Achthundert Kinderleichen wurden achtlos und anonym weggeworfen wie Abfall in eine ehemalige Klärgrube. Die Bevölkerung im katholischen Irland ist schockiert - mal wieder. Denn bereits seit mehr als einem Jahrzehnt berichten ehemalige Heimkinder von Verwahrlosung, Gewalt und sexuellem Missbrauch in staatlich finanzierten und „kontrollierten“ Einrichtungen, die in den überwiegenden Fällen von katholischen Ordensgemeinschaften geführt wurden (vgl. CIG Nr. 24/2009, S. 271). Noch bis weit ins letzte Jahrhundert hinein mussten Frauen, die unverheiratet Kinder gebaren, als „gefallene Mädchen“ in sogenannten Magdalenen-Wäschereien unter sklavenähnlichen Bedingungen schuften.
Zuletzt war in dem für den Oscar nominierten Kinofilm „Philomena“ eine solche Tragödie von Regisseur Stephen Frears verarbeitet worden: Einer ledigen irischen Mutter war ihr dreijähriger Sohn weggenommen worden, welcher als Adoptivkind in den Vereinigten Staaten aufwuchs. Die Mutter sucht ihn Jahrzehnte später und erfährt, dass er bereits gestorben ist. Kurz vor seinem Tod hat er aber noch das Kloster seiner Heimat aufgesucht. Wie Philomena keine Einsicht in die Adoptionsakten gewährt wird - sie waren wohl absichtlich verbrannt worden -, erhielt auch er von den Nonnen keine Unterstützung bei der Suche nach seiner Mutter.
Die in den Medien geschilderte Entdeckung des Massengrabs hinter dem Sankt-Marien-Heim für Mütter und Kinder, das von Schwestern des Bon-Secour-Ordens von 1925 bis 1961 geführt wurde, zeigt nun, dass den unehelich geborenen Kindern selbst eine würdevolle Bestattung verweigert wurde. Die bisherigen Recherchen der irischen Historikerin Catherine Corless für ein historisches Jahrbuch der westirischen Stadt Tuam legen den Schluss nahe, dass es sich bei den menschlichen Überresten wohl doch nicht - wie früher vermutet oder behauptet - um Opfer der irischen Hungersnot des 19. Jahrhunderts handelt, sondern um Kinder, die ihren ledigen Müttern nach der Geburt weggenommen und in Heime gegeben worden waren. Die Kinder sind unterernährt oder an durchaus heilbaren Krankheiten gestorben - eine Folge gravierender Vernachlässigung und Verwahrlosung in den Erziehungsanstalten.
Die ledigen Mütter
Bemerkenswert ist, wie sehr sich die Reaktion der irischen Kirche in den vergangenen Jahrzehnten angesichts dieser Tatsachen gewandelt hat. Erstmals entdeckten in den siebziger Jahren Kinder beim Spielen die Skelette. Doch ihre Schilderungen lösten keinen Schock oder Skandal aus. Stattdessen segnete ein Pfarrer das anonyme Massengrab, und es wurden einige Blumen gepflanzt. Die damalige Einstellung: Gras über die Sache wachsen lassen. Fassungslos reagierte dagegen unter anderem der irische Pater Brain D’Arcy auf die aktuelle Wiederentdeckung. „Ich konnte gar nicht glauben, dass dies in meiner Lebenszeit passiert ist, in meinem Land und unter der Religion, zu der ich gehöre und der ich mein Leben gewidmet habe“, zitierte ihn die „Frankfurter Allgemeine“.
Auch die Bischöfe versuchen nicht, mit dem Verweis auf die damals üblichen Prügel und Misshandlungen innerhalb einer weit verbreiteten schwarzen Pädagogik zu beschwichtigen. Man werde an Zeiten erinnert, als unverheiratete Mütter „von der Gesellschaft und der Kirche verurteilt, stigmatisiert und abgelehnt“ wurden, so die Bischöfe in einer Stellungnahme. Dieses Verhalten widerspreche eklatant dem Evangelium, das die Menschen auffordert, „alle, besonders Kinder und die Schwächsten, mit Würde, Liebe, Mitgefühl und Gnade“ zu behandeln.
Die damals betroffenen 35 000 Mütter und ihre Kinder wurden in insgesamt zehn irischen Heimen mit unnachgiebiger moralischer Härte bestraft. Sie wurden ausgegrenzt, um - so damals die Begründung - die Moral anständiger Frauen nicht zu gefährden. Den Kindern wurde die Taufe verweigert, sie durften nicht auf „normale“ Schulen gehen. Ausgesprochen still blieb es dagegen um die Verantwortung der Männer, die diese Kinder zeugten.
„Wenn das in Tuam passieren konnte, dann ist es vielleicht auch in anderen Mutter-Baby-Heimen anderswo im Land passiert“, vermutet Erzbischof Diarmuid Martin von Dublin. Als 2009 der „Murphy-Report“ aufgedeckt hatte, dass in seinem Bistum unter den Vorgängern zwischen 1975 und 2004 der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche systematisch vertuscht worden war, hatte sich Martin den kritischen Fragen der Öffentlichkeit gestellt und den schwer belasteten Personen der Kirchenleitung den Rücktritt nahegelegt.
Seine Kritiker warfen ihm vor, er mache es sich einfach, da er bereits kurz nach seiner Priesterweihe 1969 in den Vatikan entschwunden sei. Erst 2004 war er dem damaligen Dubliner Erzbischof Desmond Conell als Nachfolger zur Seite gestellt worden. Conell wurde im Bericht der Kommission schwer belastet, weil er Täter gedeckt habe. Diarmuid Martin stellte sich weitgehend allein in den Sturm öffentlicher Entrüstung und warb sowohl für kompromisslose Aufklärung als auch für neues Vertrauen in eine Kirche, die nahezu jegliches Ansehen verspielt hatte. Daher ist es wenig verwunderlich, dass sich der Dubliner Erzbischof bereits kurz nach Bekanntwerden des neuen Skandals für eine umfassende Untersuchung einsetzte. „Wir müssen die ganze Kultur der Mutter-und-Baby-Heime durchleuchten“, sagte er im irischen Radiosender RTE.
Hohe Sterblichkeit
Gerüchte hat es auch immer wieder um einen Friedhof nahe des Bessborough-Heims in der zweitgrößten irischen Stadt Cork gegeben. Der 1952 dort unehelich geborene John Barrett vermutet in der Tageszeitung „Irish Independent“, dass dort viele Baby-Skelette liegen könnten. Der damals zuständige Orden begrüßt eine unabhängige Untersuchung, ob es sich nur um Gerüchte oder um „tragische Vorfälle“ handle. Anderen Medien zufolge sollen in Bessborough Impfstoffe an den Kindern getestet und die Leichen für medizinische Studien verwendet worden sein.
Dokumente aus der Irischen Nationalbibliothek scheinen zu belegen, dass die Kindersterblichkeit in den Heimen überall erschreckend hoch war. Der „Irish Times“ zufolge starben von 1932 bis 1941 im Herz-Jesu-Heim Bessborough 238 Kinder, in Sean Ross Abbey im zentralirischen Roscrea waren es 419. Anders als bei Kindern verheirateter Eltern soll die Sterberate der Heimkinder im Dubliner Pelletstown-Heim fünfmal so hoch gewesen sein. Zwischen 1923 und 1930 starben dort 660 Kinder. Für einige wird als Grund eine Masern-Epidemie angegeben.
Doch das Versagen betrifft nicht nur die katholische Kirche, sondern auch die protestantische Minderheit Irlands. Wie die FAZ berichtete, kämpft eine „Gruppe der Überlebenden des Hauses Bethanien“ seit Jahren dafür, dass die Zustände auch in dieser evangelischen Einrichtung für unverheiratete Mütter in Dublin untersucht werden. Die Betroffenen wollen eine Entschädigung. 2010 sind mehr als 200 Kinder in nicht gekennzeichneten Gräbern gefunden worden, die zwischen 1922 und 1949 gestorben waren. Auch in diesem Fall scheint eine Statistik zu bestätigen, dass damals schon Kritik an den Zuständen und eine öffentliche Debatte darüber binnen kürzester Zeit dazu führten, dass die Sterblichkeitsrate sank, vor allem, weil kranke Kinder daraufhin in Krankenhäusern behandelt wurden.
Auch der Staat steht massiv in der Kritik, weil amtliche irische Dokumente vernichtet wurden. Beklagt wird die zu enge Nähe zur katholischen Kirche, der bis heute offiziell mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung angehören. Nach der Unabhängigkeit Irlands von England 1921 war die katholische Kirche die entscheidende moralische Autorität, die zudem noch identitätsstiftend wirkte. Die Kirche war fast ausschließlich für Bildung und Fürsorge zuständig - allerdings immer im Auftrag und formal auch unter Aufsicht des Staates.
Polnische Aufklärung
Der irische Minister für Kinder- und Jugendangelegenheiten, Charles Flanagan, hat nun eine Kommission eingesetzt, um die hohe Kindersterblichkeit, Beisetzungspraktiken, die rechtliche Situation der Adoption und die Frage nach medizinischen Versuchen in den Heimen aufzuklären.
Ein Wandel im Umgang mit der kirchlichen Gewalt- und Missbrauchsgeschichte zeigt sich auch in anderen Weltgegenden. Erstmals hat die katholische Kirche in Polen in einem Bußgottesdienst in der Krakauer Herz-Jesu-Kirche der Opfer sexuellen Missbrauchs durch Geistliche gedacht und um Vergebung für die schwere Schuld gebeten. „Mit Scham sehen wir, dass das Böse unter uns ist“, betete Bischof Piotr Libera von Plock. „Wir alle haben gesündigt, ob wir die Kleinen missbrauchten oder diejenigen deckten, die zu Tätern wurden.“ In seiner Predigt kritisierte Libera, dass ein Teil der Kirche die Missbrauchstaten bis heute nicht wahrhaben will.
Dem Buß-Bekenntnis war an der Krakauer Jesuiten-Universität eine zweitägige Konferenz zum Thema vorausgegangen. Der Krakauer Kardinal Stanislaw Dziwisz erklärte dabei: „Das Böse, das einige begingen, fällt mit dem Misstrauen und Vertrauensmangel der Leute auf uns zurück.“ Eine Reinigung der Kirche, so der frühere Sekretär von Johannes Paul II., sei weder einfach noch schmerzlos. „Aber einen anderen Weg gibt es nicht.“ Der neue Primas des Landes, Erzbischof Wojciech Polak von Gnesen, räumte ein, dass die Kirche noch nicht das getan habe, was die Opfer von ihr erwarteten. Als Zeichen für einen Willen zur Aufklärung wertete er jedoch die Gründung eines Kinderschutzzentrums an der Universität der Jesuiten.
Deutsche Gewalt
Die Bereitschaft, hinzuschauen und Verantwortung zu übernehmen, ist jedoch keine Spezialaufgabe, die nur die Kirche betrifft. Es handelt sich vielmehr um eine gesamtgesellschaftliche Pflicht, wie der Präsident des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, vor kurzem bei der Vorstellung der Kriminalstatistik betonte. Denn 2013 sind in Deutschland jede Woche durchschnittlich drei Kinder an Gewalttaten gestorben, drei Viertel von ihnen wurden noch nicht einmal sechs Jahre alt. Die Zahl getöteter Kinder ist im Vergleich zu vor zehn Jahren zwar von 250 auf 153 zurückgegangen. Doch „Gewalt gegen Kinder ist in Deutschland noch immer trauriger Alltag“, so Rainer Becker von der Deutschen Kinderhilfe in der „Welt“.
So wurden körperliche Misshandlungen sogar häufiger registriert als im Vorjahr. Die Fälle sexuellen Missbrauchs sind nur leicht von 15 149 auf 14 877 gesunken. Dabei gehen Polizei und Kinderhilfseinrichtungen von einer weitaus höheren Zahl nicht angezeigter Fälle aus. Kinder und Jugendliche könnten das Geschehene oft nicht bezeugen, weil ihnen die Worte fehlen oder weil Loyalität oder Angst vor dem Täter sie zum Schweigen bringen. Dies wird dadurch verstärkt, dass die Täter häufig die eigenen Eltern oder Angehörige aus dem nächsten sozialen Umfeld sind.
Die schonungslose Aufklärung und Aufarbeitung selbst sehr lang zurückliegender Fälle ist notwendig, weil sich sonst genau die Mechanismen unter der Oberfläche weiterverbreiten, die Gewalt und sexuellen Missbrauch ermöglichen. Dass die Kirche mit ihrem hohen moralischen Anspruch selber zu lange versagt hat, ist besonders schockierend und verlangt genaueste Erforschung, Reue, Buße - und entschiedene Wiedergutmachung.