Kulturelle Veränderungen sind nicht in Jahren oder Jahrzehnten zu messen, allenfalls in Jahrhunderten. Daher vermag niemand zu sagen, wohin sich der Islam entwickelt, ob er eine grundlegende Theologie- wie Glaubensreform anstrebt und eine entschiedene Modernisierung durch Aufklärung, Entmythologisierung und „Ent-Magiesierung“ erreicht. Das würde zähes und hartes Ringen voraussetzen, wie es das Christentum spätestens seit Beginn der Neuzeit erschüttert und bewegt hat. Selbst dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen.
Die aktuellen Trends in der islamischen Religionsgeschichte stimmen nicht besonders hoffnungsvoll. Die Zeichen stehen global weniger auf Verständigung und Fortschritt als auf Konfrontation und Tradition. Der Islam hat sich infolge des 11. Septembers 2001 und mit den arabischen Rebellionen innerhalb seiner klassischen Hoheitsgebiete militarisiert und ideologisiert, inzwischen auch außerhalb, in Einwanderungsgebieten, wo Hetzprediger ihre Konvertiten machen. Die wohlmeinende, jedoch hilflose Integrationsrhetorik lässt nicht darüber hinwegsehen, dass die Parallelgesellschaften anwachsen, besonders in den Ballungsräumen. Sogar aufgeschlossene, westlich angepasste, vermeintlich säkulare Milieus junger Muslime, die einmal eine islamische Elite bilden wollen, grenzen sich zusehends von der Gastgeberkultur ab. Selbstbewusst „verschleiern“ sich muslimische Schülerinnen und Studentinnen mit einem „modernen“ Kopftuch als Accessoire, um ihr Anderssein und moralisches Überlegensein vor aller Augen zu demonstrieren.
Die Verhandlungen zwischen Brüssel und Ankara über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union wurden nach Jahren der Stagnation zuletzt wieder beschleunigt. Just in diesem Augenblick „treibt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan seine religiöse Agenda voran“, berichtet die „Badische Zeitung“. „Erst ließ er das Tragen des islamischen Kopftuchs im öffentlichen Dienst und der Nationalversammlung legalisieren; nun sollen Studentinnen und Studenten nicht mehr unter einem Dach leben.“
Das mag man als moralische Fürsorge positiv bewerten, darin noch kein Signal für religiös-politische Radikalisierung sehen. In Deutschland, das vom türkischen Islam geprägt ist, der sich erheblich von den strengen arabischen Richtungen unterscheidet, die Frankreich schwer zu schaffen machen, haben sich viele assimilierte Muslime, gesellschaftliche Aufsteiger, von der angestammten Religion bis auf folkloristische Reste verabschiedet und der freizügigen Konsumkultur unterworfen. Doch gibt es selbst in diesen Kreisen Regressionstendenzen.
Koran im Minirock
Wer die täglichen Nachrichten von den Islamisierungswellen in Afrika und Asien verfolgt, mit gesteigert gewalttätigen Übergriffen auf Andersgläubige, die als Ungläubige betrachtet werden, kann sich dem Eindruck eines Dominoeffekts nicht entziehen, ob Mali, Senegal, Nigeria, Kenia, Tansania, Sansibar, Madagaskar, kaukasische Republiken oder halbautonome russische „Randgebiete“, Pakistan, Nordindien, Malaysia mit seinem „Allah“-Streit, von den amerikanischen Invasionsstaaten Afghanistan oder Irak ganz zu schweigen… Inzwischen häufen sich Anschläge mutmaßlich muslimischer Uiguren in China. In Indonesien, dem mit 250 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten islamischen Staat der Welt, der bisher als religiös moderat, für westliche Lebensweisen aufgeschlossen gelobt wurde, mehren sich ebenfalls Übergriffe radikaler muslimischer Gruppen. Darauf - und auf die Widersprüchlichkeit im Islam selber - hat soeben der „Spiegel“ hingewiesen: „Wo Allah rockt“. Einerseits wird die Pop-Sängerin Julia Perez, die gern viel nackte Haut zeigt, in den „quirligen Großstädten“ von jungen Muslimen als Idol umjubelt und selbst von älteren Männern als Vorbild angehimmelt. Die Religionsgelehrten waren jedoch nicht amüsiert, als ihren CDs ein Kondom beigelegt war und sie als Beweis für ihre Religiosität im Minirock öffentlich Koran-Exemplare verteilte.
Zugleich erobert sich schleichend ein strengerer Islam Terrain. Die Anschläge muslimischer Terroristen 2002 auf Bali mit über 200 Toten waren ein erstes Störsignal - möglicherweise der Anfang eines Umschwungs. „Spiegel“-Reporter Erich Follath berichtet: „Noch sind es in und um Jakarta keine dramatischen Rückschritte für den ‚toleranten Islam‘, eher Nadelstiche. Das Finale der Miss-World-Wahl musste im September auf die hinduistisch geprägte Urlaubsinsel Bali verlegt werden. Und in einem Distrikt von Jakarta unterschrieben über 2000 Einwohner eine Petition gegen eine … Lokalpolitikerin, nicht weil sie unfähig gewesen wäre, sondern weil sie als Christin angeblich ‚ungeeignet für einen überwiegend muslimischen Stadtteil‘ sei …Die Weltoffenheit aber nimmt ab, je weiter man in die Provinz kommt.“
Ausgerechnet Banda Aceh, das beim Tsunami 2004 viele zehntausend Tote zu beklagen hatte und dank großzügigster Hilfe aus dem Westen, von Christen, wieder aufgebaut, teils geradezu nobel hergerichtet wurde, ist unter die Herrschaft muslimischer Eiferer geraten. Die autonome Provinz Aceh „wird straff geführt. Sehr straff. Hier regieren Fanatiker, die Scharia ist das oberste Gesetz, und gemeint ist eine sehr strenge Variante.“ Aceh galt einmal als Schmelztiegel vieler Kulturen. Bevor die Monsterwellen zuschlugen, war es ein Unruheherd, in dem Separatisten einen blutigen Krieg führten. Europäische Vermittler nutzten die Naturkatastrophe, um die Kämpfer zu einem Friedensschluss zu bewegen. Doch der Preis sei hoch gewesen: „Aus der Guerilla-Bewegung rekrutierte sich die neue islamistische Führung, das hohe Maß an Autonomie, das die Zentralregierung gewährte, führte zu einem Staat im Staate.“ So wie hier haben sich auch in Mali oder im Sudan separatistische Ideen mit Islamisierungs-Heilserwartungen gepaart.
Die Schlacht um Syrien
Auf verhängnisvolle Weise geraten dabei die Muslime selber in einen internen Kulturkampf, der sich mit weiteren Konflikten überlagert und auch die Christen in Bedrängnis bringt. Diese werden zum Beispiel in Syrien von der Krise zerrieben, in verschiedene „Lager“ gespalten. Der Jurist und Schriftsteller Fawwaz Haddad macht in der „Frankfurter Allgemeinen“ darauf aufmerksam. Die meisten Kirchenführer hätten sich auf die Seite Assads geschlagen, ihre Gläubigen vor dem Sympathisieren mit der Revolution gewarnt, weil man unter dem bisherigen Regime geschützt sei, nicht aber, wenn Salafisten und Al-Qaida die Herrschaft in Damaskus an sich reißen. Viele Christen sehen das jedoch anders. Sie wollen Demokratie, Assads Sturz - und unterstützen daher seine Gegner. Haddad bestätigt: „Sollten Islamisten in Syrien an die Macht kommen, wäre das eine Bedrohung für die Identität und die Rechte der Christen.“ Aber ebenso würde das „für die syrischen Muslime… eine ihnen fremde Lebensart bedeuten“. Niemand wisse freilich, wie das Ganze ausgeht, „was der gegenwärtige Sturm der Veränderung“ bedeuten wird. Es sei verständlich, wenn die Christen das Land verlassen wollen, vor allem die jungen und vielen sehr gebildeten. Die Schlacht, die momentan stattfindet, begreifen sie nicht als ihre Schlacht „und das Regime nicht als ihr Regime“. Kirchen wurden durch Kämpfe und systematische Bombardierung genauso zerstört wie Moscheen und Schulen. Christen und Muslime werden umgebracht, leiden gleichermaßen. Christen, die sich auf die Seite der Revolution geschlagen haben, sagten, wenn die Krise in Syrien sektiererische Züge angenommen habe, dann auch deswegen, weil das Regime Minderheiten gegen die Sunniten aufgehetzt habe und weil Dschihadisten ins Land strömten.
Fawwaz Haddad beobachtet aber „auch viel Solidarität zwischen Muslimen und Christen“. Er wünscht sich, dass die Angst die Christen nicht allzu sehr dazu verleitet, ihr Land wegen der radikalen Muslime zu verlassen. Statt die Auswanderung zu beschleunigen, solle der Westen auf einen Waffenstillstand hinwirken, „der es den geflüchteten und vertriebenen Syrern ermöglicht, in ihr Land zurückzukehren“.
Der große syrisch-libanesische Dichter Adonis urteilte in der „Neuen Zürcher Zeitung“ wegen der islamischen Gewalttäter eher pessimistisch: „Was jetzt in Syrien geschieht, ist unerhört; unsere Geschichte verzeichnet nichts Vergleichbares. Wie kann der Westen auf der Seite dieser Kräfte sein?“ Zur arabischen Rebellion insgesamt meint er: „Statt eine Bewegung gegen die Regression zu sein, ist die Revolution nun die Regression selbst … Eine Revolution in einem arabischen Land darf nicht auf Religion gründen. Die Religion ist keine Lösung; bei uns ist die Religion das Problem.“
Der Papst und der Armeechef
Nicht minder dramatisch stellt sich die Lage in Ägypten dar. Die „Frankfurter Allgemeine“ beobachtet: „So verankert Ägyptens Kopten in der Geschichte des Landes auch sein mögen, so sehr sind sie in der Gegenwart an den Rand gedrängt … Obwohl die Islamisten inzwischen gestürzt sind, scheint der Staat nicht willens oder in der Lage, Ägyptens Christen zu schützen. Salafisten und Muslimbrüder nehmen den Kopten zudem übel, dass ihr Papst Tawadros II. an der Seite Abd al Fattah al Sisis stand, als der Armeechef die Entmachtung Mursis Anfang Juli bekanntgab. Seitdem sind die Attacken auf christliche Einrichtungen nicht abgerissen, Entführungen und Schutzgelderpressungen in vielen Gemeinden Oberägyptens stehen auf der Tagesordnung.“ Immer wieder gibt es Anschläge, werden Christen umgebracht.
Auf eine weitere Wahrheit weist der seit langem in Ägypten tätige Geistliche Joachim Schroedel, der in Kairo die deutschsprachige katholische Seelsorge leitet, in der Zeitschrift „Das Heilige Land“ hin: „Gerade die letzten Monate haben die Solidarität zwischen den ‚normalen Muslimen‘ und den ‚normalen Christen‘ eher verstärkt. Die noch andauernden schweren Auseinandersetzungen zwischen fanatisierten Muslimen und aufrecht nach Demokratisierung strebenden Muslimen und Christen belasten den Weg in die Zukunft schwer.“
Hetzjagd gegen Khorchide
Welche Art Islam wird die Oberhand gewinnen? Diese Frage stellt sich auch weit entfernt von den Kriegszonen, zum Beispiel in Deutschland. Hier ist neuerdings ein muslimischer Gelehrter zur Zielscheibe des Kulturkampfes mitten im Islam geworden: Mouhanad Khorchide. Der Leiter des schon bei der Gründung hochgelobten Zentrums für Islamische Theologie in Münster verantwortet die Ausbildung islamischer Religionslehrer. Er versucht, eine moderate Deutung des Islam und des islamischen Rechts im Bewusstsein seiner Religionsangehörigen wie der bundesrepublikanischen Gesellschaft plausibel zu machen. Im Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ (bei Herder) schreibt er: „Ich wundere mich immer wieder über Muslime, die darauf beharren, dass Gott im Islam nicht der absolut Barmherzige ist, sondern auch der zornige und bestrafende Gott sei, während der ‚liebende‘ Gott der christliche Gott sei … Das grundsätzliche Problem heute ist für mich, dass viele Muslime von der Vorstellung eines repressiven Gottes ausgehen, der lediglich will, dass man ihm gehorcht. Diese Vorstellung wurde und wird von diktatorischen Regimen in den islamischen Ländern gefördert … Eine Theologie, die Menschen zu unmündigen Wesen erklärt, ist im Sinne diktatorischer Regime.“
In seinem jüngsten Buch „Scharia - der missverstandene Gott“ versucht Khorchide auf dieser Linie eine Weichzeichnung islamischen Rechts. Die Scharia sei nicht als juridische Straf-Anweisung zu verstehen, vielmehr als geistiger Prozess der Läuterung in Liebe und Freiheit. „Scharia, verstanden als der Weg des Herzens zu Gott, gibt dem Menschen selbst das Ruder in die Hand.“ Andererseits schwächt Khorchide seine Aussagen vermutlich aus Rücksichtnahme gegenüber den orthodoxen Auslegern wieder ab, wenn er erklärt: „Die Dynamik der Scharia bedeutet keineswegs Beliebigkeit, denn neben der unveränderten Form religiöser Rituale steht Scharia für allgemeine Prinzipien, deren Gültigkeit kontextunabhängig bleiben muss.“ In einem „Zeit“-Interview erklärte er hingegen: „Was wir heute als islamisches Recht bezeichnen, ist nicht göttlich, das ist von damaligen Rechtsgelehrten entwickelt, die im Geist ihrer Zeit gedacht haben. Auch im Koran vorkommende juristische Aussagen, dass Dieben die Hand abzuhacken sei oder dass Frauen nur halb so viel erbten wie ein Mann, müssen in ihrem historischen Kontext gelesen werden. Nicht solche juristischen Maßnahmen machen die Scharia aus, sondern die Prinzipien dahinter wie Gerechtigkeit. Versteht man sie so, wäre es auch kein Problem, die Scharia mit unseren Menschenrechten zu vereinbaren.“
Das sehen andere Muslime anders. Gegen Khorchide ist eine Hetzjagd entflammt, vor allem von Salafisten. So wurde von dem berüchtigten Hetzprediger und deutschen Konvertiten Pierre Vogel, dem die Justiz anscheinend nicht das Handwerk legen kann, laut „Westdeutschem Rundfunk“ ein Video verbreitet: „Es gibt in Münster einen Scharlatan, einen Kafir, der heißt Mouhanad Khorchide, und der bildet Lehrer aus. Und hier müssen die Muslime sagen, diesen Typen wollen wir nicht! Und wir müssen in der Lage sein, dafür zu sorgen, dass er aus der Universität rausfliegt.“ Ein Kafir ist ein Ketzer, Häretiker, Ungläubiger.
Vollends irritiert, dass sich nun sogar angeblich moderate islamische Verbände der Opposition gegen Khorchide angeschlossen haben, wenn auch in gemäßigten, wohl abgewogenen, jedoch keineswegs weniger entschiedenen Tönen. So erklärte Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, der aber nur einen geringen Teil der Muslime vertritt, in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur: „Die muslimischen Verbände sind unzufrieden mit … Khorchide. Wir bekommen täglich Briefe von unseren Gemeindemitgliedern, die sich beschweren. In Münster werden Inhalte beschlossen und Professoren bestellt - über die Köpfe der Religionsgemeinschaften hinweg. Münster agiert nicht entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wonach Lehrinhalt und Lehrpersonal in Abstimmung mit den Religionsgemeinschaften festgelegt werden sollen.“ Khorchides Mandat sei ausdrücklich auf diese Zustimmung gebaut, „weil bekenntnisorientierter Glaube vermittelt werden soll und keine Orientalistik. Khorchide redet, schreibt und handelt aber wie ein Orientalist und nicht wie ein Islamlehrer.“ Stattdessen brauche man Professoren, „die zunächst einmal die 1400-jährige muslimische Geistesgeschichte aufarbeiten. Und das heißt: Monografien und analytische Bibliografien sprachlich und kulturell in den deutschen Sprachraum zu bringen … Es geht hier nicht um Orientalistik, sondern um die Glaubenslehre. Hier muss es ein Mindestmaß an Authentizität geben. Dieses zu beurteilen, obliegt weder dem Staat, der neutral bleiben muss, noch dem einzelnen Wissenschaftler. Was authentisch ist, müssen die Gläubigen sagen - allerdings plausibel.“
Der „Küng“ der Muslime?
Diese Argumentationsmuster gegen einen Islamgelehrten, der ja bloß eine leichte Anpassung des Islam im europäischen Kontext versucht, erinnern an Lehrverbote für christliche Theologieprofessoren, die Bischöfen, vatikanischen Behörden oder dem Papst nicht genehm sind. Bezeichnend ist, dass Khorchide anders als etwa Hans Küng mit seiner geschichtsmächtigen Reformtheologie im christlichen Bereich keine aufgeklärt gläubige, gebildete, breite muslimische Basisbewegung hinter sich hat, die ihm den Rücken stärkt und von der Zukunftsträchtigkeit seiner Theologie überzeugt ist. Khorchides im Grunde bloß minimal modernisierter Ansatz steht anscheinend im Niemandsland. Wer in Deutschland liest überhaupt seine doch eher populär ausgerichteten Werke? Offenbar überwiegend Christen, nicht Muslime.
Erschwerend kommt hinzu, dass Khorchide auch von anderer Seite angegriffen wird. So erklärte der Bayreuther Islamwissenschaftler Hans-Thomas Tillschneider in einer ausgesprochen polemischen Kritik des Buches „Islam ist Barmherzigkeit“ in der FAZ: Es „besteht aus biografischen Anekdoten, etwas Proseminarwissen zur islamischen Theologie und Geschichte, Versatzstücken aus der Tradition des Reformislam, einem guten Schuss Esoterik und einem bunten Strauß von Allerweltsansichten über Gott und die Religion… Seine These, dass ausnahmslos alle Menschen ins Paradies kommen und auch im Koran die Barmherzigkeit Gottes über allem steht, begründet Khorchide, indem er freundlich klingende Koranverse aus ihrem Zusammenhang reißt, unfreundliche übergeht und die Auslegungsgeschichte des Korans als eitel Menschenwerk ignoriert.“
Wie wird Theologie modern?
In einem früheren FAZ-Beitrag unterzog Tillschneider sämtliche neuen Lehrstühle für islamische Theologie als „Hätschelkinder der Politik“ einer schwer negativen Beurteilung: Sie seien „weich gebettet und von der Islamwissenschaft mit Samthandschuhen angefasst“. Daher habe die islamische Theologie bislang nicht den geringsten Widerstand überwinden müssen. „So aber entsteht keine moderne Theologie, die es verdient, im Gesamtgefüge der universitären Fächer eine Rolle zu spielen … Wenn wir wollen, dass der Islam in Deutschland eine moderne Theologie ausbildet, müssen wir ihn herausfordern; wir müssen seine Kerndogmen als historisch bedingte Konstrukte durchsichtig machen; wir müssen seine Texttraditionen kritisieren und dekonstruieren; wir dürfen die islamische Theologie von all den Prozeduren, die über unsere eigene Tradition hinweggegangen sind, nicht verschonen. Eben das ist die Aufgabe der Islamwissenschaft. Wenn sie diese Aufgabe nicht erfüllt, gehört sie abgeschafft, denn eine zweite, nur etwas verwässerte Islamtheologie braucht niemand. Die Islamwissenschaft wird entweder prononciert traditionskritisch sein, oder sie wird überhaupt nicht sein.“
Mit Blick auf ähnliche Probleme in der christlichen Theologiegeschichte ist allerdings zu bedenken, dass eine neue islamische Theologie überhaupt erst einmal eine Anfangschance benötigt, um sich in anderen gesellschaftlichen wie kulturellen Kontexten entwickeln zu können - Schritt für Schritt. Es hilft ja nicht, jene Islam-Gelehrten, die die Notwendigkeit von Reformen erkannt und größte Probleme im innerislamischen Kulturkampf bekommen haben, bloß auf die harten Deutungsansichten ihrer Gegner festzunageln oder zu verlangen, der Überlieferung abzuschwören. So funktioniert weder eine Erneuerung der christlichen Theologie noch einer islamischen Theologie. Dogmenkritik, Aufklärung und Modernität - auch der Spiritualität - wachsen auf dem Mutterboden religiösen Respekts. Khorchides Ansatz mag unvollkommen sein sowohl mit Blick auf die Wissenschaft, als auch im Hinblick darauf, dass ihm ein bedeutender innerislamischer Leserkreis fehlt. Dennoch sollte angesichts der globalen Konflikte um die Deutungshoheit über muslimischen Glauben und muslimisches Leben jenen Personen Wertschätzung entgegengebracht werden, die wissen, dass der Islam wie jede Religion nur dann zukunftsfähig ist, wenn er sich weiterentwickelt im Horizont veränderter Welt-, Lebens-, Wissenschafts- und Glaubenserfahrung.