeutet, dass auch dann, wenn die Eltern ein schnelles Sterben-Lassen bevorzugten, man zunächst für das Leben kämpfe und keine „Hands off“-Taktik - „Hände weg und nichts tun“ - verfolge.
Angesichts neuester Forschungen und medizinischer Weiterentwicklungen wird ersichtlich, dass es immer nur eine begrenzte Regelbarkeit für ärztliche Entscheidungen geben wird. In der medizinethischen Gewissens- und Urteilsbildung wird es immer auch um Ermessensfragen, das Abschätzen von Risiken und Chancen gehen. In der Ausbildung von Ärzten und Pflegenden ist daher auch die Gewissensbildung notwendig. Der Heidelberger Theologe Wilfried Härle schlug vor, in die medizinische Ausbildung ein verpflichtendes ethisch-philosophisches Grundstudium einzuführen, wie es in Baden-Württemberg für alle Lehramtsstudiengänge bereits seit vielen Jahren verbindlich ist. Bei der Entwicklung eines Lehrplans und bei der Lehre kämen Kirche und Theologie zwar kein Monopol zu, aber eine Mitwirkungsaufgabe und -möglichkeit.
Humanistisch gebildete Ärzte
Bei der Freiburger Tagung sprach sich auch der Kölner Medizinhistoriker Klaus Bergdolt für mehr allgemeine Bildung in den Gesundheitsberufen aus. Der umfassend humanistisch gebildete Arzt sei schlichtweg der bessere als der rein naturwissenschaftlich orientierte Mediziner. Mit Blick auf die Geschichte erklärte Bergdolt, dass der italienische Humanist Francesco Petrarca (1304-1374) zur Zeit der großen Pest im 14. Jahrhundert ein verhängnisvolles Selbstverständnis für Ärzte begründet habe. Für ihn waren Medizin und Ethik Gegensätze. Bergdolt: „Dem - wenn auch wissenschaftlich verbrämten - Handwerk Medizin kann ethisch-intellektuelles Reflektieren, so Petrarca 1356 in seiner ‚Invectiva contra medicum‘, nicht zugemutet werden. Der Arzt ist hierfür, auch und gerade wenn er studiert hat, völlig unbegabt, weshalb die Maxime gilt: ‚Medicinae nihil commune cum ethica‘ - ‚Die Medizin hat nichts gemeinsam mit der Ethik‘. An anderer Stelle heißt es sogar: ‚Medicina abhorret ab ethica‘ - ‚Die Medizin schreckt zurück vor der Ethik‘. Das war Polemik, gewiss.“ Petrarca sei es nicht um sachliche Kritik gegangen, sondern um Karikierung. „Dass sie auf breiten, fruchtbaren Boden fiel, stimmt freilich nachdenklich.“ Letztlich blieb für nachfolgende Generationen etwas zurück vom unheilvollen Gedanken, dass es eine Kluft gibt zwischen ärztlichem Alltag und ethischem Handeln.
In Camus’ „Pest“ dagegen kann man etwas ahnen vom Arzt, der medizinisch professionell handelt und sich doch ethischen Maßstäben unterzieht. Doktor Rieux handelt zutiefst nachdenklich, erwägt ethische Normen, betrachtet den Einzelfall der Individuen und verliert das Gesamtwohl nicht aus dem Blick. Der „Gewissenhafte“ wägt ab, prüft, beurteilt sich selbst und urteilt schließlich. „Das Gewissen ist nämlich nicht eine Befähigung zum Wirken des Guten“, schrieb Martin Luther, „sondern eine Befähigung zum Urteilen.“ Hoffentlich zum Guten.