Privatsache Religion?Aktive Religionsfreiheit

Ist Religion Privatsache? Ja, meint der baden-württembergische ­Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Das bedeutet aber nicht, dass sie ins Private verbannt werden darf. Denn Religion garantiert, dass die leere Freiheit mit Sinn und Werten gefüllt wird. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag vom 13. Dezember 2012 in der Katholischen Akademie Berlin.

Die Tageszeitung „Die Welt“ sieht zwischen meiner Partei und mir eine tiefe Kluft. Meine Kirchenbindung, hieß es in einem Kommentar, stehe in eklatantem Widerspruch zur überwiegenden kirchenkritischen und laizistischen Mehrheit der Grünen, bei denen Religion als Privatsache gelte. Stimmt dieser Slogan „Religion ist Privatsache“ überhaupt? Ich kann nur sagen: Er stimmt!

Zu den häufig zitierten Worten Jesu gehören Sätze wie: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“ (Mt 5,39) oder: „Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg!“ (Mt 5,29) oder: „Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt“ (Mt 6,25) oder: „Geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen“ (Mt 19,21). Die Reihe ließe sich problemlos fortsetzen. Worauf es aber ankommt: Jesu Ruf zur Nachfolge zielt auf den einzelnen Menschen und ist von unerhörter Radikalität. Das ist kein Modell für den gesellschaftlichen Mainstream. Das eignet sich nicht als Parteiprogramm für eine Volkspartei. Und das lässt sich auch nicht in staatliche Gesetze gießen, die für alle gelten sollen. Sich auf Jesu Botschaft einzulassen, ist eine sehr persönliche Entscheidung und erfordert einen hohen persönlichen Einsatz.

Privatheit des Glaubens

In allen Religionen geht es um persönliche Entscheidungen, die grundsätzliche Ausrichtung, um die letzten Dinge. Hier darf mir niemand reinreden. Da hat der Staat auch nichts verloren. Es ist ganz allein meine Sache, ob und was ich glaube und was ich daraus mache. Und deshalb ist Religion Privatsache.

Nach unserer Verfassung sind die Freiheit des Glaubens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich. Niemand muss seine religiöse Überzeugung offenbaren, niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer religiösen Übung gezwungen werden, heißt es im Grundgesetz Artikel 4. Grundrechte sind Individualrechte. Es wird also in erster Linie der persönliche Glauben geschützt: Glaubensfreiheit, Bekenntnisfreiheit, ungestörte Religionsfreiheit, religiöse Vereinigungsfreiheit.

Freiheit ist der überragende Wert in der Politik. Für die jüdische Publizistin und Theoretikerin Hannah Arendt (1906-1975) ist der Sinn von Politik Freiheit. Der moderne Verfassungsstaat muss diese Freiheiten des Menschen sichern und darf deshalb keine eigene Weltanschauung propagieren. Anstatt vorzuschreiben, was die Menschen zu glauben haben, soll der freiheitliche Staat einen Rahmen für die Entfaltung von Werten schaffen. Ich habe also die Möglichkeit, ein frommer Mensch zu sein, ohne dass mir von staatlicher Seite vorgeschrieben wird, was fromm ist und wie ich fromm zu leben habe.

„Viele aufrichtige Demokraten hegen den Wunsch, dass ihr Land auf irgend­einem Wege - meistens durch die Schule - eine entsprechende Lehre verbreite. Die einen möchten das Regime in einem christlichen Credo verwurzelt sehen; andere in einer rationalen Weltordnung, die etwa der Aufklärung entnommen sein könnte und die sie für wissenschaftlich begründet halten; wieder andere in den ethischen Regeln eines staatlich anerkannten Moralismus“, hat die Schweizer Philosophin und Pädagogin Jeanne Hersch (1910-2000) einmal kritisiert. Demgegenüber sieht sie jedoch die „echteste Rechtfertigung der Demokratie“ darin, dass sie ihren Bürgerinnen und Bürgern keine Ideologie und keine Weltanschauung und keinen Moralismus aufdrängt: Die Demokratie „bemüht sich vielmehr, für jedes menschliche Wesen einen Leerraum zu wahren, der es ihm erlaubt, zu denken, zu glauben, zu hoffen und zu handeln, wie es ihm sein inneres Gewissen eingibt. Es ist dann jedes Bürgers Pflicht, in seiner Zeit, in seiner Welt, in seiner konkreten geschichtlichen Situation als verantwortliches, wirksames ‚Ich‘ gegenwärtig zu sein. Keine Lehre, keine Regeln können diesen ‚acte de présence‘, dieses ‚Hier-bin-ich‘, ersetzen, das allein fähig ist, die durch die Demokratie geschützte Leere mit menschlicher Sub­stanz zu füllen. Erst durch ihre Berufung zu diesem verantwortlichen ‚acte de présence‘, der schließlich in jedem Bürger seine tätige Freiheit ist, haben die Menschen Rechte.“

Die politische Freiheit ist in diesem Sinne eine „leere“ Freiheit, die von den Menschen gefüllt werden muss oder wie es die jüdische Philosophin Jeanne Hersch formuliert hat: „Was die Bürger von der demokratischen Ordnung zu erwarten haben, ist nicht das Geschenk der eigenen Freiheit - das kann kein politisches Regime, diese Aufgabe müssen sie selber anpacken -, sondern nur eine Einrichtung des gemeinsamen Lebens, die für jeden Einzelnen die möglichst günstigsten Bedingungen für seine Suche nach Freiheit schafft.“

Freiheit für etwas

Diese „leere Freiheit“ bedeutet für den Staat wiederum, dass er - um die Formulierung des früheren Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde zu gebrauchen - von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Unser Gemeinwesen braucht deshalb Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrer Freiheit etwas anzufangen wissen, Menschen, die an etwas glauben, die von etwas überzeugt sind, die sich für ihre Werte und Ideale einsetzen. Denn „frei sein heißt, etwas ganz Bestimmtes unbedingt zu wollen“, so Jeanne Hersch.

Damit dieser unbedingte Wille der Einzelnen sich nicht in Egoismen verrennt und auch nicht wirkungslos verpufft, braucht es Gemeinschaften, die gemeinsame Werte leben, Beziehungen und Verbindlichkeit fördern und Solidarität stärken. Gerade in Zeiten starker Individualisierung und Vereinzelung stiften solche Gemeinschaften für den Einzelnen Sinn und stärken seine Identifikation mit dem Ganzen.

Der demokratische und freiheitliche Staat wird also von der Gesellschaft getragen und lebt aus ihren moralischen und sozialen Qualitäten und Quellen. Er braucht Menschen, die grundlegende Werte miteinander teilen und die sich auf verbindende Normen, gemeinsame Maßstäbe und eine Vorstellung von Gerechtigkeit, Zusammenleben und Solidarität verständigen können. Diese Gemeinsamkeiten sind nicht einfach schon da, sondern werden von Gemeinschaften wie zum Beispiel den Kirchen gestiftet, gelebt und vermittelt. Insofern ist die Gesellschaft nicht einfach die Summe aller Individualisten, sondern immer auch die Gemeinschaft der Gemeinschaften. Solch eine Gemeinschaft sind die Kirchen, die Gemeinschaft der Gläubigen, die wichtigste und wahrlich größte und bedeutendste Gemeinschaft unserer Zivilgesellschaft.

Religiöses fördern

Der Staat muss sinnstiftende Gemeinschaften fördern, da er selber keinen Sinn stiften kann und - wenn er freiheitlich bleiben will - auch nicht darf. Nicht im Staat, sondern in den Religionen äußert sich die menschliche Sehnsucht nach Fülle. Religionen sind deshalb nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuchverbot 2003 heißt es: „Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen.“ So gesehen ist Religion keine Privatsache, sondern Teil der Gesellschaft. Weil unsere Verfassungsordnung dies anerkennt, sind wir ein säkularer und kein laizistischer Staat.

Der Staat darf sich aber nicht an Glaubensgrundsätze einer bestimmten Religionsgemeinschaft gebunden fühlen. Eine Einheit von Staat und Religion würde die Freiheit untergraben. Der Staat muss in religiösen Fragen neutral bleiben. In Weltanschauung und Religion müssen die Menschen sich unterscheiden dürfen. Deshalb heißt es in dem in das Grundgesetz übernommenen Artikel 137 der Weimarer Verfassung ganz schlicht: „Es besteht keine Staatskirche.“

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben damit einen Weg gewählt, der nicht das Religiöse aus dem öffentlichen Raum in die Privatheit verbannt, sondern der lediglich eine Identifikation des Staats mit einer Religion verhindert. Es ist zwar schwieriger, als säkularer Staat diese religiöse Pluralität zu gewährleisten, als durch Laizität alles Religiöse aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen, aber freiheitlicher.

Niemand darf zur Religionsausübung gezwungen werden, und der Staat selbst enthält sich auch einer Bewertung der Religionen. Aber er ermöglicht und fördert die Religionsausübung, wozu auch die gesellschaftliche Präsenz der Kirchen und der Religionsgemeinschaften gehört. Diese Art der Religionsfreiheit in unserem Staat kann man als „aktive Religionsfreiheit“ bezeichnen.

Diese kooperative Trennung ist keine Verletzung der Neutralität des Staates und der Freiheitlichkeit der Verfassung, sondern eine große Chance für den Staat und ein Gewinn für die Gesellschaft. Das Grundgesetz gibt hier eine spannungsreiche, aber sehr kluge Konstruktion vor, wie es das Beispiel des konfessionell getragenen und geprägten Religionsunterrichts zeigt. Die Lehre und die Glaubensunterweisung sind im öffentlichen, staatlich kontrollierten Raum angesiedelt, ohne dass sich der Staat in die Inhalte einmischt. Die Religionsgemeinschaften verantworten den Inhalt und sorgen für das Lehrpersonal, der Staat kümmert sich um die Organisation und führt die Aufsicht. Die Religionsgemeinschaften und Kirchen sind in ihrer Glaubenslehre frei, die Glaubenslehrer aber zur Treue gegenüber der Verfassung und ihren Grundwerten verpflichtet.

Diese kooperative Trennung befreit zum einen die Politik von falschem Er­wartungsdruck und bewahrt den Staat vor Allmachtsphantasien. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse hat hierzu in der Wochenzeitung „Die Zeit“ eine feinsinnige Unterscheidung gebraucht: „Die Religion handelt vom Heil, während es in der Politik um das irdische Wohl möglichst aller Menschen geht.“ Die Trennung erinnert uns daran, dass es den Religionsgemeinschaften um die letzten Dinge, dem Staat um die bestenfalls vorletzten geht. Zum anderen bringt die kooperative Trennung die Religionen dazu, sich in einem säkularen Umfeld behaupten zu müssen. So müssen sich die theologischen Fakultäten an den Universitäten im Kontext der Wissenschaft bewegen und bewähren. Die Religionsgemeinschaften müssen ihre Glaubensinhalte und Lehren gegenüber der Gesellschaft vernünftig und plausibel kommunizieren und sich den Fragen der Menschen aussetzen. Die Religionen bleiben so anschlussfähig an die Gesellschaft und zeitgenössisch. Der Staat sichert sich ihre gesellschaftliche Integration und kann sie kritisch begleiten.

„Sinn für den Sinn“

Die Kirchen müssen deshalb auch Kritik und Karikaturen aushalten können. Sie können sich sogar selbstbewusst dem Spott stellen - entsprechend Psalm 1: „Wohl dem Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt, nicht auf dem Weg der Sünder geht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern Freude hat an der Weisung des Herrn, über seine Weisung nachsinnt bei Tag und bei Nacht. Er ist wie ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken. Alles, was er tut, wird ihm gut gelingen.“ Deshalb halte ich auch nichts von einem Blasphemie-Artikel im Gesetz. Es ist dagegen notwendig, dass nicht nur die Kirchen, sondern dass auch die anderen Religionsgemeinschaften die Voraussetzungen schaffen, ihren eigenen Religionsunterricht an Schulen erteilen zu können. Der Staat hat jedenfalls ein vitales Interesse daran, die Religionsgemeinschaften auf diesem Weg zu unterstützen. In Baden-Württemberg werden bereits am Zentrum für islamische Theologie an der Universität Tübingen und an der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg Lehrkräfte für die Gymnasien ausgebildet.

Die lebhafte, aber nicht immer sachliche und faire Debatte um die Beschneidung hat gezeigt, wie sehr inzwischen die religiöse Dimension an Plausibilität eingebüßt hat. Dass die rituelle Aufnahme in eine religiöse Gemeinschaft und der im Ritus sichtbar werdende unzerstörbare Bund Gottes mit dem Menschen gerade Ausdruck der echten und tiefen Fürsorge der Eltern für ihr Kind sein können, können viele Menschen nicht mehr als ernst zu nehmendes Argument nachvollziehen. Nur noch medizinische, physiologische und hygienische Argumente werden ernst genommen. Die nachlassende Bindekraft des Religiösen darf aber nicht als Begründung dienen, das Religiöse aus dem öffentlichen Raum zu verbannen und eine laizistische Trennung von Gesellschaft und Religion anzustreben. Im Gegenteil: Die Religionsvergessenheit mancher Beiträge zur Beschneidung hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass die Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft den „Sinn für den Sinn“ (Jeanne Hersch) wachhalten. Wir konnten beobachten, wie rasch sich ohne die Tiefendimension des Religiösen ein - wie es Bundespräsident Joachim Gauck bei der Eröffnung der Synagoge in Ulm formulierte - „Vulgärrationalismus“ breit machen kann, der dann auch nicht immer vor antisemitischen und islamophoben Untertönen gefeit ist.

Öffentlich wirken

Wir brauchen die Religionen, die in uns die Sehnsucht nach einem Leben in Fülle wecken und unserem Freiheitsstreben eine Richtung und einen Sinn verleihen. Dieser für unsere Gesellschaft so wichtigen Aufgabe können die Religionsgemeinschaften aber nicht nachkommen, wenn die positive durch die negative Religionsfreiheit verdrängt wird und die Religionsgemeinschaften ins Private abgedrängt werden und nicht in der Öffentlichkeit wirken können. Notwendig ist eine zweifach „aktive“ Religionsfreiheit: eine, die vom Staat aktiv ­gefördert wird und die deshalb von den ­Religionsgemeinschaften zum Wohle der ganzen Gesellschaft aktiv mit Leben erfüllt werden kann und muss.

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