Die Ära der Maschinenmenschen bricht an. Das hat kürzlich der „Spiegel“ in seiner Titelgeschichte „Das Supergehirn - Neuro-Ingenieure wollen das Denken optimieren“ angekündigt. Wie auch in anderen Medienbeiträgen ist das Schicksal der amerikanischen Krimiautorin Jan Scheuermann Anlass, den Beginn der Cyborg-Ära auszurufen, also des Zeitalters, in dem Menschen mit künstlichen Prothesen so „verwachsen“ sind, dass sie diese mit ihren Gedanken steuern können.
Eine degenerative Nervenerkrankung zerstörte die Verbindung zwischen Jan Scheuermanns Gehirn und ihrem Körper. Lediglich einige wenige Gesichtsmuskeln konnte sie noch willentlich bewegen. Heute kann sie „allein kraft ihrer Gedanken“ mit einer Roboterhand beispielsweise nach einem Stück Schokolade greifen und dieses zum Mund führen, wie der „Spiegel“ berichtet. Zwei erbsengroße Chips in der für die Bewegung zuständigen Hirnregion „horchen das elektrische Geplauder der Neuronen ab und senden es über Scheuermanns Schädel an einen armförmigen Hightech-Roboter“.
Während sich die Forscher auf dem Weg sehen, die Wirkweise des Gehirns zu entschlüsseln, weisen die „Spiegel“-Autoren darauf hin, dass selbst bei einem vergleichsweise häufig angewandten Eingriff ins Gehirn wie der sogenannten Tiefenhirnstimulation bei Parkinson-Patienten niemand so richtig weiß, wie das Verfahren eigentlich funktioniert. Bei dieser Operation wird eine nadelförmige Elektrode bei vollem Bewusstsein in den für die (Grob-)Motorik zuständigen sogenannten subthalamischen Nucleus eingeführt. Noch während des Eingriffs testen die Ärzte mittels kleiner Elektroschocks, wie sich die Bewegungsabläufe verändern, um die Elektrode optimal zu platzieren. „Was allerdings genau geschieht, wenn eine Elektrode den subthalamischen Nucleus kitzelt, weiß niemand. Solch eine Nadel ist riesig, gemessen an der Dimension einer einzelnen Nervenzelle. Die Ärzte setzen also ein beträchtliches Areal unter Strom, Tausende Neuronen sind betroffen. Von einem wirklich zielgenauen Eingriff in wohlverstandene Schaltkreise ist die sogenannte Tiefenhirnstimulation noch weit entfernt“, so das ernüchternde Ergebnis.
86 Milliarden Nervenzellen
Um sich im Gewirr der 86 Milliarden Nervenzellen mit ihren jeweils etwa 10000 Verschaltungen zurechtzufinden, braucht es exakte Karten des menschlichen Gehirns. Zudem gilt es, die Verknüpfungen und die ablaufenden Prozesse besser zu verstehen. Diesen Aufgaben stellen sich das europäische Human Brain Project (Projekt menschliches Gehirn) und das amerikanische Human Connectome Project - das Kunstwort ist zusammengesetzt aus dem Verb to connect für verknüpfen und Genom, also Erbinformationen. Die Düsseldorfer Hirnforscherin Katrin Amunts hatte neulich auf der Tagung „Neuroimaging - Bilder vom Gehirn und das Bild des Menschen“ des Deutschen Ethikrates die Entwicklung der „Kartierung des Gehirns - von der Schemazeichnung zum computerisierten Hirnatlas“ vorgestellt. Anfang des 20. Jahrhunderts war man auf Gehirne von gerade verstorbenen Menschen angewiesen. In dünne Scheiben geschnitten und eingefärbt, konnten sie dann unter dem Mikroskop untersucht werden. Heute liefert die funktionelle Kernspintomografie Bilder von der Aktivität des Gehirns bei lebenden Menschen. So lässt sich beobachten, welche Bereiche aktiv sind, wenn etwa bestimmte Worte gesprochen werden, oder an welches Bild gerade gedacht wird.
Die Schwierigkeit besteht vor allem in der immensen Individualität und auch der Veränderbarkeit ein und desselben Gehirns. In ihrer Präsentation zeigte die Wissenschaftlerin in zwei verschiedenen Gehirnen die eingefärbten Hirnareale 44 und 45, deren Größe und Lage bei den betreffenden Personen erstaunlich unterschiedlich war. Es ist also keineswegs möglich, über die gemessenen Hirnaktivitäten einfach die Karte eines „Durchschnittsgehirns“ zu legen und schon klar zu erkennen, welcher Bereich momentan aktiv ist. Zudem verändert sich die Hirnorganisation im Laufe des Lebens ständig. Sie wird von Umweltbedingungen, Lebensweise, Ernährung und den genetischen Voraussetzungen beeinflusst. Diese Wechselwirkungen sind noch recht wenig verstanden.
„Ich hasse den Begriff ‚Bilder‘ in diesem Zusammenhang.“ Mit dieser Aussage begann John-Dylan Haynes, Direktor des „Berlin Center for Advanced Neuroimaging“, also des Zentrums für moderne Bildgebung des zentralen Nervensystems, seinen Vortrag. Denn die bildliche Verortung erwecke den Eindruck, man habe es begriffen. Dagegen stellte Haynes fest, dass die Sprache des Gehirns bisher überhaupt noch nicht verstanden sei. Bisher versuchten er und seine Kollegen in der Grundlagenforschung, mentale Zustände zu entschlüsseln. Ob der Mensch im Kernspintomografen gerade an ein Haus oder an ein Gesicht denkt, könne er an den Bildern nur dann erkennen, wenn er an eben diesem Gehirn zuvor schon die Aktivierungsmuster bei dem entsprechenden Gedanken herausgefunden habe. Haynes zufolge ist es nicht die Komplexität der Gedankengänge, sondern die Individualität jedes einzelnen Gehirns, welche die Messmethoden des Brain Readings, des Lesens der Gedanken und Vorgänge im Hirn, begrenzt.
Lernen hinterlässt Hirn-Spuren
Die Medien seien dagegen an „Sensationen“ interessiert, verallgemeinerten Laborergebnisse und leiteten daraus mögliche Anwendungen ab. Ein Beispiel dafür ist die - ebenfalls auf der Tagung diskutierte - Vision, bildgebende Verfahren etwa als Lügendetektor einzusetzen. Bis die Aussage eines Zeugen auf ihre Wahrhaftigkeit hin mit dem Blick auf die Hirnaktivitäten überprüft werden könne, sei es aber noch ein weiter Weg.
Dass es sich allein um ein Vermittlungsproblem handelt, wenn in Presse, Funk oder Fernsehen die Forschungsergebnisse veröffentlicht werden, darf allerdings aufgrund anderer Aussagen durchaus bezweifelt werden. Denn längst lassen sich Gehirntypen genau unterscheiden, zum Beispiel das eines Pianisten von dem eines Violin- oder Cellospielers, so der Züricher Neuropsychologe Lutz Jäncke in seinem Vortrag „Neuro-Bildgebung als Fenster zu Hirnfunktion und Verhalten“. Jedes Lernen und Üben hinterlasse Spuren im Gehirn. Diese menschliche Individualität lässt Jäncke demütig werden. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, wie sehr das Gehirn angesichts neuer technischer und immer genauerer Methoden zum entschlüsselbaren Abbild des jeweiligen Menschen zu werden scheint.
Wie im Hauptbahnhof
Die Welt ist nicht im Kopf, das Subjekt nicht im Gehirn, und es sind dort auch keine Gedanken zu finden, wehrt sich dagegen der Heidelberger Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs gegen einen Hirn-Zentralismus und „Absolutheitsanspruch“ der Neurowissenschaftler. Natürlich sei das Gehirn beispielsweise für das Sehen unverzichtbar. Aber es ist nicht das Gehirn, das sieht, sondern der lebendige Organismus, der Mensch, das Lebewesen als Ganzes. Fuchs beschreibt das Gehirn als ein Beziehungsorgan. Und als solches ist es auch nicht einfach der alleinige Sitz des menschlichen Bewusstseins. Am Beispiel der Atmung lässt sich dies veranschaulichen. Die Lunge ist ebenfalls nicht der Sitz der Atmung. Atmen ist vielmehr ein Prozess mit vielen Beteiligten - von der Luft bis zur Sauerstoffaufnahme im Blut.
Wie bei der Atmung handle es sich auch beim menschlichen Geist um einen lebendigen Prozess. Das Gehirn enthalte dabei nicht mehr Bewusstsein als Hände oder Füße. Vielmehr entstehe menschliches Bewusstsein in einem übergreifenden System des gesamten Organismus mit seiner Umwelt. „Es ist nicht das Gehirn, sondern die lebendige Person, die fühlt, denkt, handelt“, ist Fuchs überzeugt. Im Gehirn laufen die Ströme zusammen, wie Gleise in einem Hauptbahnhof, der deshalb aber auch nicht gleich als der gesamte Zugverkehr bezeichnet werde.
In der anschließenden Diskussionsrunde mit dem Neuropsychologen Lutz Jäncke prallten die unterschiedlichen Menschenbilder aufeinander. Denn Jäncke hält es durchaus für denkbar, „ein Gehirn zu bauen, das isoliert vom Körper leben kann“. Einzige Voraussetzung: Es müsse zuvor eine Umwelt abgespeichert werden, die dann mittels entsprechender Reize angeregt werden und entstehen könne. Jäncke verweist auf das menschliche Gedächtnis, das gleichfalls nicht einfach ein originalgetreues Abbild eines vergangenen Ereignisses herstellt, sondern immer schon das Vergangene interpretiert. Wenn der Mensch aber beispielsweise eine Arie, die er zuvor gehört hat, sich allein dadurch wieder vergegenwärtigen kann, dass er sie sich vorstellt, und dabei Bilder oder Gefühle entstehen, folgt für Jäncke zumindest die Möglichkeit, dass das Gehirn selbst Welten erzeugt. „Sie können im Menschen durch Stimulation bestimmter Hirnregionen sogar den Eindruck erzeugen, dass er seinen Körper verlässt und wie ein Geist durch den Raum fliegt“, wie entsprechende Experimente außerkörperlicher Wahrnehmung bestätigen.
Für Thomas Fuchs handelt es sich bei allen genannten Beispielen jedoch nur um einzelne Bewusstseinszustände, die (wieder)erzeugt werden. Es werde aber nicht Bewusstsein selbst geschaffen. Durch das Stechen mit einer Nadel könne man beispielsweise Schmerz auslösen. Voraussetzung dafür sei aber immer ein bewusstes Lebewesen. Der Mensch müsse sich in seiner Körperlichkeit spüren. Auch die genannte außerkörperliche Wahrnehmung sei lediglich eine Reaktion eines schon bewussten Lebewesens auf eine bestimmte Stimulation an der Hirnrinde.
Es sind heute vermehrt Geisteswissenschaftler wie Philosophen und Theologen, die den Gedanken der Einheit von Körper und Geist wachhalten. Sprachen sie in früheren Zeiten etwa vom Fleisch, das die reine Seele verführt, oder vom irdischen, unvollkommenen Körper, der den freien Geist in seiner Entfaltung behindert, wird dieser heute mehr und mehr zum unverzichtbaren Teil einer Ganzheit, die den Einzelnen erst zur unverwechselbaren Person werden lässt. Dabei waren es doch die Naturwissenschaften, die einst mit ihren drei großen Kränkungen den Menschen auf den Boden der irdisch-körperlichen Tatsachen zurückholten: Nikolaus Kopernikus erkannte, dass der Mensch und seine Erde keineswegs der Mittelpunkt sind, um den alles kreist. Charles Darwin wies die Entwicklung des Menschen als zufälligen, evolutiven Prozess - sozusagen als Laune der Natur - auf. Sigmund Freud zeigte, dass das Ich keineswegs Herr im eigenen Haus ist, sondern dass es eingekeilt zwischen dem Unbewussten seiner Triebe und Wünsche sowie dem Über-Ich gesellschaftlicher und elterlicher Bestimmungen sein Dasein fristet.
Der Mensch ist nicht sein Bild
Das Pendel scheint - allerdings nur vermeintlich - jetzt in die andere Richtung zu schwingen. Denn das Interesse am Gehirn sowie die mit der Hirnforschung verbundenen teils maßlosen Hoffnungen, aber auch Ängste spiegeln lediglich die Bedeutung wider, die wir dem Gehirn heute für unser Selbst zusprechen. Die unterschiedlichen Menschenbilder der Geistes- und Naturwissenschaftler bleiben dabei jedoch in ihren Grundannahmen nahezu unverändert. Es sind die materiellen Nervenzellen und ihre Verbindungen untereinander, die den Neurowissenschaftler bei der Betrachtung der alles integrierenden Schaltzentrale interessieren. Und es ist die Erfahrung, dass der Mensch sich selbst übersteigen, denkend über sich hinauswachsen kann, die den Geisteswissenschaftler nicht ruhen lässt, zu fragen, ob diese rein irdisch-materielle Wirklichkeit schon alles gewesen sein kann.
Doch unabhängig von der Meinung, ob ein Gehirn ohne Körper in den von außen angeregten, selbst erzeugten Welten leben kann oder nicht, ist die Vorstellung einer Hirntransplantation wohl für die überwiegende Mehrheit der Menschen noch immer undenkbar. Ist es dasselbe „Ich“, in dessen Körper nur ein neues Gehirn eingepflanzt wurde? Oder denkt sich das „Ich“ des Gehirns in einem neuen Körper? Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Christiane Woopen, beantwortete diese von ihr selbst aufgeworfene Frage mit der These: „Ein neues Ich entsteht.“
Das Unbehagen rührt daher, dass wir heute das Gehirn als den Ort des Selbstbewusstseins betrachten - und eben nicht mehr das Herz. Deshalb gilt heute auch der Hirntod als entscheidender Todeszeitpunkt und nicht mehr der Herzstillstand. Aber so wie einst das Einsetzen eines fremden Herzens unvorstellbar war, jedoch selbstverständlich wurde, könnte eines Tages auch die Frage der Hirntransplantation etwas sehr Gewöhnliches werden, wenn wir auch noch nicht wissen, welche neue Identität eines Organismus daraus entsteht.
Was bleibt, ist das Staunen des Menschen über sich selbst: „Was ist der Mensch?“ Auf diese Frage - ganz gleich ob vom Beter des Psalms 8, vom aufklärenden Philosophen Immanuel Kant oder vom Neurowissenschaftler gestellt - kann der Mensch immer nur in Bildern antworten. Diese aber bilden - unabhängig davon, ob sie von einem Künstler gemalt, durch Wörter in Sprache gefasst oder am Computer aus wissenschaftlich gewonnenen Daten erstellt wurden - nur einen Teil unserer vielschichtigen und vielfältigen Wirklichkeit ab. Entscheidend ist es, den Menschen nicht auf das von ihm gemachte Bild zu verkürzen. Entsprechend beschränkte sich schon das sogenannte biblische Bilderverbot keineswegs auf Gottesbilder. Im Buch Exodus heißt es etwa: „Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde“ (20,4).
Die biblischen Schriften und ihre unzähligen Gottesbilder sind allerdings selber der Beweis dafür, dass es sich dabei nicht einfach um ein Verbot des bildhaften Sprechens von Gott oder vom Menschen handelt. Ebenso wenig wäre heute eine rigorose Ablehnung von bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung wie in anderen Wissenschaften sinnvoll. Das Abbild darf jedoch nicht mit dem Abgebildeten verwechselt werden. Es sind nur Ausschnitte, die wir mit den jeweiligen Bildern vorläufig beschreiben können. Zur Natur des Menschen gehört es, dass seine wissenschaftliche Neugier ihn nicht ruhen lässt, bis die (selbst)gemachten Bilder immer wieder zerbrechen und neue erdacht, errechnet oder künstlerisch geschaffen werden.