SozialstaatEine Sau für drei Koteletts

Der Sozialrichter Jürgen Borchert sieht eine "Sozialstaatsdämmerung" heraufziehen, wenn der Gesetzgeber nicht mutig grundlegende Reformen beschließt, um die Familien und künftige Generationen zu entlasten. Eine Streitschrift zur rechten Zeit, mitten im Bundestagswahlkampf.

Die Deutschen leben in einer der reichsten Nationen der Welt. Dennoch bahnen sich auch in diesem Wohlfahrtsstaat schleichend Verwerfungen an. Die Vermögen und Einkommen sind schon extrem ungleichgewichtig verteilt und vermehren sich weiter immer schräger. Die Überalterung der Gesellschaft - mit explodierender Staats- und Privatverschuldung - bürdet den Jüngeren schwere Lasten auf. Die Kinder der Familien von heute müssen einmal auch die stetig steigende Zahl von Singles und kinderlosen Paaren versorgen, für deren gesteigerte finanzielle - aber ebenso pflegerische - Ansprüche im Alter aufkommen. Das heißt konkret: Der Nachwuchs wird im Übermaß fremde Renten, Pensionen und Versicherungsfonds bezahlen, den „Mehrwert“, die Überschussbeteiligung, die Renditen erwirtschaften. Denn die vermeintliche Privatvorsorge ist gar keine Privatvorsorge, keine Eigenvorsorge im wahren Sinn, wie ständig mit falscher Begrifflichkeit behauptet wird, sondern nur eine verschleierte Umlage über den Umweg der Versicherungskonzerne statt über den direkten Weg des Staates. Auch für diese zweite Umlage arbeiten die, die nach uns kommen. Ist das ganze soziale Absicherungssystem am Ende nur noch ein riesig-riesterhaftes Täuschungsmanöver, ein findiger Betrug an den Nachgeborenen, der irgendwann abrupt ans Licht tritt, je weiter man in die Zukunft schreitet?

Tatsächlich gibt es handfeste Hinweise, die diese Vermutung nahelegen. Jürgen Borchert, Sozial-Fachmann, Richter am Hessischen Landessozialgericht, ausgewiesener Kenner der einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts und streitbarer Publizist, hat seit Jahren Belege gesammelt. Er hat akribisch die Fakten nachgerechnet, die im politischen Alltagsgeschäft beharrlich übergangen, vernebelt und von allen im Bundestag vertretenen Parteien von Legislaturperiode zu Legislaturperiode auf die lange Bank geschoben werden. Denn die Realität könnte Aufruhr verursachen, Neiddebatten auslösen, Besitzstandsängste verstärken sowie das egomanische Anspruchsdenken insbesondere der Wohlhabenden verstärken, bedeutende Wähler- und Lobbygruppen verprellen.

In einem neuen Buch - als emotional gewürztes Werk gezielt mitten in den Wahlkampf hinein platziert - legt der Autor seine Bestandsaufnahme vor: „Sozialstaatsdämmerung“ (Riemann Verlag). Seine Kernthese: Die Lasten der Wohlfahrtsrepublik sind und werden tatsächlich zunehmend ungleich, ungerecht verteilt. Die beschleunigten Schieflagen zwischen Familien und Kinderlosen, zwischen Heutigen und Nachgeborenen könnten zu erheblichen Unruhen, im schlimmsten Fall zu einem Untergang des „Staatsschiffs“ führen.

Rückkehr zur Klassengesellschaft

Der Autor greift weit aus, bis in die Frühgeschichte christlicher Soziallehre hinein. Er zitiert zum Beispiel den Kirchenschriftsteller, Staats- und Gesellschaftskritiker Salvianus, der um 400 bei Trier oder Köln geboren wurde, ab 439 als Presbyter im Marseille lebte und nach 480 starb. Der Gelehrte schrieb und predigte gegen eine bloß äußerliche Übernahme des Christentums und verlangte moralische Vertiefung, Verantwortung im Umgang mit persönlichem Besitz, fürs Gemeinwohl. Die gesellschaftlichen Turbulenzen der antiken Völkerwanderung erklärte er in seinem Werk über die Herrschaft Gottes - mit manch heftiger Überzeichnung und drastischer Polemik - als Strafe des Himmels für soziales Fehlverhalten: „Es ist gemein und tadelnswert, dass nicht alle aller Bürden tragen, wie es aller Pflicht ist, sondern dass im Gegenteil die Abgaben der Reichen die Armen bedrücken und die Schwächsten mit den Steuern der Reichen belastet sind.“ Jürgen Borchert fügt einen Ausspruch von Augustinus hinzu, den auch Papst Benedikt XVI. bei seiner Rede im Deutschen Bundestag erwähnt hatte: „Wo die Gerechtigkeit fehlt - was sind die Staaten dann anderes als große Räuberbanden!“

Der Sozialrichter fürchtet, dass wir auf die antiken Probleme zusteuern, nur unter anderen Bedingungen. Die Bundesrepublik sei „zum Paradies für Superreiche“ geworden. Hier lebten etwa hundert Milliardäre und bereits fast eine halbe Million (Multi-)Millionäre. Dem obersten Zehntel der Bürger gehörten nahezu zwei Drittel des Privatvermögens mit überdurchschnittlich dynamisiertem Zufluss von Nettoeinkommen. Noch drastischer wird es bei der oberen Klasse einer sich neu konstituierenden Klassengesellschaft: Ein Prozent besitzt mehr als ein Drittel des Gesamt-Privatvermögens. Unfassbar: Das winzige oberste Tausendstel - ein Promille - vereinigt auf sich fast ein Viertel von allem. Der Richter befürchtet, dass der Sozialstaat, der nach dem Krieg den Wiederaufbau grundgelegt, das Wirtschaftswunder erzeugt und die Demokratie stabilisiert hat, „längst Vergangenheit“ ist. „Statt wie früher von oben nach unten verteilt er nun von unten nach oben um; die Probleme, Notlagen und Risiken, vor denen er eigentlich schützen soll, werden so von ihm zunehmend selbst hervorgerufen!“

Das „Trümmerfrauenurteil“

Zwar ist die Arbeitslosigkeit rückläufig. Doch um die acht Millionen Menschen sind inzwischen im Niedriglohnsektor beschäftigt, was sich gehaltsmäßig als Abwärtsspirale fortsetzt bis ins Alter: Alle dieserart „Beschäftigten“ seien „Kandidaten für Renten weit unter dem Grundsicherungsniveau“. Denn „um einen Rentenanspruch in Höhe von 700 Euro zu erwerben, muss man derzeit vierzig Jahre lang ohne Unterbrechung zu einem Stundenlohn in Höhe von derzeit 11 Euro arbeiten!“ Doch was sind schon lächerliche 700 Euro, wofür man kaum noch eine kleine Wohnung mieten kann!

Dramatisch wird es für die Familien, die mit Peanuts wie Kita-Propaganda, Elterngeld, Betreuungsgeld und minimalem Kindergeld abgelenkt, abgespeist, beschwichtigt werden. Denn eigentlich bezahlen die Familien über die immensen indirekten Verbrauchssteuern, etwa Mehrwertsteuer, selber ihre eigenen, angeblich vom Staat gewährten „Subventionen“, die in Wirklichkeit überhaupt keine sind. Die Erzeugung, Ernährung und Bildung von Kindern, die hohe Leistung der Reproduktivität und Produktivität von „Humankapital“, zählt nichts, ist ökonomisch nicht anerkannt, wird staatlich sogar bestraft. Bereits im 19. Jahrhundert, in der Zeit der Industrialisierung, habe der Nationalökonom Friedrich List dies erkannt, als er über seine Zunft spottete: dass bei ihr „derjenige, der Schweine erzieht, ein produktives Mitglied der Gesellschaft“ sei „und der, der Kinder erzieht, ein unproduktives“.

Jürgen Borchert erinnert noch einmal an das aus dem politischen Disput verdrängte „Trümmerfrauenurteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1992, woraus die Parlamentarier bis heute nicht die angemahnten gesetzgeberischen Konsequenzen gezogen haben. Damals ging es darum, dass eine neunfache Mutter mit einer Altersrente von 360 Mark abgespeist wurde, was nicht einmal die Hälfte des Sozialhilfeanspruchs ausmachte. Die von dieser Frau erzogenen Kinder waren allesamt in berufliche Spitzenpositionen aufgestiegen. Sie bezahlten Monat für Monat Höchstbeiträge in die Rentenversicherung ein, in einer Größenordnung von mehr als dem Zwanzigfachen der Rente der Mutter, also weit über 7000 Mark. Damit hätten sie ihre Mutter am Lebensabend hervorragend versorgen können. Aber ihr Geld floss „auf die Konten x-beliebiger Fremder“, wovon selbstverständlich auch die Kinderlosen profitierten, die keine zusätzliche Erziehungsleistung erbringen mussten. Borchert erklärt: „Mütter haben mit der Kindererziehung den Löwenanteil für die Altersvorsorge ihrer Generation geleistet und erhalten drei Prozent Honorierung: Ist das ein üppiges Geschenk? Nein, eine Schande. Und verfassungswidrig obendrein. Man fragt sich natürlich, weshalb der deutsche Feminismus zu dieser brutalen Behandlung der Mütter im durch und durch patriarchalischen Rentenrecht noch nie ein Wort verloren hat.“

Die Lüge des „Mitversichertsein“

Auch das Argument, dass die Kinder von Beitragszahlern „kostenlos“ mitversichert seien, dass Kinderlose über die Steuern Kindergärten, Schulen, Bildungseinrichtungen, Sportstätten mitfinanzieren würden, lässt Borchert nicht gelten. Es sind Pseudoargumente, weil die angebliche „Mitversicherung“ tatsächlich gar nicht existiert. Die Kinder gelten als „unterhaltsberechtigte Angehörige“, die zwar kein eigenes Einkommen erzielen, denen aber vom Einkommen der Eltern Anteile als unterhaltspflichtiges Einkommen zugerechnet werden. Auch diese Einkommensanteile werden „verbeitragt“. Von ihnen wird genauso die verpflichtende Sozialabgabe abgeführt, in diesem Fall nur abgezogen vom Gehalt von Vater und/oder Mutter. Entgegen der allgemeinen Darstellung bezahlen also die Familienangehörigen ohne eigenes Einkommen sehr wohl Sozialversicherungsbeiträge, „nämlich diejenigen, die aus ihrem Unterhaltsanteil stammen“. Die Behauptung, Kinder seien umsonst „mitversichert“, ist ein Mythos, genauer: glatte Lüge.

Zudem zahlen Familien wegen des höheren Grundbedarfs an Gütern zum Lebensunterhalt weitaus mehr indirekte Steuern als Singles oder kinderlose Paare. Der Fehler der Alltagsargumentation liegt darin, dass nur auf die Lohn- beziehungsweise Einkommensteuer Bezug genommen und die sonstige Steuer- und Abgabenlast - jetzt etwa bei extrem verteuertem Strom -, welche die Familien überproportional trifft, völlig unterschlagen wird. Was also wird den Familien vom Staat „geschenkt“? Gar nichts! Sie erhalten über die behaupteten Familienleistungen nur einen winzigen Bruchteil dessen, was sie vorher selber dem Staat gegeben haben. Borchert sagt es - etwas überspitzt - deutlich: „Der Staat klaut den Familien die Sau vom Hof und bringt drei Koteletts zurück.“

Die Umlage „privatversichert“

Gemäßigter, aber ebenso klar hat der frühere Bundesverfassungsgerichts-Präsident und spätere Bundespräsident Roman Herzog den Sachverhalt einer eklatanten Ungerechtigkeit dargestellt: „Es kann nicht sein, dass ein Ehepaar - bei dem nur der eine ein Leben lang ein Gehalt oder einen Lohn erhält - Kinder aufzieht und am Ende nur eine Rente bekommt. Auf der anderen Seite verdienen zwei Ehepartner zwei Renten. Und die Kinder des Paares, das nur eine Rente bekommt, verdienen diese beiden Renten mit. Das ist ein glatter Verfassungsverstoß … Deswegen erging damals ein Auftrag an den Gesetzgeber. Ihr müsst jedes Mal, wenn ihr die Renten neu regelt, einen Schritt in die richtige Richtung tun. Auf dem Gebiet ist bisher noch nicht sehr viel passiert…“

Herzog schrieb dies 1996. Seitdem hat sich zwar manches verändert, zumal inzwischen mehr Frauen berufstätig sind. Aber viel passiert ist nicht. Mütter, die selber für die Erziehung ihrer Kinder und die psychologisch notwendige Bindung an ihre Kinder sorgen, insbesondere im Kleinkind­alter, nehmen geringen Verdienst in Kauf. Sie arbeiten häufig in Teilzeit, sind vor allem im Niedriglohnsektor beschäftigt. Das Problem der früheren Alleinverdienerschaft besteht jetzt nur auf andere Weise im „Doppelverdienst“ fort. Die Kluft zwischen denen, die als Doppelverdiener hohe Einkommen erzielen und daher weitere private Zusatzversicherungen für den Lebensabend abschließen können, und den Doppelverdienern, die gemessen pro Kopf ihrer Familie nur sehr gering verdienen und wenig übrig haben, um sich für später abzusichern, ist und bleibt riesengroß. Und auch dann sorgen die Kinder der einen faktisch per Umlage - ob staatlich-gesetzlich oder privat versichert - für die Einkünfte der anderen, die keine Verantwortung für Nachwuchs haben. Das von den Versicherungsgesellschaften ausgeschüttete Geld fällt ja ebenfalls nicht vom Himmel, sondern wird - zum Beispiel über hohe Mieten in deren Immobilien - von der Folge-Generation bezahlt.

Aufgrund seiner Analysen stellt Borchert fest, „dass die Wohlhabenden im Lande zunehmend aus ihrer sozialstaatlichen Verantwortung entlassen wurden, und zwar umso mehr, je weiter die Verlagerung der Revenue (Einkommen, Einkünfte; d. Red.) auf indirekte Steuern und Sozialversicherungsbeiträge fortschritt“. Inzwischen würden die öffentlichen Lasten „zu weit über sechzig Prozent aus Sozialbeiträgen und Verbrauchssteuern und somit in einer Weise getragen, welche die unteren Einkommen ungleich härter belastet als höhere und Arbeitnehmer weit mehr als jede andere gesellschaftliche Gruppe.“

Wie extrem die Umverteilung schon vorangeschritten ist, veranschaulicht der Autor mit einem drastischen Vergleich, der keineswegs nur als Sonderfall abzutun ist. Laut „Manager Magazin“ von 2006 besaß Karl Albrecht von Aldi Süd damals ein Privatvermögen von gut sechzehn Milliarden Euro. Wenn ein Angestellter bei jährlich 230 Arbeitstagen mit je acht Stunden über vierzig Jahre hinweg diese Summe verdienen wollte, müsste er einen Stundenlohn von 451000 Euro erhalten. So viel verdienen 80000 Friseure zusammen. Bundesverfassungsrichter, die höchst qualifizierte Leistung erbringen und im Jahr 2003 rund 120000 Euro brutto erhielten, hätten für den Lohn nur einer einzigen „Albrecht-Stunde“ zu dritt ein Jahr lang zu arbeiten. Leistung muss sich wieder lohnen? Eine fromme Lüge! „Tatsächlich sind es ja auch nicht die Leistungen von Karl Albrecht, sondern die seiner 200000 Mitarbeiter, die sein Vermögen so ins Unendliche wachsen ließen und die selbst mehr als die Hälfte ihres mageren Verdienstes bei Vater Staat abliefern mussten und müssen, damit dieser nicht bei ihrem Chef um milde Gaben für das Allgemeinwohl nachsuchen muss.“

Der Richter entlarvt auch ein zweites ständig wiederholtes Ammenmärchen, wonach angehäufter Reichtum besonders intensiv für Innovationen, Arbeitsplätze, Wirtschaftsaufschwung sorge. Das Gegenteil ist der Fall: Mit der Reichtumskonzentration nimmt die Geldumlaufgeschwindigkeit ab und schädigt infolge der Verlangsamung die volkswirtschaftlichen Kreisläufe. Dagegen sorgt eine gleichmäßigere Vermögensverteilung für Beschleunigung des Geldumsatzes und kurbelt die Wirtschaft an. „Reichtum, das zeigt sich auch hier, ist wie Mist: Auf einem großen Haufen stinkt er und vergiftet das Grundwasser, fein verteilt bringt er das Land zum Blühen.“

Gewinner sind die Finanzkonzerne

Liberalistische Wirtschaftsleute verunglimpfen Leute, die eine Vermögensumverteilung verlangen, andauernd als ökonomisch naiv. Borchert stört dies nicht, weil er die Dinge genauer studiert hat. Er spricht sich energisch für gesetzgeberische Verantwortung beim Steuer- und Sozialversicherungsrecht zugunsten von Verteilungsgerechtigkeit aus. Die Verteilungsfrage sei der Schlüssel für das Wirtschaftswunder gewesen. Die gesamte Ökonomie beweise, „dass die Kraftreserven einer Volkswirtschaft immer im untersten Drittel der Einkommenspyramide stecken und deren Stärkung für Hub und Schub der volkswirtschaftlichen Aggregate Investition, Konsum und Staatsverbrauch entscheidend ist … Dass Ungleichheit der Wirtschaft schadet, leuchtet auch unmittelbar ein. Es ist ersichtlich sinnlos, dort Einkommensüberhänge entstehen zu lassen, wo der Bedarf gering ist, und dort, wo der Bedarf hoch ist, zum Beispiel bei jungen Familien, durch Staatszugriff die Einkommen in den Mangelbereich zu drücken.“ Dass Borcherts Entmythologisierung der privaten Vorsorge letztlich auch die Riester-Rente und deren Ableger als große Täuschung entlarvt, verwundert nicht. „Gewinner des großen Riester-Rentenmonopolys sind letztlich … allein die großen Finanzdienstleister, denen der Staat hier Kunden für ihre zwielichtigen Geschäfte zutreibt.“ Bei dieser Art Umlage-Finanzierung, vernebelt als „Eigenvorsorge“ bezeichnet, werden im Gegensatz zur traditionellen gesetzlichen Umlage-Rente nur obendrein noch Gewinne durch die Versicherungskonzerne abgeschöpft.

Vorschlag: BürgerFAIRsicherung

Selbst bei einleuchtenden Analysen sind die Therapievorschläge der Experten stets strittig. So ist es wohl auch hier. Borchert wünscht, dass der Gesetzgeber eine - wie er es nennt - „BürgerFAIRsicherung“ schafft. „Abkoppelung der Finanzierung von den Löhnen, Transparenz, Bemessung der Abgabenlast nach Leistungsfähigkeit, Umverteilung von oben nach unten sowie Familiengerechtigkeit sind … die Hauptkriterien, an denen sich die notwendige Sozialreform auszurichten hat.“ Die Lebensrisiken sollen durch ein einheitliches System abgesichert werden, Alter, Krankheit und Pflege in einem. Das bedeutet: Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung würden in einen Topf zusammengeführt. In diese Versicherung müsse jeder einzahlen, ob Arbeiter, Angestellter, Beamter, Freiberufler, Selbstständiger … Bis auf das Existenzminimum, das geschont wird, müssten laut Borchert „sämtliche personengebundenen Einkommen nach einheitlichen Kriterien zur sozialen Verantwortung herangezogen werden“, auch das Privatvermögen. Die Beitragsbemessungsgrenzen werden aufgehoben, so dass „bis in die Einkommensspitzen hinein“ Abgaben zu entrichten sind. Wer viel (mehr) hat, soll auch viel (mehr) zum Gemeinwohl, zur Absicherung aller beitragen.

Nach Borcherts Einschätzung würden die Beitragssätze dann sogar erheblich sinken. Die relative Entlastung falle umso höher aus, je niedriger das Einkommen und je höher die Kinderzahl ist, weil das Existenzminimum als nicht abgabenpflichtiger Bereich mitbedacht wird. Das würde die Konjunktur fördern. Borchert vermutet, dass in Folge um die zwei Millionen Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen werden könnten. Weitere Entlastungen ergäben sich, so dass viele Familien ihre Kinder aus dem selbst erwirtschafteten Einkommen finanzieren könnten, statt auf staatliche Hilfen zurückzugreifen.

Leider sind im Bundestagwahlkampf derart grundlegende Diskussionen über eine umfassende Sozialstaatsreform nicht geführt worden. Die Parteien fürchten, Wähler zu verprellen. Wie sich die demografischen Verhältnisse abzeichnen, mit einer krass auseinanderklaffenden Vermögensentwicklung, wird ein einschneidender Paradigmenwechsel des Sozialstaats jedoch nicht zu vermeiden sein. Jürgen Borchert verlangt, politisch eine einfache Hausfrauenregel zu beachten: Die Treppe ist von oben nach unten zu putzen. „In der Hierarchie der notwendigen Schritte steht die Sozialversicherung an der Spitze. Sie schafft die Probleme, vor denen sie eigentlich schützen soll, und mit ihr muss deshalb jede Reform beginnen. Alles andere wäre ein Streit über Tapetenfarben, während die Fundamente wegbrechen.“

Das alles sei nicht finanzierbar, wird eingewendet. Aber es handelt sich gar nicht um Finanzierungsfragen, sondern zuerst um Verteilungsfragen. Borchert: „Politik ist zwar die Kunst des Möglichen, Gerechtigkeit ist aber nicht die Kunst des Unmöglichen.“

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