Karl der Große war nicht immer groß. Im Gegenteil. In einem ersten Erinnerungsbild, entworfen zehn Jahre nach seinem Tod, schildert der Reichenauer Mönch Wetti den mächtigsten Mann des Mittelalters als einen armen Sünder am Berg der Läuterung. Der in der „Vision“ bereits selbst vom Tod gezeichnete Mönch kommt eigens noch einmal aus dem Totenreich zurück, um seine Zeitgenossen zu warnen und zum sühnenden Bittgebet für Karl aufzufordern, denn allzu schrecklich ist dessen Qual. Der „Leuchtturm Europas“, der „Urvater Frankreichs“, der „allerchristlichste Kaiser“ erscheint Wetti als ein armer, alter Mann im Regen, immer wieder angefallen von einer wilden Bestie, die ihm sein Geschlecht zernagt, welches dann umgehend nachwächst, nur um erneut abgefressen zu werden.
Diese demütigende, geradezu sadistische Strafe zur Läuterung seiner Seele hat sich Karl nicht etwa wegen seiner Grausamkeit im Krieg gegen die Sachsen zugezogen, auch nicht wegen des Schauprozesses gegen seinen Vetter, den Bayernherzog Tassilo, oder wegen einer anderen Bluttat, sondern aufgrund seiner ausschweifenden Sinnlichkeit. Vier, wahrscheinlich sogar fünf Ehefrauen und zahllose Konkubinen - das waren ein paar Lebensabschnittspartnerinnen zu viel, um direkt nach dem Tod Eingang ins Paradies finden zu können. Und seine wunderschönen Töchter, von denen er keine je zu einer Heirat freigab, machten es nicht viel besser. Sie hatten etliche Kinder, aber keinen Ehemann. „Gekrönte Täubchen“, die am Hofe herumflatterten, spottete Karls wichtigster und einflussreichster Berater, der Mönch Alkuin.
Heiliger oder Barbar?
Wollust, überall Wollust. Der Hof, ein einziger Sündenpfuhl - so vernichtend fällt das Urteil des Sohnes, Ludwigs des Frommen, über seinen Vater aus. Vielleicht hat er den Mönch Wetti zu seiner Vision sogar „angestiftet“, sie in Auftrag gegeben, um durch derartige Pädagogik die Moral zu heben. Auf alle Fälle kam sie Ludwig sehr gelegen, denn sie passte hervorragend in das „neue Heilsprogramm, das der Kaiser, beraten von dem Abt Benedikt von Aniane und Inden, verfolgte“. Unter Ludwig dem Frommen, so der Frankfurter Mediävist Johannes Fried, änderte sich die geistig-religiöse Atmosphäre am Hof. Neugier, Wissensdurst und Freizügigkeit wurden zurückgedrängt von Askese, Sühne und Jenseits-Angst.
Wie lange Karl in seiner unkomfortablen Situation am Läuterungsberg ausharren musste, wissen wir nicht. Doch zumindest auf Erden setzte schon bald eine wirkmächtige Gegen-Erzählung ein, die andere Schwerpunkte setzte: Karl, der siegreiche Kämpfer, der weise Gelehrte, der Beschützer der Kirche, der Verteidiger der Christenheit gegen den Islam, der milde und gerechte Richter, das Vorbild aller Könige. Die Vita Caroli, die Karlsbiografie, stammt von dem Laien Einhart, einem vielseitig gebildeten Gelehrten adeliger Herkunft, der viele Jahre am Hof verbrachte, zeitweilig sieben Klöster in verschiedensten Reichsgebieten leitete, bis er schließlich, angeekelt von den Intrigen der Nachfolgekämpfe, in Seligenstadt sein eigenes Kloster gründete. Natürlich handelt es sich um keine Biografie im modernen Sinn, sondern um eine romantische Rückschau auf vergangene, „bessere“ Zeiten, ein Loblied auf den Herrscher. Doch man täte Einhart Unrecht, wollte man in seinem Werk nur die Schmeichelei eines Höflings erkennen. In der Vita Caroli spiegelte sich auch die Vision einer besseren Zukunft, ein Regierungsprogramm für künftige Herrscher.
Am Ende waren Einharts Schriften wirkmächtiger als Wettis Visionen. Aus Karl dem Sünder wurde im Verlauf von 350 Jahren Karl der Heilige - auch wenn der eigentliche Akt der Heiligsprechung nicht von einem Papst, sondern von Kaiser Friedrich Barbarossa mit Hilfe des Kölner Kardinals Reinhard von Dassel vollzogen wurde, zwar mit Billigung von Papst Paschalis III., der aber als Gegenpapst zu Alexander III. gilt. Trotz dieses „Formfehlers“ duldete Rom ab 1176 Karls Verehrung als Seliger. „Gestattet, aber nicht anerkannt“, heißt das im diplomatisch-offiziösen Sprachgebrauch des römischen Martyrologiums, des kirchenamtlichen Verzeichnisses aller Märtyrer, Heiligen und Seligen. Karls Gedenktag ist der 28. Januar, der Todestag des Herrschers, der vor allem in Aachen und Frankfurt am Main mit feierlichen Gottesdiensten begangen wird, in denen bis heute voller Inbrunst die mittelalterliche Karlssequenz gesungen wird:
„Aachen, Kaiserstadt, du hehre / alter Städte Kron und Ehre / Königshof voll Glanz und Ruhm! / Singt dem Himmelskönig Lieder / Festesfreude füllet wieder / Karls des Großen Heiligtum … Wohl zog nie ein Landsmann weiser / gute Frucht wie dieser Kaiser / aus dem Acker wüst und wild / da er Heidenvolk bekehrte / Heidentempel rings zerstörte / und zerbrach der Götzen Bild. / Stolze Fürstenwillkür zwingend / und für heilige Lehen ringend / hat er Christus Sieg verschafft / Allzeit strenges Rechtes Pfleger / und Erbarmens milder Heger / übt er seines Amtes Kraft…“
Der Verlust der Philosophie
Wer war dieser sagenumwobene Karl? Ein Heiliger - oder ein Barbar? Was wollte er, was trieb ihn an - und worin besteht sein Erbe für heute? Wer ihm nahekommen will, muss sich auf eine Zeitreise in eine für uns kaum noch vorstellbare Welt einlassen, die Johannes Fried in seinem neuen Buch mit poetischen Worten so skizziert: „Damals hieß Konstantinopel noch nicht Istanbul. Kein Kölner Dom ragte in den Himmel; der Bamberger Dom hatte noch 200 Jahre auf seinen Bau zu warten…, den Louvre gab es noch nicht, und Notre Dame auf der Île de la Cité war eine bescheidene Bischofskirche. Venedigs Eichenpfähle waren noch nicht in die Lagune gerammt, um den Markusdom oder die bewunderten Adelspaläste zu errichten, … und der Vatikan war bloß ein Hügel außerhalb der ‚Ewigen Stadt’ … Die Bevölkerung Europas war dünn gesät. Weite Landstriche sahen auf Wochen und Jahre hinaus keinen Menschen. Städte, aus der Antike überkommen, gab es immerhin dem Namen nach; doch Ruinen füllten sie … Kerzen kosteten ein Vermögen, sie brannten in den Kirchen, in den Palästen, doch nicht in den Hütten. Das Leben folgte dem Sonnenlauf; es ging gemächlich. Handarbeit war gefragt, die - von Mühlen abgesehen - keine Maschine erleichterte.“
Das alte, stolze Rom war mitsamt seiner Ordnung, seiner Sprache, seinem Recht und seinem immensen Wissen um Philosophie, Kunst und Wissenschaft untergegangen. Weil selbst im Kerngebiet des ehemaligen Imperiums regionale romanische Umgangssprachen das klassische Latein zurückdrängten, aber bezüglich Wortschatz und Grammatik nicht zu großen Differenzierungen in der Lage waren, gingen mit der Zeit Denkfiguren, rationale Argumentationsweisen, philosophische und theologische Gedankengänge verloren - von Verständigungsschwierigkeiten und Übersetzungsproblemen im Alltag ganz zu schweigen. Der Herrscher in Byzanz führte zwar den Kaisertitel, doch das Band zwischen Rom und Konstantinopel wurde immer dünner.
Das hatte auch mit den Päpsten zu tun, die bis 750 überwiegend aus dem byzantinisch beherrschten Süditalien stammten, später dann abgelöst wurden von Kandidaten, die aus dem römischen Adel kamen. Diese orientierten sich in ihrem Macht- und Selbstbewusstsein immer weniger an Ost-Rom, auch wenn sie formal noch - ebenso wie die Patriarchen von Konstantinopel, Jerusalem, Antiochia und Alexandrien - dem Kaiser in Byzanz zu- und untergeordnet waren. Doch das byzantinische Herrscherhaus war schwach. Mühsam, oft sogar nur durch die Zahlung von Schutzgeldern, konnte es sich der zunehmenden Bedrängung durch arabische und bulgarische Reitervölker erwehren. Papst Stephan II. (752-757) wusste, dass er von dort keine Hilfe gegen die immer selbstbewusster werdenden Langobarden erwarten konnte, die sich trotz ihres christlichen Glaubens um die territorialen Ansprüche des Papstes wenig scherten. In dieser Situation überquerte er im Spätherbst 753 die Alpen, um beim Frankenkönig Pippin, dem Vater Karls, Hilfe zu erbitten.
Königtum von Gottes Gnaden
Es war ein Ereignis mit weltgeschichtlichen Folgen. Nicht nur, dass zum ersten Mal in der Geschichte ein Papst persönlich ins Frankenreich kam. Erst jetzt fand die Autorität des Papstes auch dort Anerkennung. Die zuvor in diesen Gegenden tätigen irischen Missionare hatten kaum eine Bindung an Rom und dachten gar nicht daran, päpstliche Weisungen für ihr Handeln einzuholen. Erst durch Bonifatius (673-754), den Apostel der Deutschen, sollte sich dies allmählich ändern. Aber auch das Königtum änderte seine Gestalt. Eine Legitimation durch den Papst, so König Pippins Kalkül, konnte seiner noch ungefestigten Herrschaft (die Karolinger hatten erst vor einer Generation den Merowingern die Macht entrissen) Glanz, Segen und Autorität verleihen. Und in der Tat: Mit der Salbung Pippins entstand die wirkmächtige Idee einer „Herrschaft von Gottes Gnaden“. Zwar waren die Franken mit den Langobarden verbündet, und viele Adelige verspürten nicht das geringste Interesse an einem Feldzug gegen sie. Doch als „Geweihter des Herrn“ und als „Patricus Romanorum“ hatte sein Wort Gewicht. Nun überragte der Frankenkönig alle anderen Könige. Er war in einzigartiger Weise durch Gottes Auftrag herausgehoben. Das Papsttum wiederum, „seine Sicherheit und sein Schutz waren … mit einem Schlag zu einer Sache des fränkischen Königs geworden - und all das spielte sich ab vor den Augen des kleinen Karl.“ So fasst der Heidelberger Mediävist Stefan Weinfurtner die politischen Weichenstellungen jener Jahre zusammen.
Man kann - da sind sich alle Historiker einig - nicht hoch genug bewerten, wie stark diese Ereignisse den damals sechsjährigen Karl geprägt haben. Er durfte dem Papst entgegenreiten, erlebte dann, wie sein Vater samt Gefolge vor dem Stellvertreter Petri niederkniete und wie ein Marschall dessen Pferd am Zügel geleitete - die höchste Form der antiken, römischen Ehrerbietung, nun erstmals im Frankenreich vollzogen. Mit Lobgesängen, Liedern und Litaneien zog man gemeinsam in die Pfalz Ponthion, westlich von Metz. Der unmittelbare Kontakt mit dem Papst, der Prunk, die allgemeine Feststimmung, die feierliche Aura der Gebete und Liturgien und schließlich die Königssalbung, die Stephan 754 an seinem Vater, an ihm und an seinem Bruder Karlman vollzog, dürften bei Karl den Eindruck erweckt haben, dass der Papst „selbst in seiner Ohnmacht ein mächtiger Mann sein“ müsse, vermutet Johannes Fried.
Aber Karl dürfte auch fein registriert haben, dass der Papst als Bittsteller kam. Liegt hier die Schlüsselszene für das in den kommenden Jahren stets neu auszutarierende, nie ganz spannungsfreie Verhältnis zwischen dem römischen Papst und dem fränkischen König?
Einerseits hat Karl, der ab 771 als Alleinherrscher in Franken regierte, die Lehrautorität der Kirche und ihrer Bischöfe zeitlebens anerkannt. Andererseits verstand er sich nicht nur als ihr Schutzherr, sondern zunehmend auch als ihr Herr, wie der Tübinger Mittelalterforscher Wilfried Hartmann auf einer Tagung der Katholischen Akademie in Bayern darlegte. Karl beanspruchte beispielsweise das Recht, Synoden einzuberufen, Bischöfe und Äbte ein- und abzusetzen (zumindest in wichtigen Bistümern und Klöstern), und griff auch ausdrücklich in theologische Streitfragen ein. Als 787 ein Konzil in Nicäa das strenge Bilderverbot lockerte, widersprachen Karl und seine Theologen ebenso dem Papst wie den Konzils-Beschlüssen. Ähnliches passierte wenige Jahre später beim Streit um das „filioque“, die theologische Frage, ob der Heilige Geist gemäß westlicher Lesart aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht oder - gemäß dem ostkirchlichen Verständnis - nur aus dem Vater.
Der Grund für die Konflikte in der Bildtheologie lag nur teilweise in dem Affront, dass der byzantinische Kaiser die fränkischen Theologen und Bischöfe nicht nach Nicäa eingeladen hatte und ihnen nur eine - zudem fehlerhafte und ungenaue - lateinische Abschrift der in Griechisch verfassten Beschlüsse zukommen ließ. Die Betonung der Bilder widersprach vielmehr Karls grundlegenden Reformplänen, die auf eine „Vereindeutigung in möglichst vielen Lebensbereichen“ zielten, wie Stefan Weinfurtner darlegt. „Das Wort - und nicht das Bild - galt im Umkreis Karls als Medium der Wahrheit.“ Diese Ansicht findet sich bei karolingischen Theologen immer wieder. „Die Dinge, die nur mit dem Verstand aufgenommen werden und mit Worten ausgedrückt werden, können nicht von Malern, sondern allein von Schreibern erfasst und durch Vorträge anderer vermittelt werden.“ Die Stärke Gottes werde nicht mittels einer „Materie“ verehrt, sondern „durch sein Wort, nämlich den Sohn“, heißt es in den Libri Carolini.
Entscheidend ist das Wort
Aus diesem Grund ist Karl die fehlerfreie Abschrift, die Kenntnis der Grammatik und der lateinischen Sprache so eminent wichtig. Unzählig sind seine Ermahnungen an Äbte und Klöster, Schreiber auszubilden und höchsten Wert auf korrekte Abschriften zu legen. Denn wenn die Worte ungenau waren, konnten die Gebete nicht wirken, konnte der geistliche Schutz nicht wirksam auf den König herabgerufen werden. Wie schlecht es aber um die Lateinkenntnisse des Klerus diesseits der Alpen bestellt war, bezeugt ein Brief des heiligen Bonifatius an den Papst aus dem Jahr 750, in dem er entsetzt über einen bayerischen Priester berichtet, der mit der völlig verstümmelten und sinnfreien Formel „im Namen Vaterland, Tochter und des heiligen Geistes“ - in nomine patria et filia et spiritus sancti - getauft habe.
Auch die Schrifterneuerung, die Erfindung der sogenannten karolingischen Minuskel, die in klarer Grafie Groß- und Kleinbuchstaben mit Ober- und Unterlängen in ein Vierlinienschema setzte, hat dem großen Ziel der Vereindeutigung gedient, bot sie doch durch ihre Klarheit und die Abstände zwischen den einzelnen Wörtern eine unendlich wertvolle Lese- und Verstehenshilfe. Aber sie förderte nicht nur das Verstehen, sondern bewirkte - quasi nebenbei - ein Aufblühen der Kunst, was sich in den Buch-Illustrationen zeigte, die nun überall entstanden. „Das Layout einer Handschrift, die innere Ordnung ihrer Texte und ihrer Folien waren leicht zu überschauen und steigerten die grafische Schönheit jeder Buchseite: Auszeichnungsschriften wie Capitalis und Unziale, Semiunziale, Initialen mit oder ohne bildnerische Ausgestaltung, Gold- und Silbertinte, Purpurpergament, Illuminationen konnten einen seit Jahrhunderten nicht mehr erreichten Prunk vor Augen stellen“, schreibt Fried. Bedenkt man, dass für das Pergament eines einzigen Buches die gegerbten Felle einer kleinen Ziegen- oder Schafherde benötigt wurden, kann man ermessen, mit welch immensen Kosten das königliche Schreibprogramm verbunden war. Historiker rechnen mit etwa 10000 karlszeitlichen Manuskripten. „Von wenigen Ausnahmen abgesehen wäre kaum eine Spur antiker Gelehrsamkeit und Poesie noch sichtbar, nicht einmal die lateinischen Kirchenväter, hätten die Schreiber und Gelehrten jener Könige seit Karl sich nicht des dauerhaften Pergaments bedient. Ihr Fleiß hat uns diese Texte, ihr Eifer uns das antike Programm der ‚freien Künste‘ und die Handbücher zu den ‚mechanischen Künsten‘, die Reden Ciceros und die Traktate Senecas, den Zauber antiker Dichtung, einen Horaz, Ovid oder Plautus geschenkt, ihrer eigenen Gegenwart aber eine erste Ahnung von Kunst und Poesie.“ Doch nicht nur die Rettung der vom Verfall bedrohten Schriften wurde auf diese Weise eingeleitet. „Auch die Wiedergeburt des logischen, überprüfbaren Regeln unterworfenen Denkens ereignete sich am Hof Karls des Großen“, urteilt Fried über den Erfolg des breit angelegten königlichen Bildungsprogramms.
Ein besonderes Wunderwerk war das sogenannte Godescalc-Evangelistar, das „erste Buch, das nachweislich von einem fränkischen König in Auftrag gegeben wurde“ und dem König und seiner Gemahlin Hildegard vermutlich 781 übergeben wurde, als sie nach Rom reisten, um ihren Sohn Karlman von Papst Hadrian auf den Namen Pippin (um-)taufen zu lassen. In diesem Buch, so Fried, „manifestierte sich Karls Erneuerungswille in einzigartiger Weise. Schrift, Text, Bild und Material vereinten sich zu einer Repräsentationskunst, mit der Karls Hof den Vergleich mit anderen Zentren nicht mehr zu scheuen brauchte.“
Karls Lieblingslektüre war Augustinus’ Schrift vom Gottesstaat (De civitate Dei), aus der er sich immer wieder vorlesen ließ. In dieser theologischen Verschränkung von Staat und Kirche fand er das „gesamte Programm für den Umbau seines Reiches“, vermutet Weinfurtner. Durch die Lektüre wusste er auch, wie Augustinus über heidnische Reiche dachte. Da sie die Gerechtigkeit der christlichen Lehre nicht achteten, seien sie nichts anderes als große Räuberbanden, mit denen ein Frieden nicht möglich sei. Die Gerechtigkeit durchzusetzen, um den himmlischen Frieden zu erreichen - das bedeutete in Karls Lesart, die Völker zu missionieren, notfalls mit dem Schwert. Nicht die Gier nach Beute oder persönliche Rachegefühle trieben Karl in den dreißigjährigen Feldzug gegen die Sachsen. „Der unbedingte Wille zur Durchsetzung des christlichen Glaubens und seiner moralischen Normen war letztlich die entscheidende Voraussetzung und die treibende Kraft dafür, dass Karl - gleichsam wie ein Besessener - Schwert und Christianisierung miteinander verknüpfte.“
Bischof der Bischöfe
Dieser „erste planmäßige Missionskrieg“ (Weinfurtner), der für uns heute grausam und barbarisch klingt und in dem Namen „Sachsenschlächter“ einen Nachhall findet, war zur Zeit Karls logisch und konsequent. Das Böse zu vernichten, war nur gerecht. Und für Räuberbanden, so stand es schon bei Augustinus, gab es nur die Alternative: Taufe oder Tod. Daher regte sich auch unter den Geistlichen bei Hofe keine grundsätzliche Kritik an der Schwertmission. Auch sie kannten die Schriften des Augustinus und wussten um die Ausnahme beim Tötungsverbot, die der Kirchenvater im ersten Buch, Kapitel 21, so formuliert hatte: „Es versteht sich nämlich, dass, wenn Gott selbst das Töten anordnet, sei es durch Erlass eines Gesetzes, sei es zu bestimmter Zeit durch ausdrücklich an eine Person gerichteten Befehl, solch ein Ausnahmefall vorliegt. Dann tötet nicht der, der dem Befehlenden schuldigen Gehorsam leistet, wie das Schwert dem dient, der es führt.“
Schon eher wurde kritisiert, dass Karl bei den von ihm angeordneten Massentaufen wichtige augustinische Prinzipien wie die Freiwilligkeit der Taufe und den vorher verpflichtenden Unterricht für die Taufbewerber, die Katechumenen, nicht beachtete. Auch die Maßlosigkeit wurde angeprangert. „Man sagt“, so schrieben spanische Bischöfe 792 an Karl, „dass du viele durch den Schrecken der Gewalt, aber nicht durch die Gerechtigkeit überzeugst.“
Auf der anderen Seite wusste Karl, so sehr seine Größe auf dem militärischen Erfolg beruhte, dass Gewalt allein das Reich nicht zusammenhalten konnte. Als sich sein großer sächsischer Gegenspieler Widukind endlich ergab, ließ er ihn weder töten noch verbannen, sondern übernahm die Patenschaft bei dessen Taufe.
Zur Zeit Karls gab es noch keine Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Eher muss man von einem magischen Tauschhandel sprechen. Der König kämpfte, die Kirche betete. Kriegerischer Erfolg galt als ein Zeichen göttlicher Gnade, Misserfolg hingegen als himmlische Warnung, als göttlicher Aufruf zu Besserung und Umkehr. Theodulf von Orleans, neben Alkuin einer der bedeutendsten Geistlichen am Hofe Karls, drückt das Verhältnis von Papst und König so aus: „Du (gemeint ist Karl) führst die Schlüssel der Kirche, er (gemeint ist der Papst) die des Himmels. Du lenkst seine Macht, leitest Klerus und Volk. Er führt dich zu den himmlischen Chören.“ In den Schriften des Mönchs Notker von Sankt Gallen trägt Karl sogar den Titel episcopus episcoporum, Bischof der Bischöfe - eine Zuschreibung, die im Hochmittelalter, zur Zeit des Investiturstreits, als eine derart ungehörige Provokation empfunden wurde, dass sie nicht länger überliefert wurde. Man kann sich vorstellen, dass die Päpste mit dieser Rollenzuschreibung nicht glücklich waren. Aber es blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als dies zu dulden. Sie zeigten ihre Wahl am Hof zu Aachen an und gelobten Treue.
Geradezu exemplarisch wird das königliche Selbstverständnis in einem Brief Karls aus der Feder Alkuins an den 795 gerade zum Papst gewählten Leo III. formuliert. „Unsere Aufgabe ist es, Christi heilige Kirche vor der Zerstörung durch Ungläubige nach außen mit Waffen zu schützen, im Inneren durch die Erkenntnis des katholischen Glaubens zu stärken. Eure Aufgabe, allerheiligster Vater, ist, gleich Mose mit zu Gott erhobenen Händen unserem Dienst beizustehen, auf dass, indem ihr betet, das Christenvolk durch Gott als Führer und Spender allezeit und allerorten den Sieg über die Feinde seines heiligen Namens davontrage.“
Weil Karl sich also auch für die innere Erkenntnis des Glaubens zuständig fühlte, versammelte er an seinem Hof die bedeutendsten Gelehrten, gleich welcher Herkunft. Er liebte geradezu die Fremden, gleichgültig ob sie Iren, Langobarden, Goten, Angelsachsen oder Romanäer waren. Befürchtungen, dieses bunte Völkchen könnte den Hof „überfremden“, wischte er als Geschwätz beiseite. Die Fremden wiederum, angewiesen auf die Gnade des Königs, den sie gern in Anlehnung an das Alte Testament mit dem biblisch so bedeutungsschwangeren Namen „David“ ansprachen, „beargwöhnten einander, neideten einander den Erfolg, befehdeten sich mit Worten und Versen und sorgten gerade mit ihrer Konkurrenz für eine intellektuelle Lebendigkeit und geistige Frische wie seit Jahrhunderten nicht mehr im lateinischen Westen“. So fasst Johannes Fried die Atmosphäre zusammen.
Ein besonderes Vergnügen und eine große Auszeichnung war es, zusammen mit dem König in den heißen Quellen von Aachen zu baden. Dieses Privileg wurde nicht nur seinen Söhnen zuteil, sondern auch den Beratern, Freunden und der Palast- und Leibwache, die überwiegend aus jungen, ledigen Adeligen bestand. Das gemeinsame Schwimmen war nicht nur der Ausdruck eines Zusammengehörigkeitsgefühls, in dem die Hierarchien für einen Moment lang aufgelöst wurden, auch wenn Karl natürlich der beste Schwimmer war. Baden diente auch nicht nur der Vergewisserung von Freundschaftsbeziehungen, was unter Karl geradezu kultische Züge annahm, sondern hatte auch eine religiös-sakrale Komponente, die in Zusammenhang mit der Taufe steht, vermutet der Berliner Kunstgeschichtler Horst Bredekamp. Das Schwimmen im Aachener Bad hatte einen reinigenden Charakter, „welcher dem besonderen Symbolwert des Wassers in der karolingischen Kultur entsprang“. Alkuin, so Bredekamp, habe Karl nicht zufällig beim Baden sinnenfällig erklärt, dass nicht das Schwert über den Glauben entscheide, sondern „das Zusammenspiel von Wissen, Zuneigung und Wasserreinigung. Hierin lag eine Kritik an der Gewaltmission, die möglicherweise den Schutz der Freundschaft benötigte, um gehört und dann auch umgesetzt zu werden.“
Dass Karl sich in Aachen einen vielbestaunten zoologischen Garten anlegen ließ, in dem neben Bären, Pfauen, Ebern und Wölfen auch ein Elefant, das Geschenk des Kalifen von Bagdad, sein Quartier gefunden hatte, war gleichfalls weniger Ausdruck seiner Prunksucht, sondern diente vielmehr dem theologisch-sakralen Bildprogramm seiner Herrschaft. Wie in der Friedensvision Jesajas, bei der der Panther beim Böcklein liegt und der Wolf beim Lamm (vgl. 11,6ff), so sollte Aachen symbolisch als ein Ort des irdischen Paradieses erscheinen, in dem selbst verfeindete Tierarten miteinander in Frieden leben können. Der von Gott erwählte König - seit dem Jahr 800 Kaiser - ist auch der Bezwinger der Tierwelt.
Schließlich geht Bredekamp auf die Bronzetüren im Aachener Dom ein, Wunderwerke damaliger Guss-Technik, die überraschenderweise jedoch von jedem schriftlichen oder bildlichen Element freiblieben. Bredekamp erklärt sich dies mit der mitschwingenden Bilderfeindlichkeit in der karolingischen Theologie. Vielmehr sollten die polierten Türen den Effekt von überdimensionierten Spiegeln haben. Die Tore zum Allerheiligsten sind trotz ihrer Massivität ein im Licht schimmernder Resonanzkörper. Wenn Karl der Große täglich zur Messe kam, vor den Allmächtigen trat, sollte er sein eigenes verschwommenes Spiegelbild in einer Aura des Lichts erkennen. Vielleicht ein Ort, um innezuhalten, reflexiv sein Spiegelbild vor dem Göttlichen zu spüren? Karl jedenfalls war nicht von Selbstzweifeln frei. Noch kurz vor seinem Tod fragte er sich, ob all sein Bemühen wirklich eine Verbesserung gebracht habe.
Immerhin: Seine sexuellen Ausschweifungen hat ihm die Kirche bald verziehen, wie der Aachener Geschichtswissenschaftler Max Kerner auf der Münchner Tagung humorvoll an einem Detail am Karlsschrein erläuterte. Dort sieht man Karl, den Sünder, der bei seiner Beichte nicht alle Seitensprünge bekennt. Als der Beichtvater überlegt, ob er ihm deshalb die Kommunion verweigern müsse, erscheint ein Engel vom Himmel, der von höchster Stelle die Erlaubnis zum Sakramentenempfang gibt.
Und heute? Mit Karl dem Großen ist kein Staat zu machen. Diktatoren haben sich seiner bemächtigt, Hitler schwärmte für seine Gewaltorgien. Auch als Vater des modernen Europas ist er schwerlich zu vermitteln, haben doch Finnen, Dänen, Slawen, Iren schon damals kaum etwas mit ihm zu tun gehabt, was sollten sie heute an ihm finden? Seine religiöse Gedankenwelt können wir ebenfalls nicht mehr teilen. Religion ist im heutigen Europa zu einer verschämten Privatsache geworden, die nach Ansicht vieler im öffentlichen Raum keine Rolle mehr spielen sollte. Aber eines kann man doch von Karl lernen, ja man kann es geradezu von seinem Leben ablesen: dass das Bemühen, den Glauben zu erkennen, der Motor ist für einen schier unendlichen Wissenshunger, der sich auf alle Bereiche des Lebens ausdehnt. Mit diesem Wissenshunger, dieser Neugier nach der Welt und dem Ganzen, nach Diesseits und Jenseits, wächst auch der intellektuelle Zweifel, die Versuchung des Denkens und Fragens, immer eingebunden in die nie erlöschende Suche nach Sinn. Genau diese Geisteshaltungen sind es, welche wiederum zu den erstaunlichsten Künsten und Fähigkeiten auf allen Gebieten führen. Darin war Karl groß, darin wurde Europa groß. Dieses Geistige ist das mächtigste Erbe des alten wie des neuen Europa.
Literatur:
Johannes Fried, „Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie“ (C. H. Beck Verlag, München 2014, 736 S., 29,95 €)
Stefan Weinfurtner, „Karl der Große. Der heilige Barbar“ (Piper Verlag, München 2013, 352 S., 22,99 €)
Horst Bredekamp, „Der schwimmende Souverän. Karl der Große und die Bildpolitik des Körpers“ (Wagenbach Verlag, Berlin 2014, 160 S., 26 €)